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„Gertrud“

 

Vier Menschen in einem Reigen um Emanzipation und Liebesdrang: Der norwegische Regisseur Eirik Stubø begeistert im Thalia in der Gaußstraße.

Wenn ein Mann seine Geliebte nicht nur mit deren Ehemann, sondern unversehens mit einem weiteren Mann teilen muss, mag das hart sein. Ist der Nebenbuhler dazu Schriftsteller wie er selbst und dreißig Jahre jünger, mag das ein Grund sein, auszuwandern. So geschehen im Jahr 1906 – Hjalmar Söderberg verließ damals seine Heimatstadt Stockholm in Richtung Kopenhagen. Kurz darauf verarbeitete er die Erfahrung seines Liebesdesasters in einem Theaterstück. Gut hundert Jahre später zeigt die rückwärtige Bühnenwand des Thalia in der Gaußstraße übergroße, dramatische Ansichten von vier Darstellern in Schwarzweiß wie in einem alten Greta-Garbo-Film. Gertrud ist über die Köpfe gelabelt. Die Sängerin Gertrud steht im Mittelpunkt eines sprachlich aufregend abgewogenen Emanzipationsdramas über drei Männer und eine Frau, die gleichsam zwei volle Leben zu leben versuchen, das der romantischen Hingabe und das der Selbstverwirklichung – ohne Erfolg. Zwar ist Gertrud (Maja Schöne) zuletzt die Konsequente, die selbstbestimmt die Männer zurücklässt, doch verstehen die Männer und die Frau gleichermaßen, was sie zueinander- und wieder auseinandertreibt. Darin liegt eine Tragik verborgen, denn die Erkenntnis ihres selbst betriebenen Scheiterns gebietet Haltung, gewährt jedoch keinen Trost. Körperlich meiden sie einander, nur in ihren Stimmen und im Gesang können sie sich begegnen. Daher setzt der norwegische Regisseur Eirik Stubø neben minimalistischer Ausstattung auf starke Darsteller mit beeindruckender und auf den Punkt in Szene gesetzter Stimmpräsenz. Ein wunderbarer Zuschau- und Zuhörabend.

Text: Reimar Biedermann