Lesezeichen
 

Tocotronic

Als die Rockgruppe Tocotronic Mitte der 90er Jahre in Hamburg begann, die deutsche Spießbürgerlichkeit zu verteufeln und sich allen denkbaren bürgerlichen Idealen mit viel Spaß zu widersetzen, konnte man nur spekulieren, was aus dieser Verweigerungshaltung alles passieren könnte. So weit, dass Sänger Dirk von Lowtzow und seine Mitstreiter bald zur Diskurs-Band Nummer eins und überhaupt zu einem der größten Musik-Acts im Land werden könnten, gingen die Gedankenspiele jedoch nicht. Von Lowtzow freut sich heute noch etwas verwundert über die Massen, die weiterhin zu den Tocotronic-Shows strömen, und speziell über die immer wieder neuen jugendlichen Zuschauer.
Mit rauer Gitarre über Liebe und, na klar, Widerstand singt von Lowtzow bald einmal mehr in Hamburg, wo die Band nach wie vor ihren Proberaum hat. Ein Novum gibt es: Zum ersten Mal werden Tocotronic in der Sporthalle auftreten. Der Frontmann ist extra gespannt: „Ich habe dort 2001 Roxy Music auf ihrer Reunion-Tour gesehen, ich war dort mit Justus Köhncke und Andreas Dorau. Es war magisch.“ So wie sicherlich diesen Samstag.

Text: Erik Brandt-Höge

 

Engel in Amerika

Die 1980er-Jahre in den USA wurden durch die Reagan-Ära ebenso geprägt wie durch das Aufkommen von Aids. Dass die konservative Regierung sich damals weigerte, die Epidemie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, machte die Sache nicht besser. Mit dieser Endzeit-Stimmung in der US-amerikanischen Gesellschaft rechnet Tony Kushners mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes Drama Engel in Amerika ab. Darin verwebt der Autor drei unabhängige Handlungsstränge zu einer bitteren Bilanz: Ein rechts gerichteter, korrupter Anwalt verheimlicht seine HIV-Infektion und lässt sich vom Arzt eine falsche Diagnose bescheinigen; eine langjährige Ehe zerbricht an den heimlichen Affären des Mannes mit anderen Männern; und eine schwule Beziehung hat nach Bekanntwerden der Aids-Erkrankung eines Partners keine Chance mehr. Bastian Kraft, Regisseur Jahrgang 1980 und am Thalia Theater ein guter Bekannter, inszeniert die ausgezeichnete Geschichte mit einem Abstand von rund dreißig Jahren. Premiere ist am Samstag, es folgen weitere Termine im Oktober.

Text: Dagmar Ellen Fischer

 

MoTrip

„Früher 4-Spur-Gerät, Bruder, jetzt mp3/Projekt Nummer zwei zieht direkt auf die Eins“ – mit dieser selbsterfüllenden Prophezeiung aus dem Stück Mathematik ist MoTrips Rechnung Mitte des Jahres aufgegangen. Das Ergebnis: Die Pole Position der Albumcharts mit seiner aktuellen Platte Mama. Dabei war bereits von Kindesbeinen an klar, dass die Musik einen großen Platz in MoTrips Leben einnehmen wird. „Schon als kleiner Junge bin ich mit meinem Bruder in der Küche ums Radio herumgesprungen und habe gefreestylet“, erinnert sich der Rapper aus Aachen. „Meine Mutter hat mich damals bereits gefragt, was ich damit vorhabe.“ Heute weiß sie es: Eine aufstrebende Karriere als Berufsrapper. Ob seine Eltern jetzt stolz auf ihn sind? „Und wie“, freut sich der 27-Jährige, „mittlerweile ist wohl niemand stolzer auf mich als mein Vater. Der war lange Zeit eher skeptisch, weil er wollte, dass aus mir etwas Anständiges wird. Aber neulich war er auf einem Konzert von mir und konnte gar nicht glauben, was er da gesehen hat – wie die Leute meine Songs gefeiert haben, jedes Wort mitrappen konnten und einfach bewegt waren.“ Die Spannung vor dem anstehenden Hamburg-Konzert könnte demnach größer kaum sein. Offiziell gibt es keine Karten mehr.

Text: DAN

 

Gebutstags-Kick-off

Ein kleines bisschen Sentimentalität ist schon okay: 25 Jahre gibt es das Molotow nun schon. Jahre, in denen nicht immer sicher war, wie es weitergeht. In denen man die Esso-Häuser verlassen musste, ins Exil ging und ans Nobistor zog. Aber vor allem auch 25 Jahre, in denen heute weltberühmte Bands wie The Killers oder Bright Eyes spielten, in denen der Club mehrfach für sein exzellentes Booking ausgezeichnet wurde! Gefeiert wird all das mit einer Reihe Veranstaltungen. Der Kick-off zum Jubiläum beginnt am Samstag mit Little May, Eat The Gun und Empire Escape und einigen Überraschungen auf allen drei Etagen. Ein Abend, der die ganze Bandbreite des Clubs von Rock über Punk bis zu düsterem Pop zeigt. Und die passende Party gibt’s mit Motorbooty! oben drauf!

Text: Miriam Mentz

 

Live und in Farbe

Die alten Freunde Christian Brinkmann und Dominik Dawidzinski haben jüngst das Tech-House Duo Bringit & Zinski gegründet und widmen sich verstärkt der Verbindung von elektronischen Beats und Live-Improvisationen am Klavier. Bald war ihnen klar, dass auch andere DJs Sets fahren, zu denen analoge Instrumente spielen und so entstand die gemeinsame Idee zu Live und in Farbe. Die dort zelebrierte Verschmelzung von Elektronik und dem Human Factor hat für das Tanzvolk einen besonderen Reiz, eine Mischung aus Konzertfeeling und Dancefloor. Bildende Kunst, wie etwa die Krake von Max Marley, erweitern das berauschende Gesamterlebnis und versprechen einen intensiven Abend irgendwo zwischen Rave und Philharmonie, zwischen Performance und Exhibition.

 

All Exhale mit Trentemøller

Man ist ja bekanntlich schnell gelangweilt, weswegen wir gar nicht genug bekommen können von neuen Partyreihen und mutigen Experimenten. Es ist also ein großes Glück, dass sich hinter All Exhale kein Atemtraining verbirgt, sondern ein weiterer geschützter Raum für elektronische Musik. Fürs Debüt haben die Betreiber dabei einen echten Kracher gebucht: Nach gut zehn Jahren, drei Soloalben und Remixen für Kollegen wie Moby, The Knife oder Röyksopp ist Trentemøller fraglos einer der Großen, die sich derzeit mit Knöpfchen und Reglern beschäftigen. Mehr noch als fürs Studio gilt das für seine Auftritte vor Publikum: Auf Platte gern sensibler Traumelektroniker, ballert der Däne sich und sein Publikum live lieber in einen reuelosen Rave, als in düsteren Klangräumen zu schwelgen.

Text: Friedrich Reip

 

The Cat Empire

Zugegeben, es fällt ziemlich schwer, sich die Musiker von The Cat Empire in einer sterilen, publikumslosen Studioszenerie vorzustellen. Eine Vermutung: Ein neues Album bildet lediglich den Vorwand dafür, damit die sechs Australier endlich wieder auf Tour gehen können. Denn es scheint, als würden ihre Songs, in denen Ska, Funk, Reggae, Klezmer, Rock und HipHop wie selbstverständlich miteinander fusionieren, erst in Anwesenheit einer verschwitzten, jubelnden Menschenmenge ihr wahres Potential entfalten können. Angespornt vom Beifall werden da die Originale in jazzigen Improvisationen auch schon mal komplett über den Haufen geworfen. Es bleibt dabei: Gute Musiker nehmen nur aus einem Grund ein Album auf – um es möglichst schnell live zu spielen. In diesem Falle hört man schon vor Veröffentlichung Stücke aus der neuen Scheibe, die dieses Jahr noch erscheinen wird.

Text: Katharina Grabowski

 

Frittenbude

Bock auf Stagediven? Go for it! Und wenn’s von allein nicht klappt, betätigen sich die Fritten gerne als Kuppler. Bei den von ihnen angezettelten Pogo-Einlagen muss man allerdings darauf gefasst sein, dass schon mal was kaputtgeht (Brille, Handy) oder danach was ganz schön wehtut (Knie, Auge, Hand). Welcome to the Abrissparty! Und wie auf Malle gelingt auch beim Ausflug mit der Frittenbude die Realitätsflucht ins Konfetti-Traumland. Mit Texten, die nicht den Anspruch erheben, Sinn zu stiften. Aber gute Laune mit Sicherheit. Bestes Beispiel: Der Song Die Möglichkeit eines Lamas vom taufrischen Album Küken des Orion, der sich mit treibenden Beats sofort im Körper festsetzt und ihn erst wieder verlässt, wenn dieser einmal von oben bis unten durchgeschüttelt wurde. Und der auch auf den Punkt bringt, um was es den drei Bayern geht: „Wir haben es schon vor jenen Jahren gewusst, dass es das Hier und das Jetzt ist, der erhabene Stuss, der für uns die Welt ist, der für uns zählt und es fällt nicht mal so sehr aus dem Rahmen, wie wir immer dachten.“ Seit diesem Sommer bringen Frittenbude die geballte Anarchie sogar zu fünft auf die Bühne.

Text: Theresa Huth

 

Goldmarie & Fridolin

Später Vogel fängt den Wurm und welch besseren Namen als MÖWE könnte es geben, um über den Dächern der Hansestadt live als Headliner für ausgelassene Stimmung zu sorgen? Uns fällt keiner ein. Dabei kommen die elektronischen Künstler Mel & Clem nicht aus Lummerland oder Hamburg, sondern aus dem seevogelarmen Wien. Bei der Goldmarie & Fridolin Party interessiert das weniger, denn der deepe Techhouse des Stil-vor-Talent-Acts, in dem Livevocals und die Indie-Vergangenheit von Mel immer wieder miteingebaut werden, ist hier mindestens genauso beliebt wie in der Alpenrepublik. Das Märchenschloss von Goldmarie ist der Medienbunker und der wird in dieser Nacht verzaubert in einen Technotempel. Damit es im nahen Morgengrauen heißt: Wer hat in meinem Bettchen geschlafen: Niemand! Line Up: MÖWE LIVE (Stil vor Talent), Marc de Pulse (Noir Music), Rich vom Dorf (Kiddaz / Tächno), Mikah (Heimatmelodie), Deko: Die Dekologen.

Text: Ole Masch

 

Familienfest

Soll man Lachen oder Weinen? In fast jeder Minute dieses Films könnte man beides tun. Und gleichzeitig bekommt man zusehends Angst vor den anstehenden Weihnachtsfeiertagen. Denn was Regisseur Lars Kraume da mit deutscher Star-Besetzung auf die Leinwand bringt, ist ein Familienfest, bei dem sich einem die Nackenhaare sträuben.

Zum 70. Geburtstag des berühmten Pianisten Hannes Westhoff (Günther Maria Halmer) trommelt seine zweite Ehefrau, das „Pantoffeltierchen“ Anne (Michaela May) den Clan zusammen. Und als brächten die drei Söhne – der sterbenskranke Max (Lars Eidinger), der schwule Frederik (Barnaby Metschurat) und der chronisch bankrotte Gregor (Marc Hosemann) – nicht schon ausreichend Konfliktpotenzial mit, ist auch die dauerbeschwipste Ex-Ehefrau Renate (wunderbar gespielt von Hannelore Elsner) geladen.

Kaum sind alle in der großen Familienvilla eingetroffen, dauert es nicht lange bis der erste Zwist eskaliert. Droht zwischendurch Harmonie aufzukommen, watscht der schroffe Patriarch alle verbal und emotional ab. Nach dem Film ist man entweder glücklich über die eigene nicht halb so verkorkste Familie – oder verbringt die Weihnachtsferien in der Südsee.

Text: Julia Braune