Der FC St. Pauli zeigt beim 2:1-Erfolg in Karlsruhe, dass er auch ohne neuen Stürmer erfolgreich sein kann – und beschert unserem Autor glückliche Momente am Radio.
Vierzig Grad wurden auf dem Rasen im Karlsruher Wildpark-Stadion zu Spielbeginn gemessen. Eine Temperatur, an die wir im Norden in diesem Sommer nicht gewöhnt sind. Umso erstaunlicher, wie robust und kraftvoll die Mannschaft des FC St. Pauli zu Werke ging. Sogar so rabiat, dass Schiedsrichter Benjamin Brand Kapitän Sören Gonther schon in der siebten Spielminute mit der gelben Karte verwarnte. Dem Energie fressenden Pressing der Boys in Brown tat das aber keinen Abbruch. Sie störten die Gegenspieler im Mittelfeld früh und ließen den befürchteten KSC-Express, unter dessen Räder sie noch im April geraten waren, nicht in Schwung kommen.
Im Gegensatz zum Auftaktspiel gegen Bielefeld lenken darüber hinaus Enis Alushi und Marc Rzatkowski, die beiden Mittelfeld-Akteure, das Spiel diesmal ruhig und geschickt. Achte Minute, Alushi und Rzatkowski stehen beim Freistoß im linken Halbfeld, im Bereich vor der Gefahrenzone. Alushi beugt sich zur linken Seite, sucht im 35 Meter entfernten Strafraum des Gegners sein Ziel. Gerade als er den Freistoß treten will, reckt er den Hals nochmals nach links und peilt nochmals. Seine weite Flanke landet dann genau auf dem Kopf von Lasse Sobiech, der gegen drei Karlsruher das bessere Timing zeigt und in bester Uwe-Seeler-Manier ins lange Toreck köpft: 1:0.
„Dieser Transfer wird dem HSV noch leid tun“, so lautet die SMS, die mir Anna, meine treue Nebensteherin von der Gegengeraden, kurz darauf aus Hamburg schickt. Torschütze Sobiech stand noch bis vor Kurzem beim Rivalen aus Stellingen unter Vertrag.
Ich sitze wieder im Cockpit meines Segelbootes und verfolge das Geschehen in Karlsruhe über das AFM-Radio. Wie an jedem Spieltag, den ich an Bord verbringe, habe ich die Totenkopf-Flagge gehisst. Vom entfernten Ufer winkt mir ein Mann zu, er muss sie von Weitem erkannt haben. Nach einem kleinen Tänzchen geht er lachend weiter. Zumindest meine ich das zu erkennen. Dann vermittelt mir das Sehgeschädigten-Radio meines Vereins aus Baden, dass Alushi an diesem Spieltag auch in der Abwehrarbeit ein fantastisches Auge hat: Als Torwart Himmelmann schon geschlagen ist, kratzt er den Ball von der Torlinie und verhindert so den Ausgleichstreffer.
Der aber fällt dann doch noch. Präzise köpft Karlsruhes Daniel Gordon, ebenfalls ein Innenverteidiger, ins Tor, völlig unbedrängt. An dieser Stelle wäre in der vergangenen Saison das Spiel für den FC St. Pauli verloren gewesen. In dieser Saison aber bewahren sich die Jungs ihre Aggressivität. Vor allem Rzatkowski und Lennart Thy verlagern das Spiel immer wieder in die Hälfte des Gegners.
Dass es in der 40. Minute wiederum ein Verteidiger ist, der genau Maß nimmt, passt gut zur Geschichte dieses Spiels: Unser unermüdlicher Linksaußen Marcel Halstenberg schießt aus etwa zwanzig Metern Entfernung aufs Tor und der Ball fliegt genau unter die Latte ins Eck. 2:1 – die Kiezkicker liegen wieder in Führung und werden sie in diesem heiß umkämpften Spiel auch nicht wieder aus dem Blick verlieren.
„Wozu brauchen wir Stürmer, wenn unsere Verteidiger so genau schießen?“, fragt Anna via Textnachricht erleichtert. Das Spiel im Wildpark kostet nun zusehens Kraft, die bisher so augenfällige Genauigkeit nimmt ab. Weder Thy, noch dem eingewechselte Kyoung-Rok Choi gelingt es, aus aussichtsreichen Positionen ein Tor zu erzielen.
Den Karlsruhern aber eben auch nicht. Am Ende rinnt beiden Mannschaften so viel Schweiß von der Stirn, dass er wohl in die Augen läuft. Das zumindest würde erklären, warum ich im Radio kaum noch etwas von Torschüssen höre.
Das Fazit dieses Spiels? Trainer Ewald Lienen scheint zu ahnen, dass er sein Team mit keinem neuen Stürmer mehr verstärken darf – und lässt die Konkurrenz in der Liga daher schon mal wissen: dann zielen eben meine Abwehrrecken genau.