Der Fortschritt nährt sich manchmal auch von Missverständnissen. In einem Offenen Brief setzen sich 38 theologische Kapazitäten aus der gesamten islamischen Welt intensiv mit der Regensburger Vorlesung des Papstes und deren politischen Folgen auseinander.
Sie verurteilen den Mord an der katholischen Nonne in Somalia „und alle anderen gewaltsamen Akte, die ‚in Reaktion‘ auf Ihre Rede an der Regensburger Universität geschehen sind, als vollständig un-islamisch“.
Bemerkenswert: Der Ton der Beleidigtheit und des willentlichen Mißverstehens, der die Reaktionen der ersten Tage kennzeichnete, ist wie weggeblasen. In einem ruhigen, verbindlichen Ton antworten die Gelehrten Punkt für Punkt auf die pästlichen Einlassungen.
Sie gehen auf die Frage der Gewalt ein, auf die Frage der „absoluten Transzendenz“ Gottes, auf die Rolle der Vernunft in der Religion. Sie definieren „Dschihad“ im Rahmen einer islamischen Theorie des Gerechten Kriegs, und sie nehmen Stellung zu der Frage, was (und ob) der Islam Neues gebracht habe im Vergleich zum Judentum und Christentum.
Der Papst sei das „Oberhaupt für mehr als eine Milliarde Katholiken und ein moralisches Beispiel für viele andere weltweit“: „Wir teilen Eure Sehnsucht nach einem offenen und ehrlichen Dialog, und anerkennen seine Bedeutung in einer zunehmend vernetzten Welt.“
Zu den Unterzeichnern gehören Scheich bin Bayyah aus Saudi-Arabien und der Grossmufti von Bosnien-Herzegowina, Mustafa Ceric (eine der höchsten theologischen Autoritäten des Islams in Europa). Weiter vertreten sind der Grossmufti von Ägypten, Scheich Ali Gumah, sowie Scheich Hamza Yusuf Hanson aus Kalifornien – dessen Handschrift die Erklärung trägt. Die arabische Welt ist sehr breit repräsentiert, vom Maghreb bis in den Irak. Und auch ein iranischer Ayatollah ist dabei, Mohammed Ali Taschkiri, ein enger Berater des Revolutionsführers Chamenei.
Im einzelnen geht der Brief auf folgende Punkte ein:
- Die Gelehrten bestreiten die Auffassung des Papstes, der Koranvers darüber, dass „kein Zwang in der Religion“ sei, stamme aus der Zeit, als der Prophet noch machtlos und unter Druck gewesen sei. Sie deuten den Vers vielmehr als eine Aufforderung an den aufstrebenden Islam, auch aus einer Position der Stärke nicht zum Mittel der Gewalt zu greifen, um den Glauben durchzusetzen – nicht einmal gegenüber den eigenen Kindern
- Sie treten dem Argument des Papstes entgegen, der Gott der Muslime sei „asbolut transzendent“ und daher ohne Beziehung zu den menschlichen Kategorien der Vernunft, des Guten und Wahren. Wer den Gott der Muslime als kapriziösen Willkür-Gott darstelle, vergesse, dass Gerechtigkeit, Güte und Milde seine wichtigsten Attribute im Koran seien
- Die intellektuelle Tradition des Islam sei stets zwei Extrempositionen entgegentreten: „Die eine macht den analytischen Geist zum letzten Schiedsrichter in Wahrheitsfragen, und die andere besteht darin, die Kraft des menschlichen Geistes zu verleugnen, die letzten Fragen zu stellen.“ Der Hauptstrom des islamischen Denkens habe vielmehr darauf bestanden, dass es einen Einklang zwischen den Wahrheiten der koranischen Offenbarung und den Ansprüchen der menschlichen Vernunft gebe: „Die Vernunft selbst ist eines der vielen göttlichen Zeichen in uns, die Gott uns einlädt zu betrachten – wie er uns einlädt, mit ihrer (der Vernunft) Hilfe die Wahrheit zu bedenken.“
- Der Begriff „Heiliger Krieg“ existiere im Islam nicht. Dschihad bedeute „Bemühung, Anstrengung“, im besonderen auf dem Wege Gottes. Diese Anstrengung könne viele Formen annehmen, auch des gewaltsamen Kampfes. Allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. Islamische Kriegsregeln lassen sich so zusammenfassen: Zivilisten sind keine legitimen Ziele. Religiöse Gründe allein rechtfertigen keinen Angriff. Muslime können und sollen in Frieden mit ihren Nachbarn leben. Ausnahmen sind nur als Selbstverteidigung und zur Erhaltung der Souveränität erlaubt
- Der Islam habe sich zwar als politische Einheit „teilweise durch Eroberungen“ ausgebreitet, doch der größere Teil seiner Verbreitung gehe auf Predigt und Missionstätigkeit zurück. Der Islam kenne nicht das Gebot, die eroberten Völker in die Konversion zu zwingen. Jahrhundertelang hätten eroberte Völker als nicht-Muslime unter muslimischer Herrschaft gelebt. Allerdings hätten „einige Muslime“ in der Geschichte die islamischen Vorschriften gegen erzwungene Konversion verletzt. Diese Ausnahmen bestätigten aber die Gültigkeit der Vorschriften
- Der Prophet habe niemals den Anspruch gehabt, „etwas Neues“ zu bringen, was der vom Papst zitierte Kaiser ihm bekanntlich als Indiz der Minderwertigkeit seiner Religion auslegt. Nach islamischem Glauben lehrten vielmehr alle wahren Propheten zu ihrer Zeit die gleiche Wahrheit des Glauben an den einen Gott
Abschließend zitieren die Scheichs und Muftis das Zweite Vatikanische Konzil, das erstmals die hohe Wertschätzung der Kirche für die Muslime ausdrückte und die Gemeinsamkeiten zwischen den abrahamitischen Religionen herausstellte (während Papst Benedikt heute mehr die Unterschiede betont). Sie zitieren auch Papst Johannes Paul II., der vor zwanzig Jahren in einer Generalaudienz betonte, „wir glauben an den gleichen Gott“.
Die Evidenz dieses Satzes ist in den letzten Jahren in die Luft gesprengt worden. Die muslimischen Gelehrten fürchten sich zu Recht vor einer Welt, in der er niemandem mehr einleuchtet. Ihre Antwort auf den Papst läßt hoffen, dass ein echter Dialog beginnen kann, nachdem der unaufrichtige Scheindialog ans Ende gekommen ist.