Irgendetwas ist hier faul.
Aber man sieht es nicht auf den ersten Blick. Denn auf den ersten Blick geht es um folgendes: Der Direktor des Zentrums für Türkeistudien, Faruk Sen, vergleicht in einer türkischen Zeitung die Lage der Türken in Europa mit den Juden. Darauf wird er in der Öffentlichkeit heftig kritisiert. Der Vorstand des Essener Forschunsinstituts trifft sich zu einer Dringlichkeitssitzung, kritisiert den „unverantwortlichen Vergleich“ und beantragt die Abberufung Sens von seinem Posten: dieser habe „dem deutsch-türkischen Verhältnis, der Integrationspolitik und vor allem dem Stiftungszweck schwer geschadet“. Denn: „Zweck der Stiftung ist die Förderung von Wissenschaft und Forschung, mit deren Hilfe vertiefte Kenntnisse über das Zusammenleben von Türken und Deutschen, Hilfen für die Integration der Zugewanderten sowie ein gesteigertes gegenseitiges Verständnis erreicht werden sollen. Nicht nur die aktuellen Äußerungen des Direktors widersprechen dem Stiftungszweck nachhaltig. Sie schädigen darüber hinaus die Reputation des Zentrums.“
Das klingt erst einmal plausibel, und vor Kenntnis des ganzen Falles und des corpus delicti – des betreffenden Artikels aus dem Magazin „Referans“ – hätte ich hier auch zugestimmt. Es ist dumm und integrationsfeindlich, den Türken eine Opferrolle einzureden, indem man sie mit den Juden vergleicht. Wer so etwas sagt, hat an der Spitze eines Forschungsinstituts, das mit öffentlichen Geldern über Türken in Deutschland publiziert, nichts zu suchen. Erledigt.
Allerdings ist es nicht ganz so einfach. Ich habe mir den Text übersetzen lassen, er liegt mir komplett vor. (Hier eine online-Version der „WELT“.) Erstens hat Sen sich gleich für seine Äußerung entschuldigt. Faruk Sen hat auch schon mit der Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, telefoniert, um seine Absichten klarzustellen. Und da wird es interessant. Denn wer den ganzen Text liest und ihn in seinem Kontext begreift, der wird sehen, dass es Sen in seinem Kommentar eigentlich gar nicht um die Türken in Europa geht, sondern um die Juden in der Türkei. Sen hat seinen Kommentar eigentlich geschrieben, um einen türkisch-jüdischen Geschäftsmann, Ishak Alaton, in seinem Kampf gegen den Neonationalismus und Antisiemitismus in der Türkei zu unterstützen. Dabei benutzt er ein falsches und fahrlässig verzerrendes Bild der Lage der Türken in Europa. Aber er tut dies, um den Türken nahezulegen, sich mit den Juden zu indentifizieren und sich in sie hineinzudenken, statt sie als das Fremde und Feindliche abzulehnen und auszusondern.
Osmanischer Jude
Sen erinnert an das Leid der Juden in Europa durch den Ausrottungsversuch der Nazis. Er erinnert auch an die Geschichte der Türken und Osmanen als Judenretter – 1492 vor der Reconquista und im Dritten Reich als Zuflucht für Tausende.
Und dann kommt er auf die Gegenwart zu sprechen, und da wird es hanebüchen:
Die mehr als fünf Millionen Türken in Europa seien „die neuen Juden Europas“, sie würden “ – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlichen Erscheinungsformen – wie die Juden diskriminiert und ausgeschlossen“.
Sen schreibt dies, um folgenden Punkt zu machen: Er hat in einem Interview mit Ishak Alaton gelesen, dieser sehe sich in der Türkei von einem „staatlich gelenkten Antisemitismus“ bedroht. (Hier ein Gespräch mit dem Tagesspiegel, nach dem Skandal geführt.) Nachdem Alaton diese Äußerung getan hatte, brach eine Welle nationalistischer Empörung gegen Alaton los. Darüber ist Sen empört und hält nun dagegen:
“In was für eine Situation sind wir heute in der Türkei angelangt – wo es doch die Türkei war, die in den 30er Jahren den unterdrückten Juden Deutschlands die Türen geöffnet hat und sie trotz allem Druck und unverschämten Angeboten aufgenommen hat.“ Und weiter: „Dass Ishak Alaton, der in einer Liste mit den ehrenhaftesten Menschen in der Türkei in jedem Fall unter den ersten 10 erscheinen würde, sich solchen Gefühlen hingibt hat mich sehr besorgt. Der Angriffssturm gegen ihn nach diesem Interview hat mich erinnert, welchen verschiedenen Ereignisse wir in Deutschland lebenden Türken ausgesetzt waren und hat meine Sorge erhöht. Verehrter Ishak bey… wir als europäische Türken wissen um die Wichtigkeit Ihrer Person für dieses Land. Sie haben in Europa Fünfmillionenzweihunderttausend Gleichgesinnte – die neuen Juden Europas. Die antisemitische Einstellung einiger Gruppen in der Türkei sollte Sie nicht besorgen, das türkische Volk und wir als die neuen Juden Europas stehen hinter Ihnen.“
Also: Ich finde die Sache mit den „neuen Juden“ abenteuerlich und dumm. De facto läuft das auf eine Verharmlosung des Holocaust hinaus.
Aber: Ganz offensichtlich geht es Faruk Sen darum nicht. Nur mit viel bösem Willen kann man diese Absicht in seinen Text hineinlesen.
Er will die Türken ja gerade bei ihrer Ehre als Judenretter packen und mahnt: Wie weit ist es mit uns gekommen, die wir einst stolz waren, die Juden vor den Europäern gerettet zu haben, wenn wir jetzt den Antisemitismus bei uns zuhause hoffähig machen!
Darum finde ich, es ist genug, wenn Sen die Dummheit seines „wir-sind-die-neuen-Juden-Arguments“ einsieht, das er im übrigen gar nicht gebraucht hätte, um seinen Punkt zu machen.
Es ist genug, wenn er sich dafür entschuldigt und seinen Vergleich zurückzieht.
Darum muss man ihn nicht seines Amtes entheben.
Es wird haarsträubend, wenn einem Mann, der mutig (wenn auch mit einem unbrauchbaren Vergleich) gegen den Antisemitismus seines Herkunftslandes streitet, ausgerechnet in Deutschland dafür der Ruf eines Antisemiten oder Holocaust-Relativierers angehängt wird.
Festzuhalten bleibt: Faruk Sen hat sich vor einen jüdischen Unternehmer gestellt, der sich über wachsenden Antisemitismus in der Türkei beschwert hatte. Es gibt leider nicht viele, die so etwas tun würden.
In diesem Monat wird der nordrhein-westfälische Integrationsminister Armin Laschet (CDU) über Faruk Sens Abberufung entscheiden müssen. Er sollte bessere Gründe haben – am besten ein paar fachliche – , sich gegen diesen Mann zu entscheiden als eine missglückte Kolumne in bester Absicht.
p.s. Der Zentralrat der Juden in Deutschland scheint unterdessen der gleichen Ansicht zu sein.