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Muslime in Deutschland: hoch religiös und tolerant

 

Ja, liebe Mitblogger, Sie lesen richtig. Dies ist jedenfalls das Ergebnis einer ersten umfassenden Meinungsumfrage, die seit heute vorliegt.

Die Bertelsmann Stiftung hat endlich getan, was hier schon seit langen gefordert wird: Die Einstellungen der in Deutschland lebenden Muslime einmal repräsentativ zu erfragen. Vielleicht kommen wir so aus dem rein Anekdotischen und aus den wechselseitigen Projektionen heraus.

Im folgenden einige der interessantesten Ergebnisse:

„Danach sind 90% der in Deutschland lebenden Muslime religiös, davon 41% sogar hochreligiös. 5% sind nichtreligiös. Im Vergleich dazu sind in der  gesamtdeutschen Bevölkerung 70% religiös (18% davon hochreligiös) und 28% nichtreligiös.“

Dies ist bekanntlich  seit langem meine Rede: Mit den Muslimen liegt die Religion als öffentliches Thema wieder auf dem Tisch, und das blosse Faktum hoher Religiösität einer signifikanten Gruppe ist für unsere Gesellschaft ein gewisser Stein des Anstoßes.

„Dabei zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen den Angehörigen der verschiedenen muslimischen Glaubensrichtungen und bezüglich ihrer nationalen Herkunft bzw. dem ethnisch-kulturellen Hintergrund. So ist Religiosität unter den hier lebenden Sunniten besonders ausgeprägt. Von ihnen werden 92% als religiös und 47% sogar als hochreligiös eingestuft. Unter den Schiiten sind 90% religiös (29% hochreligiös) während unter den Aleviten 77% Religiöse (12% Hochreligiöse) identifiziert wurden. Zum Vergleich lässt sich für die christlichen Konfessionen in Deutschland festhalten, dass 84% der Katholiken und 79% der Protestanten (mit einem Anteil von 27% bzw. 14% Hochreligiösen) religiös sind. Bei der Unterteilung nach Sprachgruppen zeigt sich die höchste religiöse Prägung bei Türkisch- und Arabischsprachigen mit jeweils 91%. Unter den Angehörigen der Bosnischstämmigen liegt sie mit 85% und bei der persischen Sprachgruppe mit 84% etwas niedriger. Der höchste Anteil an Hochreligiösen findet sich mit 44% unter den türkischstämmigen Muslimen.“

Sehr gut, dass diese Unterschiede hier einmal benannt werden. Den deutschen Muslim gibt es nicht.

„Ein uneinheitliches Bild zeigt sich bei der Unterteilung nach Alter und Geschlecht. Mit zunehmendem Alter verringert sich die Intensität des Glaubens. Da es sich bei der Studie um eine Momentaufnahme handelt, lassen sich daraus allerdings keine Trends ableiten; ein Vergleich beispielsweise der Altersgruppen beschreibt damit nur die aktuelle religiöse Prägung der repräsentativ befragten Personen. Bei den unter 30-Jährigen glauben 80% stark an einen Gott oder an ein Leben nach dem Tod, bei den über 60-Jährigen sind es 66%. Muslimische Frauen beschäftigen sich intensiver mit ihrer Religion als Männer (54% zu 38%). Zudem nimmt das persönliche Gebet für Frauen mit 79% einen höheren Stellenwert ein als für Männer (59%). Die öffentliche Praxis hingegen ist der Bereich der Männer; für 51% der muslimischen Männer ist die Teilnahme am Gemeinschaftsgebet sehr wichtig, allerdings nur für 21% der Muslimas.“

Das ist ein deutlicher Unterschied etwa zur katholischen Kirchgangspraxis. In der Kirche, zumal am Wochentag, sind die Frauen vorherrschend. Bei den Evangelischen ist das ganz ähnlich. Die evangelischen Kirchen haben deutlich mehr engagierte Frauen.

„34% der Muslime nehmen mindestens einmal im Monat am Gemeinschafts- bzw. Freitagsgebet teil. Im Vergleich dazu besuchen in der christlichen Bevölkerung Deutschlands 33% der Katholiken und 18% der Protestanten mindestens einmal im Monat einen Gottesdienst. Das persönliche Gebet praktizieren 60% der Muslime täglich; dem fünfmaligen Pflichtgebet in vollem Umfang kommen 28% nach. Im Vergleich dazu beten 36% der Katholiken und 21% der Protestanten in Deutschland mindestens einmal am Tag.“

Mit anderen Worten: Es gibt eine höhere persönliche Frömmigkeit im Vergleich zu den Christen, aber keine wesentlich stärkere Anbindung an die Moschee. Ich halte das für eine gute Nachricht.

„Mit Blick auf  die Konsequenzen der Religiosität fällt die unterschiedliche Akzentsetzung bei der Beachtung religiöser Vorschriften auf. Das Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch wird von 86% nach eigenen Angaben eingehalten. 58% geben an, niemals Alkohol zu trinken. Während auch das Fasten im Ramadan, die Pilgerfahrt, die Pflichtabgabe, die Speisevorschriften oder die rituellen Reinheitsgebote von zwei Dritteln aller Muslime als ziemlich oder sehr wichtig angesehen werden, gilt dies für Bekleidungsvorschriften nur bei 36%. Das Kopftuchtragen lehnt eine Mehrheit von 53% ab, bei einer Zustimmung von 33%.“

Und dies hier finde ich geradezu einen Hammer: Eine Mehrheit hierzulande unter den Muslimen lehnt das Kopftuchtragen ab! Von Nikab, Tschador etc ganz zu schweigen. Ein Drittel stimmt zu. Natürlich hat das mit dem hohen Anteil von Türken hierzulande zu tun, mit den Atatürk-Muslimen, für die wir dankbar sein sollten. Diese Fakten sollten zu einer deutlichen Entdramatisierung unserer kulturkämpferischen Debatten ums Kopftuch beitragen. Bemerkenswert auch die Zahl zum Alkohol: 58 % behaupten, sie trinken keinen Alkohol. Und dabei ist das doch Meinung der Muftis und nach Meinung der Islamkritiker-Ayatollahs eine unverhandelbare und unwandelbareVorschrift. Denkste. Der deutsche Muslim macht, wie er es für richtig hält. Die Sache mit dem Schweinefleisch ist offenbar einfacher durchzuhalten als das Nichttrinken.

„Dabei ist die Zustimmung zum Kopftuch bei den Frauen höher als bei den Männern (38% zu 28%) und bei den 18- bis 29-Jährigen höher als bei den über 60-Jährigen (34% zu 27%).“

Wie deuten wir das? Ist das Gehrinwäsche oder Gruppenzwang? Nein, das Kopftuch ist zu einem Symbol der Identität geworden, aus vielerlei Gründen. Die Ideologen des Neomuslimseins unter den Muslimen haben daran mitgearbeitet. Und unsere aggressive Debatte und die schlechte Absorptionsfähigkeit unserer Gesellschaft war dabei leider eine große Hilfe.

„Der persönliche Glaube hat für viele Muslime auch unmittelbare Auswirkungen auf die Einstellung zu bestimmten Lebensbereichen. Für die Mehrheit insbesondere auf die Kindererziehung, den Umgang mit der Natur, mit Krankheit, Lebenskrisen oder wichtigen Lebensereignissen in der Familie. Nur für eine Minderheit spielt die Religion dagegen eine wichtige Rolle bei der Wahl des Ehepartners, für die Partnerschaft, Sexualität, Arbeit und Freizeit. Vor allem für die politische Einstellung ist die Religiosität wenig maßgeblich. Hier sagen nur 16%, der Glaube habe für sie bedeutenden Einfluss. 65% lehnen beispielsweise eine eigene islamische Partei ab.“

Noch ein beruhigender Befund. Es gibt eine Art innerliche Trennung von Moschee und Staat. Und ein Großteil der Muslime hier ist auf dem Weg in eine innerliche Frömmigkeit. Von liberal-protestantischer Seite gesprochen: Willkommen im Club.

„Insgesamt, so die Erkenntnis der Studie der Bertelsmann Stiftung, ist die hohe Religiosität der Muslime in Deutschland gepaart mit einer sehr pluralistischen und toleranten Einstellung: 67% der Muslime bejahen für sich, dass jede Religion einen wahren Kern hat, unter den Hochreligiösen mit 71% sogar etwas mehr. 86% finden, man sollte offen gegenüber allen Religionen sein. Nur 6% finden dies nicht. Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund oder Glaubensrichtung sind auch bei diesem Inhalt nicht relevant. 24% aller Muslime sind der Ansicht, dass in religiösen Fragen ihre eigene Religion vor allem Recht hat und andere Religionen eher Unrecht haben, 52% stimmen dieser Aussage nicht zu. Nur eine Minderheit von 31% der in Deutschland lebenden Muslime glaubt, dass vor allem Muslime zum Heil gelangen.“

Das ist eine große Minderheit. Aber 86 %, die für Offenheit sind – das ist eine Bestätigung für meine hier schon oft zum Besten gegebene Meinung, dass Menschen, die hoch religiös sind, sehr oft auch anderer Menschen Glauben respektieren können. Und dies gilt offenbar für Muslime im Westen genauso wie für Christen oder Juden.