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Amerikanisches Krisentagebuch III

 

Eine ältere Dame im Café in Rockport, Massachusetts, fängt unaufgefordert an, sich für den amerikanischen Präsidenten zu entschuldigen. Der Auslöser ihrer Rechtfertigungssuada ist die Tatsache, dass wir aus Europa kommen: „Sie wissen ja hoffentlich, dass wir ihn nicht gewählt haben. Hier in Massachusetts hat kein Mensch George Bush gewählt. Wir haben noch nie für die gestimmt.“ Sie arbeite als Bibliothekarin am MIT, gibt sie uns zu wissen. Mir dient diese Reaktion auch zur Erinnerung, dass Massachusetts mit seinem eingefleischten Demokraten-Stolz und Kennedy-Kult nicht für die USA im Ganzen steht. Aber andererseits wird gerade heute berichtet, dass Obama auch in Ohio vorne liege.

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Der deutsche Botschafter spricht in Harvard. Er nennt die Weltprobleme, die das transatlantische Verhältnis herausfordern werden. Nummer eines ist die Finanzkrise. Dann kommt die globale Erwärmung und die Abhängigkeit von fossiler Energie. Dann „nukleare Proliferation“ – das Wort Iran fällt nicht. Viertens radikalen Extremismus (auch islamistischer Art). Fünftens „failed states“. Sechstens Armut. Siebtens die transatlantischen Institutionen (NATO inklusive). Achtens Russland, China, Afghanistan und Iran – und die Zukunft der internationalen Strukturen im Licht dieser Konflikte. Die Reihenfolge ist einigermassen frappierend. Iran hätte vor kurzem noch ganz oben gestanden. Der Nahe Osten wird am Ende mehr pflichtschuldig erwähnt. Es gibt erstaunlicher Weise keine Einwände gegen diese Rangfolge von den amerikanischen Anwesenden. Vor Jahr und Tag noch hätte man an der jeweiligen Rangfolge der Probleme die transatlantischen Differenzen kenntlich machen können – hier Venus Europa, da Mars Amerika. Vorbei? In wenigen Wochen hat sich eine radikale Neuordnung der Prioritäten durchgesetzt. Vielleicht eine Rückkehr zum Wesentlichen?

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Meine Vermieterin Kim weiß aus Georgia zu berichten, dass die Menschen stundenlang anstehen, um jetzt schon am early voting teilzunehmen. Hunderttausende neue Wähler seien dabei, die vorher nie zur Wahl gegangen sind – vor allem unter den Schwarzen. Kim ist selber schwarz. Als ich behaupte, diesmal würde die Rassenfrage nicht so sehr ins Gewicht fallen, weil die realen Probleme zu stark seien, bleibt sie skeptisch: „Das Rassenthema ist tief eingegraben in unserer Gesellschaft.“ Ausserdem sei die Wirtschaftskrise nicht unbedingt ein starkes Argument für Obama: Der sei nicht viel besser qualifiziert als McCain, um die Finanz-Probleme zu lösen, sagt Kim. Für sie scheint die Aussenpolitik eine starke Rolle zu spielen: Amerikas Ansehen in der Welt, der Irakkrieg. Und im Innern die immer weiter wachsende Ungerechtigkeit der amerikanischen Gesellschaft. Mein Eindruck ist, dass sich bei Obamas Anhängern eine Art magisches Denken Bahn bricht: Nur ja nicht voreilig den Sieg beschreien, nur ja nicht zugeben, wieviel für einen daran hängt – es mag Unglück bringen. Klug ist das ja auch, denn: „it ain’t over until the fat lady sings“.

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Joseph Nye von der Harvard Universität – Erfinder des Konzepts soft power – hält es für möglich, dass Obama von Osama eine „October Surprise“ drohen könne. Der letztere könnte sich nämlich durch Herrn Obamas „soft skills“ gefährdet sehen, durch welche die Weltmeinung wieder für das verhasste Amerika eingenommen werden könnte. Und um dies zu verhindern könnte Osama versucht sein, etwas anzustellen, das McCain in die Hände spielt. Da ist etwas dran: Obama könnte in der Tat das Spiel der Qaida durchkreuzen, weil er Amerika (für den Anfang jedenfalls) das offensichtlich Feindliche nimmt. Er wäre – gerade wegen seines kenyanischen Vaters und seiner Jugend in Indonesien – schwerer als Feind und „Kreuzfahrer“ zu brandmarken. Aber die Vorstellung, dass die Qaida-Planung auf den amerikanischen Wahlkampf hin berechnet werden könnte, riecht mir dann doch zu sehr nach Verschwörungstheorie.