Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Sechs Fragen einer historischen Wahl

 

Cambridge, Massachusetts – In Amerika stehen die Menschen heute Schlange, um ihre Stimme abzugeben. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird diese Wahl eine Rekordbeteiligung ausweisen.

Was treibt die Menschen an? Worum geht es eigentlich bei dieser Wahl?

Die heutige Wahl findet in einem „historischen Moment“ statt. Dass erstmals ein schwarzer Kandidat die besten Chancen auf einen Sieg hat, ist aber nur ein wichtiges Moment davon.

Das Rassenthema drängt die anderen Aspekte dieser Abstimmung allzu oft in den Hintergrund.

Ich sehe sechs Fragen, auf die die Amerikaner heute antworten müssen:

Ist die „Reagan-Revolution“ vorbei?

Die Finanzkrise hat den Wunsch nach Sicherheit wieder auf die Tagesordnung gesetzt. McCain stellt Obama seit Wochen in die Ecke einer entfesselten Verteilungspolitik. Er wolle „den Reichtum umverteilen“ (to spread the wealth around). Dass McCain dieses Zitat Obamas benutzt, um diesen zu diskreditieren, weist den Senator aus Arizona als ein Kind der Reagan-Revolution der Jahre 80ff. aus. Bei ihm geht es immer noch um Ausgabenbegrenzung und Steuerkürzungen. Obama schlägt hingegen höhere Steuern für Besserverdienende vor und will die Chancen auf eine Krankenversicherung für die Millionen Unversicherten verbessern. Obama steht nicht für die Rückkehr zu dem alten sozialdemokratischen Ansatz der Demokraten vor Clinton – aber er wendet sich deutlich ab von Bill Clintons Weg, der letztliche eine Fortsetzung von Reaganomics bedeutete (gegen „big government“). Ein starkes Votum für Obama könnte eine Wiederkehr des Staates in der amerikanischen (Innen-)Politik bedeuten.

Beginnt eine Ära jenseits der Rassendiskriminierung?

Ein Präsident Obama könnte paradoxerweise das Symbol dafür sein, dass die Hautfarbe keine grosse Rolle mehr spielt. (Wenn er nicht gewählt wird, würde das zunächst sicher anders gedeutet werden. Aber ob in langer Sicht eine Niederlage Obamas auch als Rückschlag gewertet würde, ist nicht so klar. Es war ein unwahrscheinlicher Erfolg, dass er überhaupt so weit kam.) Ein Präsident Obama würde vielleicht helfen, die Perspektive geradezurücken: Was als Rassenbarriere erscheint, die das Land durchzieht, ist sehr oft eine Klassenbarriere. Über Rassendiskrimierung kann man hierzulande reden, die offenbaren Klassenunterschiede sind politisch tabu. Amerika ist eine Klassengesellschaft, die es nicht wahrhaben will, und darum lieber über die Diskrimierung von Gruppen spricht.

Findet ein Generationswechsel statt?

Die Kandidaten sind altersmäßig ungewöhnlich weit auseinander. Obama gehört nicht wie wie Clinton und Bush der Baby-Boomer-Generation an, die durch die sechziger und siebziger Jahre geprägt wurde. (Auch McCain wäre ein Präsident mit anderem Generationshintergrund.) Obama ist nicht durch die Kulturkämpfe jener Zeit geprägt, die zu einer scharfen Polarisierung der Gesellschaft geführt hatten. McCain hat um so mehr versucht, ihn durch die Assoziation mit dem Ex-Radikalen Ayers in diesen Zusammenhang zu rücken. Die Nachkriegsgeneration (der auch Blair und Schröder angehörten) hat eine ideologisch zerrissene Gesellschaft hinterlassen. Sie hat das private Leben angenehmer und liberaler gemacht (für Menschen aller politischer Couleur), doch die öffentlichen Institutionen sind geschwächt (Familie) oder regelrecht disfunktional geworden (Bildungsmisere). Obama stünde vor der Aufgabe, letztere zu reparieren, ohne die Errungenschaften der Baby-Boomer aufzugeben.

Werden die Amerikaner sich um die Meinung des Rests der Welt scheren?

Sie haben sich bei ihrer Wahlentscheidung bisher eigentlich nie von der Weltmeinung beeinflussen lassen. Reagan war und ist hoch beliebt, trotzdem man ihn im Ausland für gefährlich und schädlich hielt. Carter wurde im Ausland geliebt und floppte daheim. Doch es könnte sein, dass die Dimension der Krise hier etwas ändert. Seit dem Vietnamkrieg hat Amerika nicht mehr so schlecht in den Augen der Welt dagestanden. Und nun kommt noch die Wirtschaftskrise dazu, so dass die Menschen Amerikas Niedergang in den eigenen Portemonnaies fühlen können. Die Abhängigkeit von arabischem Öl und von chinesischem Geld ist nichts Abstraktes mehr. Dass Amerika sich mit der Welt neu in Beziehung setzen muss, ist mit Händen zu greifen. Selbst ein Präsident McCain würde einen deutlichen Wandel gegenüber Bush bedeuten. Ein Präsident namens Barack Hussein Obama freilich würde das Bild Amerikas in der Welt revolutionieren.

Was bedeutet es heute, ein Konservativer zu sein?

Die unterschätzte Geschichte dieser Wahl ist die Krise der Konservativen. Dass überhaupt John McCain (der „Maverick“) zum Zuge kam, spricht schon dafür. Die erratische Weise, in der er dann agiert hat, hat es besiegelt: nach dem absehbaren Ende der Reagan-Revolution, nach dem Desaster der Neocons unter Bush, nach dem Scheitern der Deregulierungspolitik im Wall-Street-Fiasko ist es offen wie nie, was es heute bedeutet, konservativ zu sein. Mit der Wahl Palins zur Vize-Kandidatin hat John McCain gezeigt, dass er nicht ernsthaft darüber nachzudenken bereit ist. Andere stehen längst bereit und wollen für den Fall seiner Niederlage die Führung übernehmen. Auch sie werden einer neuen Generation angehören.

Können die Kinder der Wohlstandgesellschaft eine Gessellschaft durch die Knappheit führen?

Das ist die wichtigste Frage von allen. Sie transzendiert die Parteigrenzen, und sie weist selbst über Amerika hinaus. Obama ist von den fetten Jahren geprägt, in denen es immer irgendwie aufwärts ging. Er hat in der längsten Phase ununterbrochenen Wachstums des amerikanischen Systems Karriere gemacht. Nun aber droht von mehreren Fronten eine neue Knappheit: Finanzkrise, Energiekrise und die Krise der amerikanischen Aussenpolitik, die sich an allzuvielen Fronten verzettelt hat, fliessen ineinander. Obama verspricht den Menschen vieles, was offenbar nicht zu finanzieren ist. Wird er Einschränkungen so gut verkaufen können wie „hope“ und „change“? Wird er den Menschen die Wahrheit über Amerikas reduzierte Macht sagen? Wird er den Menschen sagen, dass sie ihren frivolen Energieverbrauch einschränken müssen?  Und wenn er es tut, wird man ihn dafür fertig machen wie einst Carter?