Meine diversen Texte zum Sarrazin-Interview haben eine Welle von Reaktionen ausgelöst. Manche Leser antworten noch auf dem altmodischen Weg, der unserer „dead tree edition“ entspricht: Leserbriefe trudeln in hoher Zahl ein. Hier einige Proben.
Linus Westheuser, Berlin, schreibt:
Die von der ZEIT gepflegte journalistische Disziplin des Sprechens über Migranten („Unsere Angst“, grillende Ausländer im Tiergarten, etc.) bot schon einige Male Anlass, ungläubig den Kopf zu schütteln; den Vogel abgeschossen aber hat in dieser Hinsicht der Kommentar von Jörg Lau in der letzten Ausgabe.
Als habe es alle kritischen Erkenntnisse zur Konstruktion von Differenz durch Sprache nicht gegeben, wird hier ein weiteres Mal völlig selbstverständlich die Sprecherposition des mal gnädigen mal strengen Richters über Zugang und Ausschluss eingenommen, die von der Hetze der Bild-Zeitung zum Sprachduktus der Ausländerbehörden den deutschen Diskurs über Einwanderung kennzeichnet.
Die im Zentrum dieses Diskurses stehende Verfügungsmacht über Drinnen und Draußen basiert dabei, wie in dem vorliegenden Kommentar, einerseits auf diffusen Zuschreibungen nationaler Art, wie dem reichlich anmaßenden „Wir“, welches in seiner Unspezifiziertheit eine weiße, deutsche Mehrheitsgesellschaft zu beschwören scheint. Auf der anderen Seite steht der unkritische Bezug auf ökonomische Dominanz, die sich in Äußerungen wie „ein Punktesystem muss her, das formuliert, „wen wir brauchen“ in ihrer Fixierung auf Verwertungsinteressen zeigt. Unbezweifelt bleibt in beiden Logiken, wer der ‚Herr im Hause‘ ist und die Forderungen zu stellen hat.
Die Idee schliesslich, dass das weiße, deutsche „Wir“ in Reaktion auf die Leistung der Migranten, gleichsam als Integrations-Zuckerbrot, soziale Exklusion abbauen werde, ist an Zynismus kaum zu übertreffen. Es wird damit die Schuld für Ausschlussmechanismen den leistungsunwilligen Migranten selbst zugeschoben, sowie die Ausgrenzung in letzter Instanz als soziales Disziplinarinstrument legitimiert.
Es ist hier dieselbe Selbstgefälligkeit des Mächtigen am Werk, wie in der Feststellung, dass Migranten „vor allem durch Moscheenneubauten und den Kampf [!] für Gebetsräume in Schulen“ auf sich aufmerksam machen; eine Verdrehung, die geflissentlich einseitiges migrantisches Handeln mit einer einseitigen deutschen Aufmerksamkeit verwechselt.
Schon auf individueller Ebene ist es bedauerlich bis unerträglich, wenn ein offenbar gebildeter Mensch seine eigene Position so wenig hinterfragt. Die Lizenz jedoch, die eigene Unreflektiertheit auf der Titelseite eines intellektuellen Leitmediums ausbreiten zu können, macht dies zum Symptom eines weitaus schwerwiegenderen Problems, das zu benennen längst überfällig ist: Die deutsche Debatte über Einwanderung ist bestimmt von einem zunehmend unbekümmerteren Ethnozentrismus, in welchem die Äußerungen Laus sich mit denen Sarrazins trefflich überschneiden.
Nur ein Vorschlag zur Güte: Wie wäre es, anstatt Migranten in wöchentlichen Gesprächen „unter Deutschen“ wieder und wieder mit Zuschreibungen zuzukleistern, einmal eine oder einen aus der so markierten Gruppe selbst zu Wort kommen zu lassen?“
Joachim Hosemann aus Mayen hingegen schreibt:
Sehr geehrte Damen und Herren,
als Zeitabonnent und Kenner der Berliner Verhältnisse ärgerte mich, dass Sie das Sarrazin-Interview zu brennend heißen Problemen mit türkisch-arabischen Immigranten nicht brachten, es aber im Sinne der Gutmenschen lau kommentierten. Leider sind oft nur durch spitze z.T. überzogene Formulierungen Probleme und Entwicklungen zu veranschaulichen, um es den oft aus provinziellen Schutzzonen stammenden Politikern zu vermitteln. Aber es war ja schon immer so: Der Überbringer der schlechten Nachricht ist der Böse und was nicht sein darf, gibt es nicht.
Karl Boelke aus Wesseling meint:
Die Diskussion über die Integration von Ausländern nimmt inzwischen abstruse Formen an. Es wird um das Problem herumgeredet wie um den berühmten Heißen Brei.
Es ist egal aus welchen Medien man Informationen zu erhalten sucht.
Allein das Geschwafel, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht, geht mir genauso auf den Geist, wie das „Eingestehen einer Niederlage“ nach einer Wahl. Beides sind Tatsachen, die man zu Kenntnis nehmen muß, wenn man kann.
In den letzten Jahrzehnten haben sich die Probleme mit Einwanderern deutlich verschärft, aber niemand hat sich ernsthafte Gedanken gemacht, diese Probleme zu lösen.
Jetzt geilt man sich daran auf, daß jemand versucht hat, die Integrationsdebatte mit krassen Formulierungen, er hätte wissen müssen, wie die Schönschwätzer darauf reagieren würden, ingang zu bringen.
Wie kann man die Formulierung „… produktive Funktion außer für Obst- und Gemüsehandel“ als Hohn betrachten?
Oder was soll der Hinweis: „Wir sollten feiern – wie man es im Einwanderungsland USA tut – daß diese Menschen lieber arbeiten…“? Diese Menschen sind ja gerade nicht das Problem über das diskutiert werden muß! Nebenbei sollte der Verfasser einmal die mexikanisch/amerikanische Grenze besuchen.
Das vorgeschlagene Integrationsministerium bringt eins: Immense unnütze Mehrkosten (Dienstwagen als kleinster Posten etc.), aber keine Lösung.
Wie löst man das heutige Problem, wenn man künftig Einwanderer nach einem Punktesystem aussuchen will? Geschwätz.
Joachim Wolff aus Reinbek gibt zu Bedenken:
Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Herrn Sarrazin, und der hat um Entschuldigung gebeten.
Aber helfen uns Tabus weiter? Integrationsprobleme sind ein offenbarer Sachverhalt. Was stimmt nicht an Herrn Sarrazins Aussagen? Probleme müssen benannt werden, um sie zu lösen. Fördern ist nun mal mit Fordern zu verbinden.
Wird aber eine wichtige Integrationshilfe genügend vorangebracht? Der bürgernahe Beamte – Bünabe – sollte als türkisch und arabisch sprechender Streifenpolizist die Menschen in Problemvierteln mit islamischen Zuwanderern mit der Polizeiuniform im Guten vertraut machen. Er könnte das Vertrauen der Menschen gewinnen, die Ablehnung unseres Staates abbauen helfen und Hinweise auf Ordnung und Regeln in unserer Gesellschaft geben.
Victor Zander aus Würzburg findet:
Leider hat Herr Sarrazin mit seiner Äußerung über unsere türkischen Mitbürger recht, auch wenn er ein Tabu verletzt hat. Der Zentralrat der Juden sollte mit der Nazi-Keule etwas weniger herumfuchteln – sie trifft sonst nicht mehr. Übrigens: Unsere islamischen Landsleute werden es dem Zentralrat der Juden sicherlich nicht danken…
Ulrich Knöller aus Bad Dürkheim wirft ein:
Guten Tag,
Jörg Lau’s Beitrag sagt selbst: „Es ist eine Errungenschaft, über diese Dinge..ohne Hass diskutieren zu können…“ Der ZEITsei Dank, dass sie dieses Thema auf Seite 1 bringt.
Was mich stört, ist die Verdammung von Herrn Sarrazin. Ich bin ihm dankbar, dass er das Thema durch seine Polemik – aber korrekt in den Fakten – in die allgemeine Aufmerksamkeit katapultiert hat und sagt, was sonst niemand zu sagen wagt.
In meiner Meinung nach journalistischen „Stern-Minuten“ hat das Heute Journal das Thema am 07.10.09 behandelt: Die Fragen von Claus Kleber und die Antworten des Bürgermeisters Buschkowski waren sowohl im Ton, in der Sache und den Schlussfolgerungen herzerwärmend. Das „politisch korrekte Gutmenschentum“ hier in Deutschland bringt uns nicht weiter, man sollte eindeutig Fördern+Fordern – oder Zuwendungen abdrehen, wenn sich Zuwanderer bei uns nicht eingliedern wollen.
Herr Lau sagt selbst: „Größere Aufnahmewilligkeit gegen mehr Engagement und Eigenverantwortung.“ Sehr gut auch die anschließenden Ratschläge an die türkische Gemeinschaft z.B., ebenso an die Mehrheitsgesellschaft, die sich „…fragen lassen muss, warum es so verteufelt schwer ist, hierzulande dazuzugehören…“
Vielleicht liegt es an Reaktionen wie der von Herrn Weber (und der Ihren, Herr Lau, am Anfang Ihres Artikels), die auf mutige Aussagen über Tatbestände derartig überzogen emotional verurteilend reagieren. Eine von Herrn Weber betriebene „Entmachtung“ von H. Sarrazin würde all denen Recht geben, die schon immer meinen, man könne in Deutschland eben nicht „über diese Dinge unverklemmt…diskutieren.
Reinhard Krauß aus Bad Kreuznach stimmt zu:
Herr Sarrazin poltert keineswegs am rechten Rand, er poltert mitten in der Gesellschaft. Er trägt duch seine Äußerungen mehr zur Integration bei als all die vielen Gutmenschen. Man sollte ihm dankbar sein für die entfachten Diskussionen. Er vermittelt dem viel zitierten kleinen Mann, dass es da oben doch noch welche gibt, die um seine Ängste, Sorgen und auch ganz konkreten Erfahrungen im Umgang mit Einwanderern jedwelcher Generation wissen und ihn auch ernst nehmen.
Wo sind die Reportagen die nicht nur über die alltägliche Diskrimierung berichten. Wo sind die Berichte aus der Mitte der sich bildenden Gettos, über die Herausbildung eigener Rechtsräume, über Geschäfte für die das deutsche Ladenschlußgesetz nicht gilt weil es niemand von ihnen einfordert.
Wo sind die Journalisten, die mit unseren jungen Polizisten unterwegs sind und über deren Erfahrungen berichten, die Journalisten, die von Schulhöfen berichten, von Finanzbeamten, die ihnen Geschäfte zeigen von denen niemand eine Buchführung und Bilanzierung entsprechend den Vorschriften einfordert.
Was glauben Sie denn wie oft sie den Satz zu hören bekommen: „Warum soll ich denn Scheiß-Deutscher werden, ich hab doch mehr Vorteile wenn ich Türke bleibe“, wie oft sie diesen Satz zu hören bekommen wenn sie ihre Häuser in den Vorstädten verlassen und sich einlassen auf das Leben da „unten“.
Wenn diese Gesellschaft es nicht schafft von allen Bürgern das gleiche zu fordern wird das Poltern nicht mehr aus der Mitte der Gesellschaft kommen,die Mitte wird zum rechten Rand und der wird riesig.
Sven Jösting aus Hamburg hat
„diverse Kommentare verschiedener Medien und eine Vielzahl von Leserbriefen studiert, die sich auf die Äußerungen von Thilo Sarrazin (SPD), den früheren Berliner Finanzsenator und heutiges Mitglied des Bundesbankvorstandes in Bezug auf türkische und arabische Einwanderer bezogen.
Die meisten Reaktionen waren verständlicherweise hoch-emotional und reflexartig und auch zu verstehen (nachvollziehbar). Indes: Sarrazin steht nicht alleine, wenn man die kürzlich erschienenen Interviews zum Beispiel von Heinz Buschowsky (SPD), dem Bürgermeister von Berlin-Neukölln zur Hand nimmt.
Klar ist: in seiner Funktion als Bundesbankvorstand hat er a) mit den Themen sehr sensibel umzugehen und b) – was noch viel wichtiger ist – sich nur zu Themen zu äußern, die auch mit seiner Position und seiner Tätigkeit in direktem Zusammenhang stehen. Das wäre ein wirklicher berechtigter Vorwurf, denn zum Thema Integration ausländischer Bürger hat er keinerlei Mandat.
Thilo Sarrazin ist indes kein Unbekannter, was seine markigen Sprüche angeht, die Sarkasmus ebenso beinhalten wie klare, direkte Worte, die aufrütteln sollen, (…).
Nun ist aber an fast jedes Vor-Urteil meist auch mit einem Teil Wahrheit verbunden. Und die Integrationsfähigkeit und -willigkeit mancher Migranten, mancher ausländischer Mitbürger kann durchaus kritisch betrachtet werden, wie dies in einem TV-Report vom SpiegelTV am gestrigen Abend (11.1.09) geschah, wo eine Jugendrichterin mehrfach wiederholte, dass es leider in bestimmten Berliner Bezirken so aussieht, dass fast alle Jugendliche mit arab-türkischem Migrationshintergrund einen kriminellen familiären Hintergrund haben.
(…)
Somit hat Thilo Sarrazin – auf seine „spezielle Art“ – eine Lawine der Aufmerksamkeit und Aufgeregtheit los getreten, die nach Antworten und nicht reflexartiger Bekämpfung/Anti-Haltung ruft. (…)
Ich sehe die Äusserungen von Thilo Sarrazin als „Akt des Auf- und Wachrüttelns“.