Mitbloggerin Miriam antwortete gestern auf meine Frage in diesem Thread:
>>Wie schafft man es denn, dass sich möglichst viele an diese Ordnung gewöhnen?>>
Und ihre Antwort ist einen eigenen Post wert:
Im Moment beschäftigt mich eine andere Frage. In letzter Zeit habe ich eine Reihe junger Muslimas kennengelernt, die selbst keine Probleme mit dieser Ordnung haben, aber ihre Eltern; oder ein Elternteil; oder ihre Brüder. Diese jungen Frauen sind hungrig nach Bildung; sie möchten ein selbstbestimmtes Leben führen; sie möchten den Beruf ihrer Wahl erlernen; sie möchten gleich behandelt werden wie ihre Brüder; sie möchten mit ins Landschulheim fahren dürfen; sie möchten nicht ihren Cousin heiraten; die Kopftuchträgerinnen unter ihnen hätten kein Problem damit, ihr Kopftuch abzulegen, z.B. um Polizistin zu werden. Denn sie tragen das Tuch zwar freiwillig, aber den Eltern bzw. der Mutter zuliebe.
Daher lautet die eigentliche Frage: Wie bringen wir die Eltern dieser jungen Frauen dazu, ihre Töchter (und Söhne) freizusetzen; zu respektieren, dass sie nicht das Recht haben ihren Kindern die traditionelle Ordnung aufzuzwingen? Einzusehen, dass ihre Kinder ihnen nicht in dem Sinne gehören, dass sie bestimmen dürfen, wie sie als Erwachsene zu leben haben?
Wahrscheinlich wird man mir vorwerfen, pathetisch zu sein, aber ich denke an “das Mädchen mit den Tränen in den Augen”, über das ich letzte Woche in einem anderen Thread berichtet habe. Für sie ist Schule ein Ort, wo sie frei sein kann, wo sie ihr Kopftuch ablegen kann und wenigstens so tun kann, als ob sie wirklich frei ist. Ein Ort, wo sie Jungs widersprechen darf; wo sie ein Recht auf eine eigene Meinung hat. “Am liebsten würde ich den ganzen Tag in der Schule bleiben”, meinte sie, “und nie nach Hause gehen.” Denn dort ist sie eine Sklavin, die für alles verantwortlich ist (der Papa kann nur ein bisschen Deutsch und die Mama gar keins) und an allem Schuld (z.B. wenn die Geschwister in der Schule versagen, wenn der Bruder wieder Mist baut, wenn sie als Dolmetscherin versagt und der Papa nicht nur die Frau auf dem Amt anschreien muss, sondern auch sie). Ihr bleiben 9 Jahre, um sich zu befreien, denn die Eltern haben ihr mitgeteilt, dass sie mit 25 Jahren einen ihrer drei Cousins heiraten wird; erst mit 25, weil sie zuerst einen Beruf erlernen und ein paar Jahre arbeiten soll, damit sie den Eltern das Geld zurückzahlen kann, das sie in sie investiert haben (ihre Worte).
Erol B. wird sich gleich melden, und mir vorwerfen unzulässig zu generalisieren.
Nein Erol, nicht alle türkischen (kurdischen/muslimischen) Familien in Deutschland sind der Tradition verhaftet. Es gibt viele, die den Übergang von der Tradition in die Moderne geschafft haben, oder auf dem Weg sind dahin. (Ihre Töchter gehen bei uns ein und aus; meine Tochter hat die Sommerferien letztes Jahr in der Türkei mit der einen türkischen Familie verbracht; dieses Jahr wird sie ihre Ferien mit einer anderen türkischen Familie dort verbringen.) Daher weiß ich, dass Türkischsein, Muslimsein und Modernsein vereinbar sind.
Aber es gibt auch viele Familien, die die Moderne ablehnen, die die traditionellen Werte hochhalten und die neuerdings den Islam benutzen als höhere Ebene der Legitimation dieser traditionellen Ordnung. Hier zur Veranschaulichung ein Auszug aus einem Interview, das ich vor kurzem mit einer Kurdin (16 J.) geführt habe. Sie träumt davon, Polizistin zu werden:
“Und meine Mutter. Bis vor ein paar Monaten war meine Mutter einverstanden. Aber dann war sie in der Türkei. Und sie wissen die Religion ist dort sehr stark geworden und so. Und als sie wiederkam, hat sie gesagt, du gehst nicht zur Polizei weil du dort mit vielen Männern in Berührung kommst. Das geht nicht bei uns. Beziehung und so. Oder einen Freund haben. Wir sind halt Moslems. Ich habe die besten Eltern auf der ganzen Welt! Aber meine Mutter will nicht, dass ich so nah mit Männern in Berührung komme. Sie hat zwar Vertrauen zu mir. Aber sie hat Schiss. Sie hat Angst. Sie sagt ich soll lieber beim Rechtsanwalt arbeiten. Da kann ich mein Kopftuch behalten. Und ich habe ihr gesagt, ich könnte zum Hoca gehen. Das ist bei uns Moslems wie ein Pfarrer. Und ich könnte ihn fragen, ob das geht, dass ich Polizistin werde.
Meine Mutter meint, wir müssen alle sterben, und da muss man aufpassen, was man tut.
Sie ist sehr religiös meine Mutter. Sie fastet während Ramadan, und sie will, dass ich das auch mache. Ich mache das auch, obwohl ich nicht muss.
– Und wie fühlst du dich, während du fastest?
Beschissen.
Ich bin auch Moslem und ich lese Koran und so. Aber ich habe nicht den ganzen Koran gelesen. Nur die Hälfte. Aber dann musste ich abbrechen, weil meine Mutter in die Türkei fuhr. Und meine Mutter sagt zu mir. Du willst Polizistin werden und Realschule machen aber den Koran, den kennst du nicht!
– Und das Kopftuch, was hat das für eine Funktion für deine Mutter?
Moslem! Oder wie meinen Sie?
– Ich meine, sieht sie es als Schutz an?
Ja, so könnte man sagen.
Wenn ich bei der Polizei wäre, dann wäre ich offen [ohne Kopftuch]. Und fast den ganzen Tag mit Jungs zusammen. Und dann müsste ich Hosen tragen. Und meine Mutter meint, die Männer würden meine Figur sehen, und meine Haare. Und dann könnte es passieren, dass ich den Fehler mache.
Der Einstellungsberater bei der Polizei war voll schockiert, dass mein Vater nichts dagegen hat. Dass er mich unterstützt. Weil die meisten Türken und Kurden, die zu ihm kommen, die Eltern wollen nicht, dass sie zur Polizei gehen..>>
Auch der Hinweis, dass der Vater sie unterstützt ist signifikant. Das haben mir auch andere Mädchen berichtet: dass ihre Mütter viel mehr Druck ausüben und viel mehr Angst haben als die Väter. Weil die Mütter letztlich für den Erhalt der Jungfräulichkeit haften.
Und meine Antwort auf die Frage, wie man es schafft, die Eltern dazuzubringen, ihre Töchter freizusetzen?
Erstens muss man die Schule und die Berufswelt als säkularen Raum erhalten, wo religiöse Symbole möglichst nichts zu suchen haben und wo schulische Veranstaltungen – auch Landschulheimaufenthalte – für alle verpflichtend sind. Dann haben die Eltern eine Ausrede gegenüber Verwandten und Bekannten, wenn die Tochter kein Kopftuch trägt, mit ins Landschulheim fährt; am Schwimmunterricht teilnimmt oder in der Ausbildung bzw. im Beruf das Kopftuch ablegt.
Die jungen Frauen berichten alle von dem Druck, der die “Gesellschaft” auf ihre Eltern ausübt. Aber auch die traditionell eingestellten Eltern wollen, dass ihre Töchter eine gute Schulbildung erhalten und einen Beruf erlernen, denn inzwischen erwarten sie nicht nur von den Söhnen, sondern auch von den Töchtern, dass sie sie im Alter unterstützen und dass die Töchter vor der Ehe “das Geld zurückzahlen, dass sie in sie investiert haben”. (Dies umso mehr, weil viele Jungs auch aufgrund der Erziehung zur “Pascha” (O-Ton meiner Gesprächspartnerinnen) in der Schule “Scheiße bauen” und letztlich versagen.) Daher glaube ich nicht, dass die Eltern die Töchter von einer streng säkularen Schul- und Berufswelt fernhalten werden.
Wenn die Eltern die Erfahrung machen, dass das Freisetzen ihrer Kinder nicht dazu führt, dass sie sie verlieren, werden sie die Angst vor unserer modernen Ordnung verlieren. Das berichten viele Frauen, die auch gegen den Willen der Eltern den Weg in die Moderne gegangen sind.
Zweitens muss man den Mädchen Strategien in die Hand geben, mit denen sie ihre Eltern überzeugen können, ihnen mehr Freiheit zu gewähren. Daran arbeite ich im Moment. Es nützt nämlich nichts, ihnen zu sagen, sie sollen ihren Eltern sinngemäß sagen “ihr könnt mich mal”. Man muss ihnen helfen einen Weg zu finden, wenn es irgendwie geht, ihre Eltern mitzunehmen.