Mitblogger Christoph Leusch gibt zu bedenken (in Antwort auf den Post zu Siegfried Kohlhammer):
Lieber Herr Lau,
Quatsch wir auch dadurch nicht besser, wenn man sich mit Chuzpa für ihn einsetzt. Der ganze Kohlhammer Erguss wimmelt doch so von Falschmeldungen.
Bis 1973 (Anwerbestopp für Gastarbeiter) wurde ganz offiziell und sehr konsequent das “Rotationsprinzip” bevorzugt (befristet heuern, dann feuern, dann neue Leute in den Werbeländern einstellen und her holen, usw.).
Das ging nicht mehr, weil immer mehr “Gastarbeiter” aus den Massenunterkünften auszogen und, trotz erheblicher Schwierigkeiten, ihre Familien nachholten. Seither, seit 1973, gibt es keine “Gastarbeiter” mehr. Was die Gleichstellung angeht verlief der Prozess also genau umgekehrt, wie von Herrn Kohlhammer behauptet.
Aber bis dahin, bis Anfang der 70er, war die Zahl der gastarbeitenden Ausländer auf 4 Millionen angewachsen. Die hatte man sowohl bei der Entlohnung, als auch bei den Renten, als auch bei den Lebens- und Wohnverhältnnissen und bei der Steuer kräftig über den Tisch gezogen.
– Klar, den meisten Arbeitern ging es besser als in Anatolien, keine Frage.
Vielleicht hilft ja folgender Hinweis und helfen die folgenden Links?:
Ulrich Herbert, “Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge”, München (Beck) 2001
Das Buch befreit von so manchen Schönfärbereien zum Thema der Gastarbeiter und Arbeitsmigranten. “Gastarbeiter” wurden bis Anfang der 70er Jahre, d.h. bis zum Anwerbestopp 1973, auf Zeitbasis eingestellt. Nominell wurden ihnen Tariflöhne nach eigenen Lohngruppen, “angelernt”, “ungelernt”, bezahlt, viele arbeiteten “freiwillig” und überqualifiziert auf einfachen Produktionsarbeitsplätzen, als Ungelernte. Ähnlich wie beim Verlegersystem im 19.Jh, nahm man ihnen im Wege des “Vorabzugs” (!) für Massenunterkünfte (Mieten völlig überhöht), Verpflegung und Transportkosten zum Arbeitsplatz, einen Anteil gleich wieder ab. Die meisten lebten auf Firmengeländen oder direkt neben den Werkshallen in firmeneigenen Barackensiedlungen. – Das ist z.B. in Frankfurts Stadtarchiv und Stadtmuseum gut dokumentiert, einschließlich der Arbeits- und Entgeltnachweise, einschließlich Fotomaterial.
Die Rentenversicherungsträger bezifferten übrigens den jährlichen “Gewinn” aus der Einzahlung von Beiträgen aus den Arbeitsentgelten für diese Jahre von etwa 1960 bis 1973 auf ca. 1 Milliarde DM jährlich! “Gastarbeiter” konnten auch nicht ihre Rentenbeiträge hinterher geltend machen. Derzeit werden gerade einmal 30.000- 40.000 Altersrenten an Rückkehrer in die Türkei ausgezahlt. Ein verschwindend unwichtiger Abfluss an Sozialtransfers, obwohl eine erheblich größere Anzahl an Gastarbeitern der 1. Generation mittlerweile in Rente gegangen ist. Grund: Bis 1973 sorgte man nach dem “Rotationsprinzip” dafür, dass selbst die Gastarbeiter die Rentenanwartschaften erwarben, unter den Anrechnungszeiten für die Gewährung einer Altersrente blieben. Dazu kamen die weitgehende Unkenntnis zur dt. Sozial- und Rentengesetzgebung und sprachliche Probleme. Selbst 1981 blieben nur ca. ein Dritttel der türkischen Arbeiter länger als 10 Jahre in Deutschland (Herbert).
Was die Steuer angeht ging man von einem positiven Saldo in gleicher Höhe, also von ebenfalls 1 Mrd. DM aus, denn die Einkünfte der Gastarbeiter wurden besteuert, aber selbstverständlich stellte kaum einer Anträge auf Lohnsteuerrückerstattung (die lasen eben nicht
“Lohnsteuer leicht gemacht”).
Nach 1973 wandelte sich das Bild allmählich und das musste zwangsläufig so sein, weil Deutschland stillschwiegend zum Einwanderungsland wurde. Aber die Thesen Kohlhammers wollen ja nur mit Aplomb ein bisschen “skandalisieren” und deshalb wird einfach “zugehauen”.
Wie man in den 60er Jahren dachte, das steht bei Herbert auf S.209-210 beschrieben. Er zitiert, neben den Industrieverbänden, den zuständigen Staatssekretär Kattenstroh (1966) aus dem Arbeitsministerium, der die Vorteile der “Gastarbeiter” lebhaft ausmalte: Bestes Alter (90 v.H. zwischen 18 und 45), zahlen in die Sozialkassen, ohne etwas mitnehmen zu können oder Ansprüche zu erwerben; Steuerzahler so lange sie arbeiten, zurück in die Heimat, wenn ihre Arbeitskraft nicht mehr gebraucht wird, Fleiß und hohe Arbeitsproduktivität (was zu Protesten und dann zu einer Kampagne der Springer-BILD Anlass gab), bei geringer Entlohnung. Keine Sozialeinrichtungen notwendig, außer den Kirchen (Bahnhofmissionen, Hilfswerke), die für die Migranten als Auffang benötigt würden; Abschieben und Rückführen aufgrund der vielen bilateralen Verträge einfach und dadurch keine Folgelasten aus der Chronifizierung von arbeitsbedingten Gesundheitsschäden.
Na ja, eine neue Generation an Geistesarbeitern wächst derzeit nach, die keine Geschichtskenntnisse haben muss und will, und auch das Wort Sozialreportage (Wallraff) nur noch als märchenhaftes Gerede kennen möchte.
Zur Auflockerung und Bereicherung lese man einmal hier, zu Köln, Eiglstein, Weidengasse:
http://www.migrationsroute.nrw.de/themen.php?thema_id=42&erinnerungsort=k%F6ln
http://www.migrationsroute.nrw.de/themen.php?thema_id=41&erinnerungsort=k%F6ln
Das ganze Geschwätz, von wegen höherer Sozialkosten als Nutzen, stammt webbasiert meist von einem gewissen Herrn Mannheimer.- Der ist in der “Szene” mindestens so notorisch, wie die liebe Oda Dridi- Dörfel, die durch viele Migranten- und vor allem Islam- und türkenfeindliche Blogs geistert und auch hier schon ihr Unwesen trieb. – Da schreiben die Oberkonservativen still oder offen ab. Leider ohne viel Überprüfung, denn sonst wäre aufgefallen, dass die Renten türkischer Arbeitnehmer im Schnitt um ein Fünftel unter dem gleichwertig beschäftigter Deutscher liegen, dass Türken vornehmlich auf so genannten gefahrengeneigten und körperlich verschleißenden Arbeitsplätzen eingesetzt wurden und werden, dass sie viele rechtliche und gesetzliche Schutzmaßnahmen überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen (Sprache, Antragswesen).
Aufällig auch, dass mit wesentlich niedrigeren Renteneinkommen mehr Personen in einem Haushalt versorgt werden. Wie gesagt, dazu gibt es verläßliche Angaben der IHK -Berlin, des DIW und der Rentenversicherungsträger. Selbst heute holt sich ein nicht geringer Teil der türkischen Arbeitnehmer seine Ansprüche nicht ab, weil bei uns Renten nur nach Antrag mit möglichst vollständigen Erwerbsbiografie-Unterlagen gewährt werden.
Aber was nützt das Pfeifen, wenn selbst Chefredakteure der ZEIT nicht gewillt sind für ihre Artikel zu recherchieren und wild Arbeitsunfähgkeitsrenten und Erwerbsrenten in einen Topf werfen, bzw. die Unterschiede nicht kennen.,
Aber, dieses Thema hatten wir ja schon. War es 2006 oder 2007.
Zumindest in NRW, dort leben ca. 30-35% der türkischstämmigen Migranten (Berlin 7%), kann auf diesen Bevölkerungsteil ohne schwere wirtschaftliche und infrastrukturelle Einbußen überhaupt nicht mehr verzichtet werden. Dort gelingt es auch immer mehr Migranten, trotz der Rezession, Eigentum zu bilden, Unternehmen mit deutlichen Beschäftigungseffekten zu gründen und in die Ausbildung der Kinder zu investieren. Es enteht ein türkischstämmiger Mittelstand. So muss und soll es weiter gehen.
Grüße
Christoph Leusch
PS:
Wie hoch der Anteil der Sozialtransfers an Migranten in Dänemark wirklich ist, das hat weder Herr Kohlhammer, noch der zitierte Herr Bawer, noch haben Sie das recherchiert! Herrn Kohlhammer geht es um seine Theorie von Kulturalismus, er hat etwas gegen Ethnologen und Kulturanthropologen (sie relativieren ihm zuviel), und möchte gerne eine “Überlegenheit” der asiatischen und der westlichen Kulturen nachweisen. Das macht er zwar konsequent und Jahrzehnte lange, aber er spielt immer die gleiche Schallplatte.