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Was von 9/11 bleibt

 

Wir haben noch keinen Namen für die Epoche nach dem 9/11. Ich dachte vor 10 Jahren, hier begänne etwas, das uns für die nächsten Jahrzehnte beschäftigen würde – vielleicht ähnlich dem Kalten Krieg.

Aber es war wohl nur ein Intermezzo – zwischen Amerikas „unipolarem Moment“ nach dem Fall des Kommunismus und dem „Aufstieg des Rests“ (der neuen Mächte China, Brasilien, Indien, Südafrika etc.).

Die Vorstellung eines „globalen Krieges gegen den Terror“ (schon damals ein merkwürdiger Begriff) ist zu Recht stillschweigend fallen gelassen worden. Heute ist der Kampf gegen den Terrorismus wieder in den Händen der Geheimdienste, der Polizei, der Spezialkräfte – wo er hingehört. Die Wahnidee, ihn mit den Mitteln des Militärs zu führen, war eine teure Verirrung. Der britische Reporter Jason Burke beziffert die Opfer der 9/11-wars auf mindestens 250.000.

Osama bin Laden ist tot, Al Kaida bleibt uns erhalten, aber als ein lästiges Epiphänomen, das man in Schach halten muss, nicht als Signatur einer Epoche. Mohammed Bouazizi war vielleicht die wichtigere Figur im Licht der kommenden Geschichte: eine Selbstverbrennung hat mehr bewirkt als alle die Selbstmordattentate der Al-Kaida. Der Sturz der Tyrannen geschieht nicht durch Terror, sondern durch einen Volksaufstand.

Wir haben die Massenvernichtungswaffen gefunden. Sie waren nicht in einem Bunker in Bagdad, sondern in unseren eigenen Depots. Credit Default Swaps sind gefährlicher für den Westen als IED’s. Schulden sind für die westlichen Staaten eine größere Überlebensbedrohung als die schmutzige Bombe. Die größte geopolitische Herausforderung der USA sind die Schulden bei den Chinesen und die Konkurrenz mit China um  knapper werdende Ressourcen.

Die Vorstellung eines Kampfes der Kulturen hat getrogen, wie die arabische Rebellion beweist. Der Kampf um Freiheit und Würde geht mitten durch die Kulturen und Religionen. Anders Breivik und Arid Uka sind Brüder im Geiste.

Europa wird viele Jahre damit zubringen, die aufgetaute arabische Welt ans Weltsystem heranzuführen. Das wird ein konfliktreicher und schwieriger Prozess, genauso bedeutend wie die Wiedervereinigung Europas nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Er wird viel Energie binden, vielleicht aber auch zu einem neuen Kraftzentrum ums Mittelmeer herum führen.

Die maßlosen Kriege nach 9/11 haben den Blick auf die wahren geopolitischen Herausforderungen verstellt – den relativen Abstieg des Westens bei gleichzeitigem Aufstieg des Rests (der keineswegs in apokalyptischen Termini beschrieben werden muss, weil er Wohlstand und Freiheit für Milliarden Menschen auf der anderen Seite der Welt bedeutet).

Der Westen hat durch die Politik der Angst nach 9/11 seine eigenen Grundwerte kompromittiert. Die Freigabe der Folter bleibt eine Schande, ebenso die Lügen über die Kriegsgründe, die Aushebelung verfassungsmäßiger Rechte.

Amerika ist erschöpft nach zwei Kriegen, die (laut Financial Times) 1.000 Milliarden Dollar verschlungen haben – für ein recht zweifelhaftes Ergebnis. Die Vision von einer Hypermacht, die präventiv allein handeln kann, wann immer es ihr passt, ist passé. Afghanistan wird den Afghanen zurückgegeben werden. Die Taliban werden ein Teil der neuen Ordnung sein. Das Experiment des neuen Irak bleibt einstweilen offen. Es muß nicht scheitern, aber der Preis war zu hoch. In beiden Ländern genießt der Iran großen Einfluß, der auch durch die 9/11-wars zur regionalen Großmacht aufgestiegen ist und – wirklich – an Massenvernichtungsmitteln arbeitet. Was man tun kann, um das zu verhindern, weiß in Wahrheit kein Mensch.

Die arabischen Völker nehmen die Zukunft in ihre eigenen Hände – und sie scheren sich dabei weder um die Demokratievisionen der Neocons, noch um die Theokratie nach dem Geschmack der Kaida.

Die libysche Intervention der Nato führt den Westen zurück vor 9/11. Sie hat sehr viel mehr mit dem Engagement in Bosnien und Kosovo zu tun als mit den 9/11-wars. Hier wurde einer bedrängten Gruppe von Aufständischen gegen einen Autokraten geholfen. Die Nato mag ihr Mandat sehr weit ausgelegt haben  – die responsibility to protect blieb der Maßstab. Es gab regionale Unterstützung und ein Mandat der UNO. Nun wird die Nato sich zurückziehen. Das Zeitalter der Intervention ist also nicht vorbei – aber wir knüpfen an notwendige, begrenzte und legitimierte Interventionen wie vor 9/11 an. Wie dem auch sei: Schon die begrenzte Aktion in Libyen hat die Nato an den Rand der Erschöpfung gebracht. Sehr viel länger hätte es nicht dauern dürfen. Auch darum werden Kriege vielleicht künftig vorsichtiger angegangen werden, selbst wenn sie unvermeidlich sind.

Und das ist ja mal keine schlechte Sache.