Dass der Massenmörder Breivik für unzurechnungsfähig erklärt wird, löst zwiespältige Gefühle bei mir aus. Die jahrelange, systematische Vorbereitung seiner Tat und die in teuflischer Diszipliniertheit erfolgte Durchführung (mitsamt Plan B) sprechen eigentlich gegen eine solche Diagnose. Auch der beträchtliche ideologische Aufwand, den er zur Rechtfertigung seiner Taten betrieben hat, ist auf den ersten Blick nicht so leicht mit verminderter Schuldfähigkeit überein zu bringen. Wenn das Wahnsinn ist, dann ist ein Teil der islamhassenden Suböffentlichkeit Europas borderline-wahnsinnig. Breivik hat sich die Legitimationsgrundlage seiner Taten nicht herbeihalluziniert, er konnte sie im Netz zusammenbasteln. Copy-und-Paste-Faschismus auf über 1.000 Seiten: Ist sowas wirklich unzurechnungsfähig?
Wenn Breivik aufgrund seines apokalyptischen Weltbildes – in dem es gilt, einem alles verschlingenden Multikulturalismus auch mit Waffengewalt zu wehren – psychotisch ist und an paranoider Schizophrenie leidet, dann bewegen sich viele, die ihr Gift in den entsprechenden Foren verspritzen, ebenfalls am Rande der Geisteskrankheit. Eine problematische Kategorisierung.
Ich glaube, wie ich hier schon öfter dargelegt habe, dass der islamhassende Rassismus eine politische Auseinandersetzung verdient, keine Pathologisierung im Gefolge des Begriffs „Islamophobie“. Insofern finde ich die Diagnose unglücklich.
Aber womöglich liege ich hier schief, und das Urteil der Psychiater bezieht sich nicht vorwiegend auf Breiviks Ideologie, sondern auf seine Persönlichkeitsstruktur, auf die Empathielosigkeit und Reuelosigkeit, mit der er seine Taten in den Vernehmungen reflektiert. Das kann man „irre“ finden, aber sind dann nicht islamistische Extremisten, die sich in die Luft sprengen, oder Nazi-Täter wie die Zwickauer Zelle, auch „irre“?
Es gefällt mir an dem Befund die berichtete Wirkung auf Breivik, der offenbar „gekränkt“ ist, dass man ihn nicht als den politischen Täter behandelt, der er gerne sein möchte. Vielleicht ist das doch die richtige Weise, mit ihm umzugehen?
Wenn es nur nicht ein Signal der Hilflosigkeit der norwegischen Gesellschaft ist: Wir finden keinen Ansatzpunkt, uns mit diesem politischen Wahn auseinanderzusetzen, also erklären wir ihn für nicht satisfaktionsfähig und sperren wir ihn weg!
Von einigen Angehörigen der Opfer und von Überlebenden war zu vernehmen, dass sie enttäuscht sind von der Aussicht, dass Breivik nicht als Massenmörder verurteilt werden wird, sondern vermutlich lebenslang weggesperrt in der Psychiatrie. Das ist verständlich. Aber was tun, wenn man an ihn einfach nicht herankommt, weil er in einer Wahnwelt lebt, in der es schlichte Notwehr ist, sozialdemokratische Jugendliche umzubringen, weil die angeblich dem „Multikulturalismus“ Vorschub leisten?
Ist dann die Diagnose der verminderten Schuldfähigkeit nicht doch richtig? Vielleicht steckt auch dies dahinter: Sie wird es hoffentlich möglich machen, Breivik für immer sicher zu verwahren. Ein Ende der Auseinandersetzung mit seinem politischen Wahngebilde und dessen Quellen sollte das nicht bedeuten.