Lesezeichen
 

Wir haben aus Türken Muslime gemacht

Ein absolut notwendiger Zwischenruf der Pädagogin Sanem Kleff und des Islamismus-Experten Eberhard Seidel in der taz von heute:

„Seit dem Herbst 2004 wurde die seit Jahrzehnten schwelende Integrations- und Türkendebatte tatsächlich hemmungslos religionisiert, sprich: islamisiert.

Beging ein kurdischer Ehemann einen Ehrenmord, wurde nicht über kurdische Stammestraditionen diskutiert, sondern das Verbrechen direkt aus dem Koran abgeleitet. Wurden 15-Jährige Mädchen aus anatolischen Dörfern zwangsverheiratet, sprach man nicht mehr über dörflich-patriarchale Traditionen, sondern über die vermeintliche Legitimation durch den Islam. Meldeten in islamistischen Gruppen organisierte Eltern ihre Kinder mit standardisierten Formularen vom koedukativen Sportunterricht ab, galt die Aufmerksamkeit nicht dem Einfluss islamistischer Organisationen, sondern ganz allgemein der Rolle der Frau im Islam. Und standen die Defizite von Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen türkischen Familien auf der Agenda, fand man auch dafür, anders als bei den noch weniger erfolgreichen italienischen Schülern, die Erklärung in ihrer Religion.“

kleffseidel.jpg

Sanem Kleff (Mitte) und Eberhard Seidel (2. von rechts) bei der Verleihung des Preises „Botschafter der Toleranz im Jahr 2004 Foto: Christian von Polentz/ Transit Berlin

„Die Türken haben eine erstaunliche Karriere hinter sich. Nachdem sich die Deutschen ihre Türken in den Achtziger- und Neunzigerjahren vor allem entlang völkischer und ethnischer Kriterien und Zuschreibungen konstruierten und daraus Unverträglichkeiten ableiteten, liegt heute ein neues Türkenbild vor. Unbesehen sozialer Schichtung, religiöser Differenz und unterschiedlicher Traditionen sind die Türken inzwischen als homogen-religiöse Gruppe definiert. Ihr gemeinsamer Nenner: der Islam. Der wiederum basiert auf dem Koran, einer offenbar gewalttätigen Schrift, die unvereinbar ist mit dem Grundgesetz. Das zwingende Ergebnis der Pauschalisierungen und Zirkelschlüsse lautet: Jeder, der sich zum Islam bekennt und sich nicht explizit von der Religion distanziert, ist Verfassungsfeind.“

 

Dekadenz als Exportschlager

Karsten Fischer schreibt im Merkur:

„Dekadenz« könnte den nachhaltigsten Exportschlager des Abendlandes ausmachen, mit dem ihm der Sieg im Kampf der Kultur(kritik)en sicher wäre.“

Fischer plädiert dafür, dass der Westen den Dekadenzvorwurf der Fundamentalisten annehmen und umdrehen muss: Unsere so genannte Dekadenz ist unsere Stärke.

Foto Karsten.jpg

Karsten Fischer  Foto: Privat

Zitat aus dem lesenswerten Essay:

„Der Sinn der Dekadenzexportstrategie bemißt sich vielmehr nach dem Anwurf Sayyid Qutbs, die freie Welt führe ihren Kampf häufiger mit Zungen, Stiften und Wohltätigkeitsorganisationen als mit Waffen. Genau diesen Kampf um kulturelle Sublimierung muß die westliche Welt führen und gewinnen. Als Ergebnis dieser besonderen Form »auswärtiger Kulturpolitik« in der Weltgesellschaft wäre dann mit John Lennons Imagine anzuzielen, daß auch außerhalb der westlichen Welt die Maxime individuellen Glücksstrebens lautet: »nothing to kill or die for«. Wie jeder erfolgreiche Export beginnt indessen auch derjenige westlicher Dekadenz mit heimischen Voraussetzungen. Denn was die derzeitige Misere des Abendlands ausmacht, ist ihr Changieren zwischen der Scylla eines reaktionären Einstimmens in okzidentalistische Dekadenzvorwürfe und der Charybdis eines politisch korrekten relativistischen Multikulturalismus. Die richtige Antwort auf diese beiden entgegengesetzten Formen kleinmütiger Selbstverleugnung ist das entschiedene Eintreten für eine reflektierte Dekadenz, wie es einem konventionellen Begriffsverständnis nur als Paradoxie erscheinen kann.

Ist das dann sinnvollerweise überhaupt noch Dekadenz zu nennen? In der politischen Semantik hat Begriffsrealismus keinen Sinn, und so reicht es zur Bejahung dieser Frage, daß die Feinde von Freiheit und individuellem Glücksstreben den Dekadenztopos wählen. Rhetorische Auseinandersetzungen lassen sich nicht durch defensive Zurückweisung von Etikettierungen gewinnen, sondern nur durch die offensive Erlangung der Deutungshoheit über Begriffe. Gegen Verleumdung gibt es kein anderes Mittel, erst recht nicht interkulturell, denn hierfür gilt eine Einsicht der römischen Dekadenzexperten: »semper aliquid haeret« – es bleibt immer etwas hängen. Also muß die Semantik von Dekadenz affirmativ gewendet werden. Wir sind die Gesellschaft, vor der uns fundamentalistische Eiferer immer gewarnt haben!“

 

Nichts wie weg

Bis zum 19. August ist hier noch einmal Pause. Nach den doch etwas niederschmetternden Kampagnen der letzten Tage freue ich mich sehr darauf, die kommenden Tage auf diese Weise zu verbringen:
frau.jpg

mann.jpg

Tschüs bis bald!

 

Das Paradox amerikanischer Nahostpolitik

Zitat des Tages:

The paradox of American policy in the Middle East — promoting democracy on the assumption it will bring countries closer to the West — is that almost everywhere there are free elections, the American-backed side tends to lose.

Alles lesen

 

Zur Debatte um die Wende im Irak: 600 Leichen in Bagdad in einem Monat

Wende im Irak? Nach einem moderat positiven Spiegel-Titel über die Lage im Land wird auch bei uns debattiert, ob es im Irak gar nicht so desaströs aussieht, wie es in den letzten Jahren schien.
Hier Material zu der beginnenden Debatte, ob das Desaster noch abgewendet werden kann.
In nur einem Monat – zwischen dem 18. Juni und dem 18. Juli 2007 wurden in Bagdad mindestens 592 oftmals verstümmelte Leichen gefunden – Opfer schiitischer und sunnitischer Todesschwadrone. Hier die anschauliche Statistik des Grauens:
baghdad-unidentified+bodies31.jpg

Klick hier.

 

Deutschland rückt nach links

And now for something completely different: Ich habe eine längere Analyse zu einem Trend der deutschen Politik verfasst – die Seite 3 der heutigen Print-Ausgabe.
Die ZEIT hat das Meinungsforschungsinstitut Emnid beauftragt zu erfragen, wie links Deutschland denkt (fühlt). Die überraschenden Ergebnisse und meine Erklärung hier.

 

Holländischer Politiker: „Verbietet den Koran!“

Der niederländische Parlamentarier Geert Wilders hat in einem Kommentar für die Tageszeitung „Volkskrant“ gefordert, man müsse den „Koran verbieten“.

header.jpg
Geert Wilders Foto: Groep Wilders

Hintergrund sind Angriffe auf einen jungen Mann namens Ehsan Jami, der eine Vereinigung der Ex-Muslime gebildet hatte. Jami, ursprünglich iranischer Herkunft, war am 4. August von drei Männern nach dem Verlassen eines Supermarkts zusammengeschlagen worden.
Jami steht seither unter Personenschutz. Geert Wilders begrüßt dies und ergänzt:

De kern van het probleem is de fascistische islam, de zieke ideologie van Allah en Mohammed zoals neergelegd in de islamitische Mein Kampf: de Koran. … Verbied dat ellendige boek zoals ook Mein Kampf verboden is! Geef zo een signaal aan de overvallers van Jami en andere islamisten dat de Koran in ons land nooit en te nimmer als inspiratie of excuus voor geweld mag worden gebruikt.

Will heissen: „Der Kern des Problems ist der faschistische Islam, die kranke Ideologie von Allah und Mohammed, wie sie im islamischen ‚Mein Kampf‘ niedergelegt ist: im Koran. … Verbietet dieses elende Buch, so wie auch Mein Kampf verboten ist! Gebt denjenigen, die Jami überfallen haben, und anderen Islamisten ein Signal, dass der Koran in unserem Land niemals als Inspiration oder Rechtfertigung von Gewalt benutzt werden darf. „

Na toll! Und um diese Selbstverständlichkeit durchzusetzen – dass religiöse Empfindamkeiten keine Rechtfertigung für Gewalt sein können -, muss man das heilige Buch der Muslime verbieten?

Die Partei von Herrn Wilders heißt „Partij voor de Vrihjheed“ – Freiheitspartei! Schöne Liberale sind das, die solche Signale senden möchten.

Ausserdem wäre ich sehr dankbar, wenn die verharmlosenden Nazi-Vergleiche endlich unterbleiben könnten. Das ist wirklich langsam widerlich. „Mein Kampf“ ist ein rassistisches Welteroberungs- und Völkermordprogramm. Der Koran ist das ausserordentlich vielschichtige Gründungsbuch einer universalistischen Offenbarungsreligion, deren Eroberungen und Gewaltexzesse ein würdiges Thema sind, aber mit exterminatorischem Rassismus Hitlerscher Art nichts zu tun haben.

Wenn man die Gewalt der jungen Lumpen, die einen (in ihren Augen) Apostaten zusammenschlagen, mit einem Koranverbot beantwortet (oder auch nur mit dem populistischen Ruf danach), bestätigt man sie darin, dass sie den Koran richtig ausgelegt haben.

Aber genau das will der feine Herr Wilders ja. Er ist selbst ein Hassprediger, der berechtigte Kritik am Islam und an der Mentalität junger Muslime für seine paranoide Angstpropaganda benutzt. So endet sein Artikel:

„Ich habe genug vom Islam in den Niederlanden: keine muslimischen Immigranten mehr. Ich habe genug von der Verherung Allahs in Holland: keine Moscheen mehr. Ich habe genug vom Koran in Hollan: verbietet das faschistische Buch.“

Natürlich weiss Wilders ganz genau, dass es nicht möglich ist, den Koran zu verbieten. Es ist ihm letztlich ganz egal. Er ist ein liberaler Ayatollah. Seine Parole heißt: Es gibt keinen moderaten Islam.“
Er will den Bürgerkrieg herbeireden. Er ist der beste Partner der verhetzten jungen Marokkaner, die die Gesellschaft hassen, in der sie aufgewachsen sind. Er surft elegant auf den Ängsten einer verunsicherten Gesellschaft.

Wir müssen die freiheitliche Ordnung in Europa gegen die Islamisten und gegen Hetzer wie Geert Wilders verteidigen, die ihnen in die Hände arbeiten.

Ehsan Jami hat andere Verteidiger verdient.

 

Hisbollah-Scheich: Fatwa gegen Ehrenmorde

Schaich Sayed Muhammad Hussein Fadlallah, Mitbegründer und theologische Autorität der schiitischen Hisbollah, hat eine Fatwa gegen Ehrenmorde veröffentlicht. Zitat von seiner Website:

„A vicious phenomenon, that of the so called „crimes of honour“, is on the rise in more than one country in the Arab and Muslim worlds, especially in Palestine, Jordan and Lebanon. Some men tend to kill their daughters, sisters, wives and female relatives, under the pretext that they had committed acts that harm chastity and honour.

fadl.jpg
Scheich Fadlallah

While on the contrary, those men are not enraged when their male relatives commit such acts. As if chastity is a duty that is should be observed by the woman only.

In fact, „honor crimes“ are based on the male tribal mentality that is still controlling the minds of many people, and not on a sense of honour or dignity.

I view „the crime of honour“ as a repulsive act, condemned and prohibited by religion. It is also a full crime whose perpetrator must be punished without any commutations. That is because these crimes are committed without any sound evidence from the juristic point of view and are mostly based on suspicions. Hence, the man, whether he was the husband, father, brother, or the male relative does not have the authority to take the law into one’s own hands or to punish the woman, which should be the authority of the just judicial power.

Those who commit such crimes must be punished in this life. This crime is also considered a one of the Kabair (severe sins) whose perpetrator deserves to enter Hellfire in the afterlife.“

Na bitte! Geht doch. Wenn wir jetzt noch eine kleines Gutachten zum Existenzrecht Israels haben könnten…

 

Irakkriegsbefürworter Ignatieff: Wie konnte ich so daneben liegen?

Michael Ignatieff, der kanadische Historiker, Essayist und (neuerdings) Politiker, geht angesichts des Desasters in Irak in sich und fragt sich in einem traurigen und schönen Text, wie er – als Kriegsbefürworter – so schief liegen konnte. Der ganze Text im New York Times Magazine:

„We might test judgment by asking, on the issue of Iraq, who best anticipated how events turned out. But many of those who correctly anticipated catastrophe did so not by exercising judgment but by indulging in ideology. They opposed the invasion because they believed the president was only after the oil or because they believed America is always and in every situation wrong.

mi_nom_1.jpg

Der Intellektuelle im Wahlkampf: Ignatieff in Ontario Foto: Ignatieff Campaign

The people who truly showed good judgment on Iraq predicted the consequences that actually ensued but also rightly evaluated the motives that led to the action. They did not necessarily possess more knowledge than the rest of us. They labored, as everyone did, with the same faulty intelligence and lack of knowledge of Iraq’s fissured sectarian history. What they didn’t do was take wishes for reality. They didn’t suppose, as President Bush did, that because they believed in the integrity of their own motives everyone else in the region would believe in it, too. They didn’t suppose that a free state could arise on the foundations of 35 years of police terror. They didn’t suppose that America had the power to shape political outcomes in a faraway country of which most Americans knew little. They didn’t believe that because America defended human rights and freedom in Bosnia and Kosovo it had to be doing so in Iraq. They avoided all these mistakes.

I made some of these mistakes and then a few of my own. (…)“

p.s.: In eigener Sache: Ignatieff sagt in seinem Text auch, er werde nicht mehr den Fehler machen, sich von verfolgten Menschen, mit denen er sympathisiert, agitieren zu lassen. Das bezieht sich auf die irakische Opposition im Exil, die für den Sturz Saddams geworben hatte.
Auch ich habe mich von den Argumenten der Exilanten beeindrucken lassen. Ich habe vor dem Krieg ein grosses Interview mit Kanan Makiya geführt, dem Autor von „Republic of Fear“ dessen Engagement mich sehr für die Sache der Demokratisierung des Irak eingenommen hat. Mein Interview mit ihm ist hier nachzulesen. Zum Glück ist meinen skeptischen Fragen nicht anzusehen, wie sehr auch ich damals schief gelegen habe mit meinen Hoffnungen, für die andere den Preis bezahlen.