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Wer den Gaza-Krieg gewonnen hat

Die vergangene Woche hat einige überraschende Erkenntnisse gebracht.

Erstens: Raketenabwehr funktioniert, und zwar sogar gegen unberechenbar fliegende Geschosse wie die Kassam-Raketen aus dem Gaza-Streifen. Noch besser funktioniert sie gegen größere Mittelstrecken-Raketen wie die Fadschr-Raketen iranischen Ursprungs. Und damit zeigt sich ein wenig beachteter Sinn der jüngsten Operation Israels: Die Abschreckung gegenüber dem Iran und seinen „Proxies“ Hisbollah und Hamas wiederherzustellen. Iran hat zwar öffentlich triumphiert über den „Erfolg“ der Hamas (der vor allem darin bestand, dass man immer weiter in der Lage war zu schießen, auch wenn man nichts mehr treffen konnte). Aber das nahezu perfekte Funktionieren von „Iron Dome“ ist eine schmerzliche Niederlage für Iran, das damit ohne Chance dasteht, Israel über die Terrorgruppen in seiner Nachbarschaft herauszufordern. Dies rückt auch einen Krieg gegen das iranische Atomprogramm näher in den Bereich des Machbaren.

Zweitens: Eine Muslimbruder-Regierung in Ägypten muss nicht notwendiger Weise eine Verschlechterung der Lage für Israel bringen. Im Gegenteil, mit Mursi ist erstmals wieder ein Akteur auf der Bühne, der mit beiden Seiten reden kann. Er ist genügend unter (wirtschaftlichem ) Druck, sein Land nicht zu isolieren. Er braucht die Kredite des IWF und die Milliarden der Hilfe aus den USA. Aber das ist nicht alles. Mursi muss Ägyptens strategische Interessen wahren, und die bestehen auch in einer Schwächung des iranischen Einflusses auf das Palästina-Thema. Hamas wieder in die MB-Familie zu reintegrieren und sie dem Einfluss von Damaskus und Teheran zu entziehen, ist Priorität für Ägypten. Auch deshalb, weil Unregierbarkeit in Gaza sich auf den Sinai auswirkt. Dortige Terrorgruppen arbeiten mit Teilen der Hamas zusammen, um gegen Israel vorzugehen. Sie greifen auch ägyptische Sicherheitskräfte an. Das muss aufhören, und auch darum will Mursi Hamas unter Kontrolle bringen. Israelische Kreise äußern sich erstaunlich positiv über sein bisheriges Agieren. Man ist bereit, eine Menge Rhetorik und Symbolik zu akzeptieren, solange Mursi konstruktiv bleibt. Auch hier ist der Kontrast zum Iran entscheidend: Es war von vornherein klar, dass Mursi keine Eskalation wollte, während Iran darauf setzt.

Drittens: Über Netanjahus Gründe für den Einsatz – und seine Zurückhaltung am Ende – sind eine Menge merkwürdiger   Thesen im Umlauf. Wegen der Wahlen soll er es angefangen haben. Das ergibt keinen Sinn, weil seine Wiederwahl so feststand wie nur was. Er hatte es schlicht nicht nötig. Im Gegenteil bringt eine Operation  wie diese große Risiken mit sich. Allerdings hatte die Notwendigkeit zu handeln sehr wohl etwas mit der Wahl zu tun: Es gab Druck seitens des Bevölkerung des Südens, endlich etwas gegen die hunderten Raketen zu tun. Die Hamas hatte offenbar (falsch) kalkuliert, man sei derzeit immun, eben weil Netanjahu nicht handeln würde wegen des Wahlkampfs und wegen der neuen Lage nach dem Arabischen Frühling (MB an der Macht). Man kann das Kalkül verstehen, denn entgegen seinem Image als Scharfmacher hatte Netanjahu bisher noch nie einen Befehl zu einer Militäroperation gegeben. Es war eine Premiere. Netanjahu hat sich dann entschlossen, unter großem Druck seitens der USA, keine Bodenoffensive zu machen. Er hat sicher auch das Risiko im Blick gehabt, dass dies wieder in einem PR-Fiasko enden könnte (wie „Cast Lead“ 2008)  und die Legitimität der Selbstverteidigung Israels, die diesmal nahezu unisono bekräftigt wurde, beschädigt würde. Er hat sich gegen die Invasion entschieden, obwohl ihm dies bei den Wählern schaden wird – denn viele wollten laut israelischen Umfragen, dass er Hamas diesmal den Rest gibt. Offenbar hatte er den Eindruck, dass die Ziele erreicht sind. Hamas reduziert, Iran abgeschreckt, Ägypten gewonnen.

Viertens: Auf einem anderen Blatt steht die Machtverschiebung auf der palästinensischen Seite, die durch diesen Krieg akzentuiert und beschleunigt wurde. Hamas ist die einzig relevante Kraft geworden. Abu Mazen ist „irrelevant“, wie hohe israelische Politiker mit einer gewissen Genugtuung sagen. Woher diese Genugtuung kommt, ist mir rätselhaft. Von Generälen oder Geheimdienstlern kann man dergleichen nicht hören. Sie loben die Sicherheitskooperation in der Westbank. Von dort flogen keine Raketen. Dass der Bus, der in Tel Aviv zum Glück ohne Todesopfer zerstört wurde, von Hamas-Kämpfern aus dem Westjordanland in die Luft gesprengt wurde, ist ein Omen für die Zeit nach dem Ende der PA, wenn solche Leute freie Hand haben werden. Warum es in Israels Interesse sein könnte, das auch noch zu befördern, erschließt sich mir nicht. Und hier kommen wir zum dunklen Kern des Erfolgs dieser letzten Woche: Die Stärkung der Hamas und die gleichzeitige Schwächung der Fatah um Abbas und Fajad macht eine Verhandlungslösung noch unwahrscheinlicher. Nächste Woche geht Abbas zu den Vereinten Nationen, um über den „Beobachterstatus“ für Palästina abstimmen zu lassen.Eine Lektion dieser Woche lautet, dass Bomben und Raketen mehr bringen als Gewaltverzicht, Dialogbereitschaft und das Ringen um diplomatische Anerkennung. Daraus wird nichts Gutes wachsen.

Hans Magnus Enzensberger hat den schönen Satz gesagt, es gebe Siege, die von Niederlagen schwer zu unterscheiden sind. Dies ist vielleicht so ein Fall.

 

 

 

 

Politischer Islam an der Macht – was nun?

Letzte Woche habe ich eine Debatte bei Außenpolitischen Jahrestagung der Böll-Stiftung in Berlin moderiert. Teilnehmer waren Binnaz Toprak, Istanbul (CHP), Radwan Masmoudi (CSID, Washington/Tunis), Adul Mawgoud Dardery (MP FJP, Cairo/Luxor):

 

„Der Nationalstaat hat sich ad absurdum geführt“

Für die aktuelle Ausgabe der ZEIT habe ich mit dem Kollegen Mark Schieritz den Finanzminister Wolfgang Schäuble interviewt. Hier ein Ausschnitt, der Rest in der Tote-Bäume-Version der ZEIT an einem Kiosk Ihres Vertrauens:

DIE ZEIT: »Der europäische Einigungsprozess ist an einen kritischen Punkt seiner Entwicklung gelangt. Wenn es nicht gelingt, eine Lösung zu finden, dann wären die existenziellen Probleme der europäischen Gesellschaften nicht zu bewältigen« – kommt Ihnen dieses Zitat bekannt vor, Herr Minister?

Wolfgang Schäuble: Es passt auf viele Situationen in der Geschichte der EU und beschreibt auch die gegenwärtige Lage gut.

ZEIT: Es entstammt dem Papier zur Zukunft Europas, das Sie im Jahr 1994 zusammen mit Karl Lamers verfasst haben.

Schäuble: Sehen Sie!

ZEIT: Muss es nicht zu denken geben, dass Europa nun schon seit 18 Jahren über dieselben Probleme redet und sie offenbar nicht gelöst bekommt?

Schäuble: Das ist doch etwas verkürzt. Anders als heute ging es in den neunziger Jahren vor allem um die Frage, ob die Europäische -Union erweitert oder vertieft werden soll. Wir haben gesagt, man muss beides machen. Heute haben wir es mit anderen Herausforderungen zu tun. Aber richtig ist immer: Europa entwickelt sich Schritt für Schritt und normalerweise ohne den Big Bang, denn die Menschen sind nur schrittweise dazu bereit, bestimmte Zuständigkeiten auf die europäische Ebene zu übertragen. Das ist ein mühsamer Prozess, der uns aber schon weit getragen hat.

ZEIT: Warum ist er so mühsam?

Schäuble: Es hat etwas damit zu tun, dass demokratische Wohlstandsgesellschaften das Wort »Veränderung« nicht sehr schätzen. Es gibt halt Besitzstände, und die werden verteidigt. Niemand will den Flughafen in seiner Nähe haben, aber alle wollen fliegen. Europa ist ein andauerndes Veränderungsprojekt.

ZEIT: Vielleicht ist die Zurückhaltung ja auch Ausdruck einer gesunden Skepsis gegenüber politischen Experimenten.

Schäuble: Das glaube ich nicht. Es ist doch so, dass die Zustimmung zu Europa eher zu-genommen hat.

ZEIT: Wirklich? In Griechenland und Spanien gibt es Proteste gegen die Sparauflagen aus Brüssel, in Deutschland gegen den Rettungsschirm ESM.

Schäuble: Proteste gehören zu einer Demokratie, und viele der jetzt beschlossenen Maßnahmen sind in der Tat für den Einzelnen hart und dementsprechend oft auch unpopulär. Entscheidend ist aber doch der Wille der Mehrheit. Und immer wenn die Mehrheit erkennt, was auf dem Spiel steht, ist sie bereit, etwas zu tun. Nehmen Sie die Wahlen in den Niederlanden, bei denen die Euro-Skeptiker abgestraft wurden. Auch die zweiten Wahlen in Griechenland oder gerade jetzt die spanischen Regionalwahlen haben bewiesen: Je konkreter die Gefahr, desto größer die Reformbereitschaft.

ZEIT: Trifft das auch für Deutschland zu? Die Freien Wähler wollen mit einem euroskeptischen Programm in den Bundestag einziehen.

Schäuble: Und sie werden scheitern. Genau wie Hans-Olaf Henkel oder wer auch immer. In Deutschland konnte bislang keine Partei mit einem Anti-Euro-Kurs bei Wahlen punkten. Als versucht wurde, dies zum Thema bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus zu machen, haben sich die Wähler abgewandt. Europa kommt immer in Krisen wirklich voran, das war schon immer so.

ZEIT: Das wäre dann ein Europa, das die Finanzmärkte erzwingen. Wäre es nicht ein besserer Ausgangspunkt für das friedliche Zusammenleben der Völker, wenn eine derart gravierende Entscheidung in freier Übereinkunft getroffen würde?

Schäuble: Es ist doch klar und zwingend, dass ohne die Zustimmung der Völker und der Parlamente überhaupt nichts in Europa passiert. Aber manchmal braucht es eben einen Anstoß, einen Anlass, um etwas weiterzuentwickeln. Sonst säßen wir wohl immer noch in der Steinzeit, denn so kalt waren die Höhlen ja vielleicht auch nicht. Nach meinem Verständnis von demokratischer Politik kann man einen großen Plan nur mit Beteiligung der Bevölkerung umsetzen und muss ihre Bedenken und Sorgen berücksichtigen.

ZEIT: Trotzdem bauen Sie an einem europäischen Superstaat. Wie passt das zu einem konservativ-skeptischen Menschenbild?

Schäuble: Es geht gerade nicht um einen Superstaat, sondern um die Fortentwicklung der Idee des Nationalstaats. Diese sehr europäische Idee hatte sich schon mit dem Morden des Ersten Weltkriegs ad absurdum geführt, daher ja auch die ersten paneuropäischen Bewegungen in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Es bedurfte aber eines weiteren großen Kriegs, bevor die Idee in die Praxis umgesetzt wurde. Was wir in Europa im Bereich der effizienten Zuordnung von Souveränität zwischen Kommunen, Regionen, Staaten und der europäischen Ebene machen, ist hoch-innovativ – und unter den Bedingungen der Globalisierung wichtiger denn je.

ZEIT: Die Kriegserzählung verliert für Jüngere an Überzeugungskraft. Wie kann man heute Europa begründen?

Schäuble: Ich vermute mal, dass dies eine rhetorische Frage ist. Klima, Rohstoffe, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Terror und Ähnliches mehr fallen einem schnell als Antwort ein. Aber auch bei der Finanzmarktregulierung können Sie allein wenig ausrichten. Ich war gerade in Asien, dort beobachtet man sehr genau, was wir in Europa machen.

ZEIT: Ist es dann nicht riskant, Europa durch hochtrabende Integrationspläne zu gefährden?

Schäuble: Der Euro hat noch keinen umfassend adäquaten institutionellen Rahmen. Das holen wir jetzt nach. Damit gefährden wir Europa nicht, sondern stärken es.

ZEIT: Sie haben vergangene Woche vorgeschlagen, einem Brüsseler Superkommissar für Währung ein Vetorecht über nationale Staatshaushalte einzuräumen. Ist es demokratisch, das Budgetrecht des Parlaments auszuhöhlen?

Schäuble: Da wird nichts ausgehöhlt. Die Idee ist weder neu noch revolutionär. Der Kommissar kann keine beliebigen Entscheidungen treffen. Er soll dafür sorgen, dass die Regeln eingehalten werden, denen die Mitgliedsstaaten und zumeist auch ihre Parlamente bereits verbindlich zugestimmt haben. Nicht mehr und nicht weniger.

ZEIT: Wie lange werden die nationalen Parlamente noch die Haushalte festlegen?

Schäuble: Irgendwann wird das Europäische Parlament das Budgetrecht wahrnehmen. Dazu müssen aber noch viele Voraussetzungen erfüllt sein – vor allem müssen es die Menschen als ihre Vertretung annehmen. Wir könnten jedoch schon viel früher mit der Stärkung der Demokratie in Europa beginnen und den Präsidenten der Kom-mission direkt vom Volk wählen lassen.

ZEIT: Sie glauben, dass sich die Deutschen für den Kommissionspräsidenten interessieren?

Schäuble: Wenn es einen Wahlkampf gibt, schon. Das wäre eine Urerfahrung, die bleibt. Sie könnte bei der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit helfen. Schauen Sie doch, mit welchem Interesse die Menschen eine Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart verfolgen!

ZEIT: Je mehr Kompetenzen Sie aus der Hand geben, desto größer die Gefahr, dass nicht im deutschen Interesse entschieden wird. Viele Berliner Positionen sind in Europa nicht mehrheitsfähig.

Schäuble: Daran arbeiten wir. Die Garantie allerdings, dass sich immer die deutsche Po-si-tion durchsetzt, kann niemand geben. Demokratie bedeutet, darauf zu vertrauen, dass die Mehrheit schon das Richtige tut. Das ist das Risiko der Freiheit. Und als es hieß, dass am deutschen Wesen die Welt genesen solle, war es sicherlich nicht zu unserem Besten.

ZEIT: Im Fall der Europäischen Zentralbank (EZB) wird dieses Vertrauen sehr strapaziert. Für die meisten Bundesbürger ist die Politik der Notenbank ein Bruch mit deutschen Stabilitätsidealen.

Schäuble: Der EZB zu unterstellen, sie sei nicht stabilitätsbewusst, hieße, die Realität zu ignorieren. Sie agiert innerhalb ihres Mandats.

ZEIT: Sie sagen, dass die Krise Europa zusammenführt. Entzweit sie nicht den Kontinent? Vor allem Deutschland und Frankreich finden nicht zusammen.

Schäuble: Im Moment sind wir mit der Situation konfrontiert, dass es bei uns wirtschaftlich – noch – sehr gut läuft, während andere – noch – Probleme haben. Aber nur Frankreich und Deutschland gemeinsam können verhindern, dass in Europa der Norden und der Süden auseinanderdriften.

ZEIT: Ist Frankreich Süden oder Norden?

Schäuble: Auch für die französische Gesellschaft gilt, dass sie noch nicht sehr offen für Veränderungen ist. Nicolas Sarkozy hat im Wahlkampf einen radikalen Bruch versprochen, ist aber sehr schnell eingefangen worden. François Hollande hat einen anderen Wahlkampf geführt, vergleichbar mit dem von Gerhard Schröder im Jahr 1998. Schröder hat damals eine Menge Dinge getan, von denen er wusste, dass sie falsch sind. Das musste er dann später korrigieren. Auch Hollande hat eine Menge Erwartungen geweckt. Die kann er jetzt nicht einfach enttäuschen, er muss sein Lager zusammenhalten. Sie können jedoch davon ausgehen, dass wir Europa gemeinsam voranbringen werden.

ZEIT: Aber welches Europa? Sie wollen neue Regeln durchsetzen, Frankreich will mehr Geld.

Schäuble: Die Franzosen wissen, dass die Währungs-union nur richtig funktionieren kann, wenn Zuständigkeiten an Brüssel abgegeben werden – auch wenn sie aus historischen Gründen etwas zurückhaltender sind als die Deutschen. Nicolas Sarkozy hatte das verstanden, und ich glaube, François Hollande hat es auch verstanden.

(…)

ZEIT: Sie schlagen sich jetzt seit fast drei -Jahren mit dieser Krise herum. Das haben Sie auch Helmut Kohl zu verdanken, der eine gemeinsame Währung einführte, ohne die politischen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen.

Schäuble: Für eine politische -Union gab es damals keine Mehrheit. Deutschland und die anderen europäischen Staaten standen vor der Wahl, jetzt mit der gemeinsamen Währung anzufangen oder überhaupt nicht anzufangen. Kohl hat angefangen, und das war richtig. Wir hätten sonst heute den Euro nicht.

ZEIT: Darüber wären in Deutschland viele wahrscheinlich ganz froh.

Schäuble: Ich nicht, weil ich glaube, dass Europa und gerade auch Deutschland sehr von der Wäh-rungs-union profitieren.

ZEIT: Helmut Kohl hat sich kürzlich darüber beklagt, dass den heutigen Regierenden die Größe fehle.

Schäuble: Er ist nicht der einzige Helmut, der das so sieht. Die Älteren machen sich immer Sorgen, dass die Nachfolger nicht so groß sind wie sie selber. Das war in der Geschichte oft so und ist noch öfter widerlegt worden.

 

 

 

Das Versagen der amerikanischen Außenpolitik (im Präsidentschaftswahlkampf)

Zweiter Eindruck der dritten und letzten Präsidentschaftsdebatte, nachdem ich eine Nacht drüber schlafen konnte: Wow, was für eine Enttäuschung. Gut, Obama „hat gewonnen“, wie es fast überall heißt. Freut mich, ich möchte ihn noch für eine weitere Amtszeit am Ruder sehen. (Hat er denn wirklich gewonnen? Romney wusste doch, er kann hier nicht „gewinnen“, wg. Commander in Chief, OBL tot, Weltläufigkeit etc. Er musste nur zeigen, dass er kein Volltrottel ist und kein Wiedergänger von Bush Junior in seiner ersten Amtszeit: dass er keinen Krieg vom Zaun brechen wird. Und das ist ihm gelungen. Hat er damit nicht vielleicht gewonnen, was zu gewinnen war?)

Mit einem gewissen Abstand bleibt ein schales Gefühl. Das war also die große Debatte über amerikanische Außenpolitik? Obama sagt, ich habe Amerika in Sicherheit geführt: Irakkrieg abgewickelt (hatte Bush schon begonnen), Afghanistankrieg dito. Osama tot. Ich habe Iransanktionen ermöglicht, die endlich wirken. Ich bin Israels bester Freund, auch wenn das Gegenteil behauptet wird (guter Punkt: anders als Romney habe ich keine Fundraiser in Israel gemacht, sondern bin nach Yad Vashem und Sderot gegangen). Und das war es dann auch schon so in etwa.

Romney konterte mit dem Vorwurf, Obama sei auf eine „Entschuldigungstour“ gegangen und habe dabei allerlei problematische Länder aufgesucht (Europa, Ägypten), während er Israel vermieden habe. Er habe auf die iranische Grüne Bewegung zu spät und nicht deutlich genug reagiert (stimmt!), er lasse Entschlossenheit gegenüber dem iranischen Atomprogramm vermissen (Quatsch), während er, Romney, Ahmadinedschad wegen „Völkermord“ zur Rechenschaft ziehen werde (???). Was Ägypten und Syrien, Libyen, Tunesien und Jemen angeht, hatte Romney wenig mehr zu bieten als ein warnendes „Oioioi, da sind Islamisten auf dem Vormarsch“. Zwischen Al-Kaida und Morsis Muslimbrüdern schien er nicht viel Unterschiede zu sehen. Mit China werde er, Romney ordentlich Schlitten fahren, wegen der „Währungsmanipulation“ und des Stehlens von amerikanischen Arbeitsplätzen und Patenten.

Diese Karte zeigt die Welt, wie sie in der Debatte erscheint. Gefunden bei Matt Yglesias.

Zunächst einmal fällt an dieser Auseinandersetzung eine Provinzialität auf, die für die letzte globale Supermacht ein wenig absurd ist. Israel, Iran, Islamismus, fast alles kreiste um die drei I’s. Neben dem Nahen Osten wurde nur China erwähnt, als einziges ostasiatisches Land. Und wenn, dann nur als frecher Emporkömmling, den man durch genügend hartes Auftreten wieder in die zweite Reihe zurückschimpfen muss.

Das ist lachhaft. Spricht man so über seinen Banker? Über die größte aufstrebende Industrienation? Die all die schönen Gadgets herstellt, die unseren „westlichen“ Lebensstil ausmachen.

Indien – die weltgrößte Demokratie, das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung weltweit, ein trotz Schwierigkeiten erfolgreicher multikultureller Staat, eine aufstrebende Wirtschaftsmacht – wurde mit keinem Wort erwähnt, obwohl es auch mit einem I anfängt.

Europa kam nur vor in Form des Vorwurfs Romneys an Obama, Amerika bewege sich „in Richtung Griechenland“. Auch das ist lächerlich und unwürdig. Europa ist der wichtigste Wirtschaftspartner und trotz seiner momentanen Schwierigkeiten der größte Wirtschaftsraum der Welt. Was sich in Europa abspielt zwischen Zerfallsgefahr und neuer Stabilitätskultur wäre wohl ein, zwei Sätze wert gewesen.

Lateinamerika: Kein Thema. Reiseerlaubnisse auf Kuba: Fehlanzeige. Brasiliens Aufstieg: nie gehört.

Myanmars erstaunlicher Weg aus der Diktatur: Nope.

Russland: Putin nix gut (Romney), sonst ebenfalls kein Thema.

Afrika unterhalb des Magreb und jenseits von Islamismus (Mali wurde erwähnt, weil sich dort Al-Kaida festzusetzen droht): Nö.

Beide Kandidaten sind fixiert in der sträflich beschränkten post 9/11-Weltsicht. Sie sind insofern beide Epigonen von George W. Bush, nur mit unterschiedlichen Konsequenzen. Beide haben den Tunnelblick auf die drei I’s, der 90 Prozent des Weltgeschehens ausblendet.

Die Präsidentschaftswahlen der USA sind ein globales politisches Schauspiel, das weltweit verfolgt wird. Darum war dieser Montagabend ein Schlag ins Kontor. Die Welt hat eine Lektion darüber erhalten, dass die Führungsmacht des Westens nicht versteht, dass nichts mehr so ist wie es einmal war.

 

 

 

Putins Russland ist kein Partner

Mein Kommentar aus der ZEIT von morgen, 11.10.2012:

In etwas mehr als einem Monat droht der deutschen Diplomatie ein peinlicher Moment. In Moskau tagt der »Petersburger Dialog«, das deutsch-russische Forum, auf dem die ›Modernisierungspartnerschaft‹ beider Länder alljährlich bekräftigt wird. Thema diesmal: »Die Informationsgesellschaft vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts«.
Peinlich wird die Sache deshalb: Russland hat im Sommer ein Gesetz zur Internetzensur eingeführt. Mißliebige Webseiten können seither von Putins Regierung ganz einfach abgeschaltet werden. Mit dieser Regierung einen Dialog über die »Informationsgesellschaft« zu führen, wirkt ziemlich naiv. Also absagen? Geht auch nicht mehr.
Einige Abgeordnete der Union haben die Zwickmühle erkannt und einen Antrag formuliert, der die Rückschritte Russlands bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert. Noch vor dem Treffen in Moskau soll er in den Bundestag eingebracht werden: Die Regierung wird darin aufgefordert, ihre Sorgen »klar zum Ausdruck zu bringen«.
Wie nötig eine solche Mahnung ist, zeigen die jetzt bekannt gewordenen Änderungsvorschläge des Auswärtigen Amts. Der Antrag soll gesoftet, offene Worte über den antidemokratischen Irrweg von Putins Regierung herausredigiert werden. Dafür finden sich neue Passagen über die Größe Rußlands und seine Bedeutung als Energielieferant.
Die Abgeordneten dürfen sich das nicht bieten lassen. Sie sollten sich dem Versuch widersetzen, Russland weiter durch den Weichzeichner zu betrachten.
Es geht hier um mehr als einen Antrag. Nötig ist die Neubestimmung der deutschen Russlandpolitk. Trockener, kühler, realistischer – ebenso fern von Kaltem Kriegertum wie von der Illusion der Partnerschaft.
Deutsche Kanzler haben sich viel in Goodwill geübt: Kohls Strickjackenbesuche und Saunagänge bei Gorbi; Gerhard Schröder wurde gar Putins Apologet bis zur Anbiederei. Letzteres kann man Angela Merkel nicht vorhalten. Doch ihre Rußlandpolitik unterscheidet sich, einem hartnäckigen Vorurteil zum Trotz, nur habituell von der Schröders. Sie findet Putins Machismo peinlicher, als sie öffentlich zugeben kann. Doch die wirtschaftliche Verflechtung hat unter Merkel noch zugenommen, und auch ihr Engagement für Regimekritiker kommt über erwartbare symbolische Gesten selten hinaus. Am Ende übertrumpft das Interesse an guter Atmosphäre für die deutsche Industrie und politischer Kontinuität stets auch Merkels Widerwillen.
Trotz aller Bemühungen entfernt sich Russland von uns. Putin hat einen nüchtern-zynischen Blick auf die Deutschen: Ihr seid geschwächt durch die Eurokrise, und die Energiewende (Danke dafür, übrigens!) fesselt euch noch enger an unsere Pipelines. Wenn ihr wirklich wollt, dass Assad stürzt, warum tut ihr nichts dafür? Ihr echauffiert euch über Pussy Riot im Gefängnis, setzt aber mit uns den »Rechtsstaatsdialog« fort? Wie verlogen ist das denn? Und euch soll ich ernst nehmen?
Mit einem anderen großen Russen gefragt: Was tun? Vielleicht wäre es kein schlechter Anfang, die Lage so zu beschreiben wie sie ist. Niemand in Berlin hat einen Plan, wie man mit dem Russland unter Putin 2.0 umgehen soll. Dieses Land hält seine schützende Hand über den syrischen Diktator Assad, der sein eigenes Volk massakriert, wie unser Außenminister nicht aufhört zu betonen. Nichtregierungsorganisationen – auch deutsche Stiftungen – werden seit kurzem gezwungen, sich in Russland selbst als »Ausländische Agenten« zu bezeichnen; dadaistische Politkunstaktionen werden mit jahrelanger Haft für  junge Mütter bestraft; das Versammlungsrecht wird immer mehr eingeschränkt, um eine rege Zivilgeselslchaft zu drangsalieren.
Dieses Russland modernisiert sich nicht, und wie ein Partner verhält es sich auch nicht. Die »Modernisierungspartnerschaft«, vor vier Jahren aus der Taufe gehoben, ist den plötzlichen Kindstod gestorben. Die Hinterbliebenen sollten sich den Verlust eingestehen.
Es liegt in der Natur der Sache, dass Deutschlands Russlanddiplomatie auf Ausgleich und Gespräch setzt. Auch das ist, kühl betrachtet, im deutschen Interesse. Nicht im deutschen Interesse ist es, wenn die Regierung unliebsame Anträge redigiert. Das Parlament muss ohne große Rücksichten seinem Unbehagen an den russischen Entwicklungen Ausdruck geben können. Die Regierung könnte sich dies in ihren Verhandlungen mit Russland zunutze machen: Seht mal, bei uns wächst der Unmut über eure Politik!
Sie müsste dazu nur etwas mutiger sein. Nicht ausgeschlossen, dass sie dann auch in Moskau wieder ernster genommen würde  –und ein echter Dialog beginnen könnte.

 

Der Feind meines Feindes ist nicht immer mein Freund

Mein Kommentar aus der ZEIT von heute über die zweifelhafte Aufwertung der iranischen „Volksmudschahedin“ im Kampf gegen das Teheraner Regime: 

Was die amerikanische Regierung dieser Tage verkündet hat, kommt einem Geständnis sehr nahe, dass der Schattenkrieg mit dem Iran in vollem Gange ist: Die oppositionellen iranischen Volksmudschahedin (MKO) werden von der Liste »ausländischer Terrorgruppen« entfernt. Sie sind nun eine legale Oppositionsgruppe, die in den USA offen Lobbyarbeit betreiben und Spenden sammeln darf.

Das ist ein gefährlicher Schritt im Kampf um das iranische Atomprogramm. Offiziell hält Amerika zwar weiter an der Diplomatie fest. Doch wer erklärte Todfeinde des Teheraner Regimes legalisiert, zeigt, dass er in Wahrheit nicht mehr an eine diplomatische Lösung glaubt.

Es gibt durchaus Fälle, in denen vormalige Terroristen zu Recht als legitime Freiheitskämpfer betrachtet werden: wenn die betreffende Gruppe sich gewandelt und der Gewalt abgeschworen hat – so wie etwa Nelson Mandelas ANC und Jassir Arafats PLO.

Doch dies hier ist ein anderer Fall. Seit Jahren gibt es Berichte, dass die Volksmudschahedin den Westen mit Informationen über das iranische Atomprogramm versorgen. Im Gegenzug, so hat der New Yorker in diesem Jahr enthüllt, sind MKO-Soldaten bis mindestens 2007 von amerikanischen Spezialeinheiten ausgebildet worden. Sie sollen mit dem israelischen Geheimdienst Mossad auch an der gezielten Tötung von Atomforschern im Iran beteiligt gewesen sein. Die Mudschahedin sind eine Waffe im verdeckten Kampf gegen das iranische Atomprogramm. Mit einer Prise Zynismus könnte man sagen: Da ist es nur ehrlich, sie von der Liste zu nehmen.

Allerdings hat das Manöver nichts mit Ehrlichkeit zu tun. Die Obama-Regierung steht derzeit innenpolitisch unter Druck, sich gegenüber dem Iran tough zu zeigen. Dass die beim Regime verhasste Gruppe ausgerechnet jetzt legalisiert wird, ist auch Wahlkampftaktik: stark gegenüber Teheran wirken, ohne viel zu riskieren, so das Kalkül.

Aber die Legalisierung einer isolierten Exilgruppe wie der Volksmudschahedin birgt Gefahren für die wahren Kräfte des Wandels im Iran. Die Anführerin der Gruppe, Marjam Radschawi, stellt sich im Pariser Exil nun als legitime Vertreterin der iranischen Opposition mit offiziellem Brief und Siegel des amerikanischen Außenministeriums dar. Sie ruft die Bevölkerung auf, den Regimewechsel herbeizuführen. Den Ajatollahs wird so die Begründung frei Haus geliefert, die legitime Opposition daheim zu diskreditieren: Sie mache gemeinsame Sache mit Terroristen und diese steckten wiederum mit den USA und Israel unter einer Decke.

Das amerikanische Außenministerium betont, man befinde sich keinesfalls in einer »gemeinsamen Front gegen die Islamische Republik Iran«. Wirklich nicht? Warum dann dieser Schritt in der jetzigen angespannten Lage?

Nicht nur das Regime, sondern auch weite Kreise der iranischen Bevölkerung – bis weit hinein in die Grüne Bewegung, die sich nach der letzten Präsidentschaftswahl formierte – lehnt die MKO ab. Mit gutem Grund. Die Gruppe hat seinerzeit zunächst mit Ajatollah Chomeini den Schah gestürzt, sich dann aber mit dem neuen Machthaber überworfen. Sie fing an, Regimepolitiker zu töten, wurde erst in den Untergrund und schließlich ins Exil getrieben. Ausgerechnet beim Erzfeind des Irans, Saddam Hussein, fand man Unterschlupf. Die MKO half Saddam, irakische Kurden und Schiiten zu massakrieren. Sowohl im Iran als auch im Irak hat das niemand vergessen. Der dankbare Saddam ließ sie ein Militärlager auf irakischem Boden betreiben, in dem Tausende Soldaten für den Umsturz in Teheran trainierten. Die Ideologie der Gruppe, anfangs eine Mischung aus Islamismus und Marxismus, wurde immer mehr auf den Personenkult um die exilierten Führer zugeschnitten, das Ehepaar Massud und Marjam Radschawi. Die bis heute totalitären Strukturen in dieser militanten Sekte machen ihre späten Bekenntnisse zu einem »säkularen und demokratischen Iran« völlig unglaubwürdig.

Die Volksmudschahedin anzuerkennen folgt einer diskreditierten Logik, die immer noch fälschlicherweise als »Realpolitik« gilt: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Die Malaise der amerikanischen Iranpolitik hat so angefangen, mit der Unterstützung des Westens für den Schah – gegen die nationale Freiheitsbewegung. Der Schah wurde von den Islamisten gestürzt, gegen die nun der Westen wiederum die Volksmudschahedin stützt? Irre.

Stets und überall ist die Politik damit gescheitert, radikale Gruppen gegen unliebsame Regime auszuspielen – von den Contras in Nicaragua bis zu den Taliban in Afghanistan. Nach einer treffenden Definition erkennt man Wahnsinn daran, immer wieder das Gleiche zu tun und doch andere Ergebnisse zu erwarten. Es ist Zeit, endlich damit aufzuhören.

 

Warum Deutschland keine Panzer nach Katar liefern sollte

Mein Leitartikel aus der ZEIT von morgen, 2. August 2012, S.1:

Es zeichnet sich ein Bruch in der deutschen Außenpolitik ab  der zweite, seitdem in den Interventionen vom Balkan bis zum Hindukusch das Tabu gebrochen wurde, das bisher über dem militärischen Engagement lag.
Deutschland exportiert immer mehr und immer offener Waffen. Nicht nur wie bisher überwiegend an Partner und Freunde, sondern häufiger auch in Krisengebiete. Dieser Politikwechsel wird nicht öffentlich begründet, weil
die Regierung Entrüstungsstürme fürchtet.
Er wirft eine Grundsatzfrage auf: Ist die Liberalisierung von Waffenexporten die richtige Strategie in einer zunehmend chaotischen Welt voller Konflikte und konkurrierender Mächte? Die Antwort kann nur Nein lauten. Doch die Bundesregierung sagt immer öfter Ja.
Der erstaunliche Boom des Leopard-Panzers markiert diese Zeitenwende. Letztes Jahr genehmigte der Bundessicherheitsrat ein Geschäft mit Saudi-Arabien über 200 »Leos«. Nun bekundet der Nachbar Katar ebenfalls Interesse an 200 Panzern. Auch Indonesien, das größte muslimische Land der Welt, hat bestätigt, an 100 Leopard-Panzern interessiert zu sein. Die Chancen der Bewerber stehen gut, denn wer bereits an das autokratische Regime in Riad liefert, wird sich dem prowestlichen Emir nebenan in Doha oder dem moderat-islamischen Präsidenten in Jakarta kaum verweigern.

»Der Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern wird restriktiv gehandhabt.« So steht es in den »Politischen Grundsätzen« der Bundesregierung. Dass die Regierung diese Grundsätze mit Füßen tritt, kann aber die Opposition nicht allzu laut kritisieren. Sie hat es nämlich selbst auch getan: Den Bekenntnissen zur »Restriktion« zum Hohn hat sich der Gesamtwert der deutschen Waffenexporte im letzten Jahrzehnt verdreifacht, und Deutschland ist zum drittgrößten Waffenhändler weltweit aufgestiegen nach den USA und Russland. Jedes Jahr verzeichnen die Rüstungsexportberichte Zuwächse, wahren offiziell, weiter Restriktion gelobt wird.
Es ist vielleicht kein Schaden, wenn diese Heuchelei zu Ende geht.

Was aber ist der Grund für den Bruch? Um Wirtschaft geht es nicht: Rüstungsexporte sind zwar ein lukratives Geschäft. Doch die Bedeutung der Waffenindustrie für den Standort Deutschland wird von Lobbyisten ebenso wie von manchen Pazifisten übertrieben: 2010, im letzten dokumentierten Jahr im erfolgreichsten bisher, betrug der Anteil von Waffen am Gesamtexport schmale 0,2 Prozent. Deutschland ist wirtschaftlich auch in der Krise nicht angewiesen auf Waffengeschäfte. Das Ja kommt nicht aus Not oder Profitgier.

Ein Grund liegt in der politischen Lage des Westens. Die zunehmende Offenheit für Waffenexporte entspringt den Schlüssen, die die Kanzlerin aus den Erfahrungen mit Kampfeinsätzen gezogen hat: Militärisches Eingreifen hat sich in Afghanistan und im Irak als Mittel der Politik diskreditiert. Wir sind in Afghanistan gescheitert, die Amerikaner im Irak. Deutsche Soldaten sollen möglichst nicht in fremden Konflikten eingesetzt werden. Wenn die Deutschen, so Merkel, dennoch weiter an der Stabilisierung gefährdeter Regionen mitarbeiten wollten, müssten sie Waffen in die Hände derer geben, die dort für Stabilität stehen: Weil wir Deutschen kriegsmüde sind, schicken wir euch Panzer. Aus der Zurückhaltung bei Interventionen folgt in dieser Logik das Ende der Zurückhaltung bei Waffengeschäften.
Das ist die Rechtfertigung dafür, dass Saudis und Katarer Panzer bekommen sollen. Beide Länder gelten als »Stabilitätsanker« in ihrer Region. Doch im Nahen Osten immer noch auf Stabilität zu setzen ist kühn. Katar ist wie Saudi-Arabien eine Autokratie. Auch hier könnten Panzer eines Tages zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt werden. Und: Das kleine Scheichtum Katar mag derzeit intern stabil wirken, doch agiert es in der Region als revolutionäre Macht, die erst Gaddafi wegzufegen half und nun das Gleiche mit dem Regime Assad erreichen möchte. Es unterstützt die Rebellen in Syrien mit Waffen.
Katar bildet mit den Saudis eine sunnitische Achse gegen den Iran, der als Vormacht der Schiiten Assad stützt. Wenn Deutschland Irans Feinde bewaffnet, nimmt es indirekt eine Position im sunnitisch-schiitischen Stellvertreterkrieg ein, der zurzeit in Syrien ausgetragen wird.
Stabilität schaffen mit immer mehr Waffen  das hat seit dem Kalten Krieg und dem »Gleichgewicht des Schreckens« nirgends mehr funktioniert. Da wirkt die Idee, Deutschland könnte punktgenau mit großzügigen Waffenlieferungen die Guten fördern und die Bösen in Schach halten, bizarr und wie aus der Zeit gefallen. Die jüngere Geschichte der Kriege im Iran, im Irak und in Afghanistan ist voller Beispiele dafür, dass die Waffen der Guten in den Händen der Bösen landen  oder die Guten von gestern sich als die Bösen von heute erweisen.
Es geht nicht darum, alle Rüstungsgeschäfte zu verteufeln. Die Krux ist, dass großes Unheil schon aus einigen wenigen Exporten entstehen kann.
Deutschland hat auf dem Papier ein ebenso einfaches wie kluges Prinzip: Unsere Freunde in EU und Nato (plus Schweiz, Australien, Japan und Israel) bekommen, was sie wollen. Alle anderen: so wenig wie möglich. Spannungsgebiete: gar nichts. Das ist ein guter Maßstab für bewegte, umkämpfte Zeiten wie diese. Statt den Maßstab immer weiter aufzuweichen, muss er nur endlich angewendet werden.

 

Wie Deutschland der syrischen Opposition hilft

Zwischen dem Ludwigkirchplatz in Berlin-Wilmersdorf und Damaskus liegen 3700 Kilometer Luftlinie. Doch wenn eines Tages ein neues Syrien aus den Trümmern der Assad-Diktatur entsteht, könnten wesentliche Impulse aus dem alten preußischen Amtsgebäude stammen, in dem ein regierungsnaher deutscher Thinktank residiert
Bei der »Stiftung Wissenschaft und Politik« (SWP) hat seit Januar eine Gruppe von bis zu 50 syrischen Oppositionellen aller Couleur geheime Treffen abgehalten, um Pläne für den Tag nach dem Abgang Assads zu schmieden. Das klandestine Projekt mit dem Namen »Day After« wird von der SWP in Partnerschaft mit dem »United States Institute of Peace« (USIP) organisiert, wie DIE ZEIT von Beteiligten erfuhr. Das deutsche Außenministerien und das State Department helfen mit Geld, Visa und Logistik. Direkte Regierungsbeteiligung gibt es wohlweislich nicht, damit die Teilnehmer nicht als Marionetten des Westens denunziert werden können.
Zwar nehmen auch Angehörige der »Freien Syrischen Armee« teil, doch der Weg hin zum Sturz Assads und die damit verbundene Debatte um Fluch und Segen militärischer Interventionen wird in Berlin bewußt ausgeklammert. Die Frage bei den Treffen lautet: Wie kann der Übergang zu einem demokratischen Syrien organisiert werden? Das unweigerliche Ende des Regimes wird schlicht vorausgesetzt. Es ist seit mehr als sechs Monaten die Arbeitshypothese bei den Berliner Treffen. Darin zeigt sich, dass die Bundesregierung schon viel länger mit dem Sturz des syrischen Regimes kalkuliert, als Berliner Diplomaten zugeben können. Und: Deutschland ist sehr viel stärker in die Vorbereitungen der syrischen Opposition einbezogen, als man bisher öffentlich zugeben wollte.
Dies allerdings mit gutem Grund: Unter beträchtlichem Aufwand wurden diskret Ex-Generäle, Wirtschafts- und Justizexperten, sowie Vertreter aller Ethnien und Konfessionen -– Muslimbrüder eingeschlossen, aber auch säkulare Nationalisten – nach Berlin eingeflogen. Die Sache musste unter dem Radar der Öffentlichkeit gehalten werden, um eine freie Debatte zu ermöglichen und Teilnehmer vor dem langen Arm des syrischen Geheimdienstes zu schützen. Außerdem: So lange Deutschland noch an Assad und seine Paten in Moskau und Peking appellierte, wäre es kontraproduktiv gewesen, konkrete Planungen für ein freies Syrien offenzulegen.
Nach der Eskalation der Kämpfe und dem Scheitern der Diplomatie durch das Veto Russlands und Chinas aber ist ein »Wendepunkt« (Westerwelle) erreicht und Deutschland stellt sich offener hinter die Opposition.
Der Syrienkenner Volker Perthes, Direktor der SWP, betont, die beteiligten Regimegegner hätten »sich selbst rekrutiert, denn es ist nicht unsere Aufgabe, hier eine neue syrische Regierung auszuwählen.« Ziel des Projekts sei vielmehr, Prioritäten beim Umbau der Assad-Diktatur in eine Demokratie zu identifizieren. »Vielleicht wichtiger noch«, fügt Perthes hinzu: »Wir haben der Opposition die Chance gegeben, unbeobachtet und ohne Druck eine Diskurscommunity zu schaffen«. Offenbar war das produktiv: Im August soll ein Dokument veröffentlicht werden, das den Konsens der Opposition darüber darstellt, wie die neue Verfassung aussehen muss, wie Armee, Justiz und Sicherheitsapparate refomiert werden können, wie die Konfessionen künftig friedlich zusammenleben und die Wirtschaft umgebaut werden muss.
Für Berlin als Tagungsort sprach von Beginn an, dass es kaum möglich gewesen wäre, die Teilnehmer aus dem islamistischen Spektrum in die USA zu bringen. Außerdem sind mit Perthes und der Projektleiterin Muriel Asseburg langjährige Kenner Syriens vor Ort verfügbar. Deutschland hat zudem wertvolle eigene Erfahrung mit der Überwindung von Diktaturen: Perthes erzählt, ein Besuch bei der Stasi-Unterlagenbehörde habe bei den Syrern heftige Debatten über den Umgang mit Geheimdienstakten und belasteten Mitarbeitern ausgelöst. Eines der wichtigsten Themen ist die Frage, welche Teile des Sicherheitsapparats und der Justiz man bewahren sollte. Der Irak gilt im Nachbarland Syrien, so Perthes, als abschreckendes Beispiel dafür, wie die Totalabwicklung des alten Regimes ins Chaos führen kann.
Die Bundesregierung zieht mit der Förderung der syrischen Opposition Konsequenzen aus der Fehlentscheidung, im Libyenkonflikt mit Rußland und China gestimmt zu haben. In diesem Zusammenhang sind auch die offiziellen Aktivitäten Deutschlands im Rahmen der »Freundesgruppe des syrischen Volkes« zu sehen. Darin sind 70 Staaten vertreten, die trotz der russisch-chinesischen Blockade für den Wandel in Syrien eintreten. Deutschland hat in der »Freundesgruppe« zusammmen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten die Verantwortung für die »Arbeitsgruppe Wirtschaftlicher Wiederaufbau und Entwicklung« übernommen. Die erste Sitzung fand Ende Mai in Abu Dhabi statt, die zweite Ende Juni in Berlin. In Berlin wurde jüngst ein Sekretariat eingerichtet, das die Sitzungen koordinieren und den Kontakt zur syrischen Opposition halten soll, geleitet vom ehemaligen Chef des afghanischen Büros der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), Gunnar Wälzholz. Das Auswärtigen Amt finanziert das Sekretariat mit 600 000 Euro für zunächst sechs Monate. Deutsche Diplomaten äußern sich erfreut, dass der Syrische Nationalrat, der größte Zusammschluss oppositioneller Kräfte, sich beim Treffen der Arbeitsgruppe klar zu Martkwirtschaft und Korrruptionsbekämpfung bekannt hat.
Beide von Deutschland geförderten Aktiviäten, die klandestinen und die öffentlichen, passen zusammen: Ob die Pläne der Oppositionellen für ein demokratisches Syrien umgesetzt werden können, hängt wesentlich daran, ob der wirtschaftliche Wiederraufbau allen Syreren Chancen bietet.
Ob die Berliner Transformationskonzepte aber am Ende überhaupt zum Zuge kommen, hängt nicht zuletzt davon ab, wieviel Hass bis zu Assads erwartbarem Abgang noch freigesetzt wird. Alle Beteiligten, heißt es, sind sich dessen bewußt.Dass Deutschland sich diesmal aufrichtig bemüht hat, werden sie aber in jedem Fall nicht vergessen.

 

Die Herrschaft der Bärtigen – und die Außenpolitik des Westens

(Ein paar unsystematische Überlegungen zur Lage, mehr Fragen als Antworten…)

Das größte Ereignis in der Außenpolitik dieses Jahres – jedenfalls unter den vorhersehbaren – hängt wahrscheinlich an der Innenpolitik der USA: Obamas Wiederwahl ist nicht so sicher wie mancher glaubt, nicht nur wegen des Konkurrenten Mitt Romney, sondern auch wegen Faktoren wie der höchstrichterlichen Entscheidung über Obamas Gesundheitsreform. Auch das ist schon interessant.
Obama könnte darüber fallen, dass er die Amerikaner zwingen wollte, sich krankenzuversichern. Ob ihm jemand mal eine Bismarck-Biografie reichen könnte?

Zweite Möglichkeit für Obamas Scheitern: Mehr Chaos in Europa nach der griechischen Wahl,  „Grexit“ (Griechenland verläßt den Euro), Ausweitung der Krise auf Spanien und Italien und in der Folge Deutschland. Dies könnte die amerikanische Wirtschaft empfindlich treffen – und damit den Präsidenten. Chancen für Romney, auf einer No-Bailout-Plattform die Wahl zu gewinnen? So eng hängt das alles zusammen, möglicher Weise.

Aber lassen wir die Krise bis nach dem Wochenende beiseite. Zu ein paar klassischen außenpolitischen Themen:
Der Krieg in Afghanistan verliert in Amerika rapide an Rückhalt. Vielleicht beschleunigt sich der Abzug noch einmal, und damit auch die Bewertung: Alles rückt doch immer näher an ein Vietnam-Szenario, bei dem man schnell noch in den letzten Hubschrauber will.
Dieser Krieg haben wir innerlich längst abgehakt, wir haben schon zu viele andere Dinge in der Region auf der Platte. Amerika ist erschöpft und mit sich selbst beschäftigt. Europa dito. Eine Bilanz der Ära des Interventionismus steht aus.

Isolationismus ist keine Alternative – aber wer sagt denn, dass es nur diese beiden Möglichkeiten gibt? Als Dritter Weg erscheint zur Zeit Obamas Kombination aus „Politik der ausgestreckten Hand“ (gegenüber der muslimischen Welt im allgemeinen, anfangs sogar gegenüber Iran, allerdings mit sehr ernüchternden Ergebnissen) bei gleichzeitiger Eskalation von Drohnenkrieg, Cyberwar und Special Ops (→ exit Bin Laden). Allerdings erscheint diese Kombination selbstwidersprüchlich und unglaubwürdig, je härter der Schattenkrieg geführt wird. Der Präsident, der sich im Oval Office die kill list vorlegen lässt mit den schlimmsten Terroristen, die man dann mttels Drohne wegpusten wird – das ist schon eine extrem ambivalente Vorstellung. Allmacht und amerikanischer Abstieg in  einem Bild: Der Präsident kann und will keine Truppen mehr schicken, aber mit einem Federstrich ist er Staatsanwalt, Richter und Henker in einer Person. Bush brachte Terrorverdächtige noch nach Guantanamo, Obama kann Guantanamo nicht schließen und macht nun erst gar keine Gefangenen mehr.

Für Deutschland ist das Ende des Interventionismus eine merkwürdige Entwicklung, schwer zu verdauen: Man hat in Afghanistan einen Krieg geführt, der erst keiner sein durfte.
Dann hat man sich gerade daran gewöhnt, dass es doch einer war, und da ist es auch schon vorbei und die Sache droht zum Volldebakel zu werden. Wir wollen nur noch raus. War alles umsonst?

Außerdem will man sich nun eine Armee geben, die professioneller und einsatzfähiger sein soll, aber das mit immer weniger Mitteln. Und dies in einem Moment, in dem die Einsätze per se fragwürdig geworden sind und wir eigentlich nie wieder irgendwo mitmachen wollen, wenn’s denn nach uns geht. Dazu am Ende mehr.
Was Afghanistan angeht, könnte 2012 bereits zum Jahr der Wahrheit werden, wenn die Franzosen bei ihren Abzugsplänen bleiben.

Aber womöglich werden wir auch durch andere Konflikte so in Atem gehalten werden, dass die Sache einfach so nebenher ausläuft.

Syrien: Ein Szenario, das dieser Tage immerhin wieder möglich scheint: Dass Assad auf Machterhalt setzt und weite Teile des Landes hält, während er in anderen weniger hart durchgreift. Er könnte seine Unterdrückung unter dem Level halten, das eine Intervention irgendwann nötig machen würde. Als Paria würde er sich auf einige bittere Jahre einstellen, nach denen die Welt dann doch wieder mit ihm dealen muss. So wie früher, vor dem Arabischen Frühling. Da die Euphorie für Demokratisierung einstweilen verflogen ist, vielleicht keine undenkbare Vorstellung für die westliche Politik. Voraussetzung dafür wäre, dass er auf den Annan-Friedensplan im Ernst eingeht und nicht nur aus rein taktischen Gründen, was bisher alle Beobachter glauben. Was passiert, wenn er nicht so schlau ist und einfach weiter auf brutalste Methoden setzt, weiß niemand. Klar ist nur, dass es dann in absehbarer Zeit keine Zukunft mehr mit Assad geben kann. Vielleicht ist das jetzt auch schon so. Wahrscheinlich sogar.

Und damit kommt man zu der Kardinalfrage der kommenden Jahre für diese unsere Nachbarschaft:
Islamismus und Demokratie: Geht das zusammen? Und geht es dort, wo es drauf ankommt – in Ägypten, nicht nur im kleinen Tunesien? Was bedeutet es für die Minderheiten im Land, für die Christen des Orients? Droht ihnen nun dasselbe wie einst den Juden, nachdem die Muslimbrüder und Salafisten überall drankommen? Exil für alle, die es schaffen, die es sich leisten können, die im Westen einen Platz finden wie die irakischen Chaldäer, die wir vor Jahren aufgenommen haben?
Was bedeutet die Herrschaft der Bärtigen für die Frauen? Was bedeutet sie für die Geopolitik der Region?
Die Muslimbruderschaft scheint sich nach neuesten Berichten überraschender Weise eher mäßigend auf die Hamas auszuwirken: Heißt das, die neue politische Verantwortung verändert den Islamismus? Das muss man beobachten.
In der Region ist der führende Konflikt nun einer, in dem nicht Israel gegen die Araber steht, sondern ein despotischer Öl-Islamismus sunnitischer oder schiitischer Provenienz (Saudi-Arabien, Iran) gegen einen demokratisch gewählten sunnitischen Islamismus ohne Öl (MB und Salafis in Ägypten, unterstützt von undemokratischen Autokratien wie Katar und Saudiarabien, die Öl und Gas haben). Ein Subtetxt des Syrien-Konflikts liegt darin: der iranisch-schiitische Öl-und Gas-Islamismus, der die Bombe will, wird bedrängt von den sunnistisch-islamistischen Despoten der Arabischen Halbinsel.

Salafisten mischen überall mit und verweisen die MB auf den ungewohnten Platz der „moderaten Kräfte“. Der Kampf zweier, dreier, vieler Islamismen um die Modernetauglichkeit? Ist das das große Thema?
Wie gehen wir mit den an die Macht drängenden Islamisten um? Wollen wir Dialog? Kooperation? Wo sind die Roten Linien? Wir haben kein Konzept, wir wissen nur, dass wir es nicht so machen können wie mit Hamas nach 2006, als wir Bedingungen genannt haben und – als diese nicht erfüllt wurden –, auf Boykott setzten. Ägypten kann man nicht boykottieren wie Gaza.

Spannend wird es auch sein zu sehen, wie die türkischen Islamisten den Aufstieg der Muslimbrüder in der ganzen Region beobachten: Vielleicht bald mit Schrecken? Als Lehrmeister? Als Modell? Das wäre interessant.
Die Arabische Revolution ist auch im zweiten Jahr nach Beginn der Aufstände nicht abgeschlossen. Was in Tunesien mit der Selbstverbrennung eines Obsthändlers begann, hat unterdessen weite Teile der arabischen Welt erfasst: der Aufstand gegen die alten Autoritäten und der Versuch, neue – repräsentativere und volksnähere – an ihre Stelle zu setzen. In Tunesien scheint der Übergang am besten gelungen, obwohl auch hier radikale Islamisten den Freiheitsgewinn bedrohen, der durch die Überwindung der Militärherrschaft möglich wurde. In Bahrain wurde der Aufstand brutal niedergeschlagen, im Jemen musste der langjährige Herrscher Salih immerhin weichen und ein Nachfolger wurde gewählt. Eine Verfassungsreform steht noch aus.

Für den westlichen Beobachter stellen sich drängende Fragen vor allem mit Blick auf die beiden wichtigsten Länder: Syrien und Ägypten. Beide Länder haben auch die größten nichtmuslimischen und innermuslimischen Minderheitengruppen – damit stellt sich in ihnen die Frage nach der Möglichkeit von Dialog und Pluralismus am drängendsten. Ob der Wandel in den arabischen Ländern gelingt, wird sich nicht zuletzt am Schicksal der Minderheiten in Syrien und Ägypten erweisen.

Es scheint unerlässlich, dass auch in Syrien ein Machtwechsel stattfindet. Das Assad-Regime ist diskreditiert, weil es von Beginn auf brutale Gewalt setzte, um die legitimen Forderungen der Opposition zu unterdrücken. Trotzdem bleibt es dank des Militärs vorerst weiter an der Macht – oder wird nur unter hohem Blutzoll von dort zu vertreiben sein. Wie kann in dem konfessionell gespaltenen Land, das von einer Minderheit, den Alawiten, beherrscht wird, eine neue Ordnung gelingen, die dem religiösen Pluralismus der syrischen Gesellschaft Rechnung trägt?
Bei der christlichen Minderheit herrscht Furcht vor einem sunnitisch-theokratischen Regime als Folge eines absehbaren Zusammenbruchs der Assad-Diktatur. Was kann der Westen in dieser Lage beitragen zu einem Übergang ohne Bürgerkrieg und ohne abermalige Intervention in einem weiteren muslimischen Land? Kann die Weltgemeinschaft helfen, die verfeindeten Gruppen nach einem Ende der Diktatur in einen Friedensprozess zu bringen – ähnlich wie auf dem Balkan?

In Ägypten scheint offener als zuvor, was die neue Ordnung für die Renaissance des politischen Islams nach der Rebellion bedeuten wird. Unbestritten ist, dass das Ende des Mubarak-Regimes die Religion als öffentliche Macht, und die religiösen Parteien als ihre Verkörperung, wieder ins Recht gesetzt hat. Die zuvor unterdrückten Bewegungen des politischen Islams genießen verständlicher Weise die höchsten Glaubwürdigkeitswerte, schon weil sie nicht Teil des korrupten Systems waren. Außerdem sind sie sehr viel besser organisiert als die sakulär-liberalen Kräfte, und verfügen über ein Netzwerk von Moscheen. Muslimbrüder und – überraschender noch: Salafisten – teilen sich den Erfolg an der Wahlurne. Sie konkurrieren auch miteinander, und so darf man im islamistischen Lager in Zukunft weitere Debatten, Abspaltungen und Differenzierungen erwarten.
Der Arabische Frühling, der mit dem Protest der Jugend begann, hat tatsächlich die Farbe Grün angenommen, aber es ist das Grün des Propheten. Die spannende Zukunftsfrage ist, wie ein politischer Islam die wichtigste arabische Gesellschaft prägen wird, der nicht auf Sponsoring durch Öl-Geld beruht (also anders als im Iran oder auf der arabischen Halbinsel). Und vor allem: Wieviel Freiraum wird das Militär dieser Entwicklung gewähren? Wird sich Ägypten mehr in Richtung der Türkei oder mehr in Richtung Pakistan entwickeln?

Wird die absehbare weitere Islamisierung der Gesellschaft religiöse Minderheiten und Säkulare an den Rand drängen? Und in Reaktion darauf: Ist religionsübergreifende Zusammenarbeit die Antwort auf die Herausforderung? Oder steht nun eine Phase der Konfessionalisierung und Zersplitterung der arabischen Gesellschaften an, in der Christen (und auch Schiiten und Bahai) nur auf Minderheitenrechte als Bürger zweiter Klasse hoffen können?
Für christliche Minderheiten und ihre Paten im Westen besteht die Gefahr, in die Falle des Konfessionalismus zu tappen. Soll man sich für Minderheitenrechte einsetzen – oder für gleiche Rechte für alle ägyptischen Bürger im Namen des Universalismus?

Was wird aus dem Christentum Nordafrikas? Kann sich Ägypten (mit seiner tourismuslastigen Wirtschaft) stabilisieren, wenn politische Zerreißproben zwischen Militär und Muslimbrüdern, Muslimbrüdern und Salafisten, Säkularisten und Islamisten, Christen und Muslimen drohen? Und wenn in Syrien ein offener Bürgerkrieg ausbrechen sollte, droht dann die Libanonisierung der gesamten Region, der Zerfall in ethnisch-religiös dominierte Instabilität?

Welchen Kompromiss es in Ägypten zwischen den demokratischen Kräften und den Beharrungskräften im alten Regime geben könne, ist weiter offen. Das Militär ist vor allem an der Stabilität des Landes und der Sicherung der eigenen (auch wirtschaftlichen) Ressourcen interessiert. Wie weit darum die Zugeständnisse an die demokratischen Forderungen gehen könnten, wird auch daran hängen, ob das Militär Macht und Einfluß in den neuen Verhältnissen wahren kann.
Aber: Der demokratische Geist ist aus der Flasche, und niemand wird ihn wieder hinein stopfen können. Ob und in welchen Formen er institutionalisiert werden kann, wird wohl erst in einem langen Prozess deutlich werden.

Die Wetten stehen darauf, dass der Nahostkonflikt eingefroren sei. Niemand weiß weiter. Alle denken freilich, dass es so nicht weiter gehen kann. Niemand hat einen Plan. Die Palästinenser sind die großen Verlierer des arabischen Erwachens. Tolle Sache für Netanjahu und Lieberman, die eh nichts machen wollten.
Warum einen unlösbaren Konflikt anpacken? Obama ist gelähmt bis November, er kann nur verlieren, wenn er nun wieder mit dem Thema Siedlungen und Verhandlungen käme. Das Thema Iran ist doch viel wichtiger zur Zeit.
So offensichtlich das scheint, ich habe den Verdacht, dass diese Politik der Vermeidung bald auffliegen wird. Sie hängt an der Fiktion einer Machbarkeit der „Zweistaatenlösung“: Wenn nur erst Obama wiedergewählt ist! Wenn nur erst die palästinensische Versöhnung vorankommt! Wenn nur erst das Iranproblem gelöst ist! Wenn Ägypten einen Präsidenten hat, wenn die Lage in Syrien klarer ist, wenn die Palästinenser gewählt haben, wenn die UNO Vollversammlung über die Mitgliedschaft Palästinas befunden haben wird… Wenn, wenn, wenn.

Währenddessen sagen viele, dass die Zeit für eine Zweistaatenlösung längst vorbei ist und die Welt daran eigentlich nur noch festhält aus horror vacui. Was sonst hätte man anzubieten?
Es gibt aber unterdessen glaubhafte Stimmen, die sagen, man müsse endlich von dieser Fiktion Abschied nehmen, weil sie eigentlich nur dafür sorgt, dass alles immer so weiter gehen kann.
Wir stellen die Sache meistens so da, dass es die Wahl zwischen Ein- und Zweistaatenlösung gebe. Die Einstaatenlösung wäre dabei synonym mit dem Ende Israels als demokratischer und jüdischer Staat, weil die Demographie der arabischen Bevölkerung eine Mehrheit verleihen würde. Manche Verteidiger der Einstaatenlösung streben dieses Ziel ganz offen an, die meisten tun es etwas oberschlau heimlich, wohl wissend, was die Konsequenzen wären, wenn ihre Wünsche wahr würden. Das gilt für weite Teile der Boykott- und Sanktionsbewegung. Sie wollen Israel abschaffen, in einem demokratischen Mehrheitspalästina auflösen.

Die Zweistaatenlösung hingegen, das bedeutet – Rückzug Israels aus der Westbank, Abzug der meisten Siedler hinter die “Grüne Linie”, Austausch von Gebieten im Ausgleich für die verbleibenden Siedlungen, Entmilitarisierung des palästinensischen Staates, Teilung Jerusalems in zwei Hauptstädte für zwei Völker, Rückkehr einer symbolischen Zahl von Flüchtlingen und globale Entschädigung für den Rest; im Gegenzug dafür sofortige Anerkennung Israels durch 57 arabische und islamische Staaten wie in der arabischen Initiative festgelegt. Sie gilt in der offiziellen Politik Israels und in der gesamten internationalen Community als einzige gangbare Möglichkeit, Israel langfristig als jüdischen und demokratischen Staat zu erhalten.
Wenn es aber so ist, wie die Vertreter der Zweistaatenlösung behaupten, dass nur sie das Überleben eines demokratischen jüdischen Staates garantieren kann, dann muss man sich die Frage stellen, warum sie bloß so halbherzig verfolgt wird. In Wahrheit geht die Entwicklung “am Boden” immer mehr in die Richtung einer Einstaatenlösung. Seit dem Oslo-Prozess, der eigentlich das Ende der Siedlungstätigkeit einläuten und die palästinensische Souveränität vorbereiten sollte, ist die Population in den besetzten Gebieten um das Zweieinhalbfache gewachsen. Es wächst schon die dritte Generation heran, die als Besatzer geboren wurde. Und auf der anderen Seite die dritte Generation von Palästinensern unter der Besatzung. “Temporär” ist das nicht.
Es wird, glauben selbst ihre Anhänger, keine Zweistaatenlösung geben. Warum?
Weil es einen Bürgerkrieg in Israel heraufbeschwören würde, die Siedlungen zu räumen; weil Israel zur Zeit (vom Iran-Problem abgesehen) eine Phase der Sicherheit, Prosperität und Stabilität durchläuft; weil Israel seiner gesamten Umgebung (die derzeit eine unabsehbare Phase von Revolte und Umbruch durchmacht) so weithin überlegen ist wie noch nie zuvor (von Iran abgesehen, aber vielleicht auch in dieser Hinsicht); weil die diplomatischen Kosten der Besatzung noch nie so gering waren wie heute; weil die palästinensische Führung gespalten und geschwächt ist und das Thema “Palästina” die Araber nicht mehr vordringlich beschäftigt; weil es in Israel aus allen diesen Gründen kein politikfähiges Friedenslager mehr gibt; weil die kontinuierliche Entwicklung der israelischen Gesellschaft hin zu einer konservativeren und religiöseren politischen Identität die Institutionen bis ins Militär hinein verändert hat. Aus all diesen Gründen ist der Status Quo (keine schöne, aber) die optimale Option für das Land. Die überragende Popularität von Netanjahu ist der Ausdruck dieser Lage, sein breite parlamentarische Mehrheit, sein Kabinett der nationalen Einheit inklusive Kadima macht es ihm möglich, weiterhin nichts zu tun.
Ich habe den Eindruck, dass auch in dieser Hinsicht dieses Jahr ein Jahr der Wahrheit werden könnte.
Das Jahr, in dem die Fiktion eines verhandelten Friedens offenbar wird. Was dann? Alle zittern vor diesem Moment.

Vom unwahrscheinlichen Frieden noch schnell zum wahrscheinlichen Krieg: Krieg mit Iran?
Das hängt nun sehr von Iran selber ab. Gespräche über das Atomprogramm haben begonnen. Zur Zeit sind sie schon wieder in einer Krise. Wenn Iran sich abermals stur stellt oder nur allgemein rumquatscht wie letztes Mal, dann könnte die Diplomatie scheitern. Diesmal wäre das ernst, denn die Sanktionsmöglichkeiten sind nahezu ausgereizt. Eine Eskalation wäre dann kaum noch zu verhindern.
Für die beteiligten 5+1 heißt das umgekehrt: Sie müssen in den Verhandlungen scharf genug sein, um beim Iran eine Verhaltensänderung zu mehr Transparenz zu bewirken. Und wenn sie zu scharf sind und das ganze auf eine öffentliche Demütigung Irans rausliefe (in den Augen des Irans, und da geht das schnell), dann könnten sie eine Logik auslösen, nach der Iran sich nur zurückziehen kann: Denn dort sind im kommenden Jahr Präsidentschaftswahlen, und da kann sich keiner der Kandidaten leisten, sich gegenüber den „Mächten der Arroganz“ nachgiebig zu zeigen.
Israel wird das alles beobachten. Die Stimmung im Land ist widersprüchlich: Nur ein Drittel ist dafür, alleine loszuschlagen. Aber vor die Alternative gestellt, mit der iranischen Bombe zu leben oder einen Krieg zu riskieren, sind zwei Drittel zum Krieg bereit.
Diejenigen, die einen Krieg für wahrscheinlich halten, rechnen im letzten Jahresviertel damit.
Deutschland müsste dann noch einmal die Frage beantworten, was „Staatsräson“ eigentlich genau bedeutet.

 

Der Westen braucht mehr Antiwestlertum

Zur Zeit habe ich das Gefühl, dass unsere Weltwahrnehmung hier im Westen eine starke Dosis Antiwestlertum gut gebrauchen könnte, als Antidot für eine um sich greifende Selbstgerechtigkeit mitten in der Krise.

Warum geht vor meinem geistigen Auge das Bullshit-Licht an, wenn ich höre, dass die NATO das erfolgreichste Bündnis der Geschichte ist (wie es etwa der Verteidigungsminister de Maizière in der ZEIT letzte Woche sagte, und wie es auf dem NATO-Gipfel in Chicago jeder Redner wiederholte)?

Es stimmt doch wohl, wenn man an den Kalten Krieg und seine Überwindung denkt, die Ostausdehnung des Bündnisses und die dadurch beförderte Wiedervereinigung Europas? Ja, schon, aber das Problem ist der heutige, aktuelle Kontext der Äußerungen. Gegen die Gurkentruppe des Diktators Gaddafi konnte das Bündnis im letzten Jahr nur mit Mühe den Offenbarungseid vermeiden. Wenn die Amerikaner nicht die Präzisionsmunition herübergeschoben hätten, wäre die Sache peinlich geendet.
In Afghanistan hat unterdessen der Sprint zum Ausgang begonnen. Niederländer und Franzosen haben genug und gehen vor den verabredeten Fristen raus. Letzte Woche versuchten deutsche Diplomaten diesen Umstand schön zu reden, indem sie darauf hinwiesen, die Franzosen seien nicht mehr so wichtig, und in der betreffenden Provinz sei darum ohne Komplikation eine frühere Übergabe möglich.
Wirklich? Schon der Abgang Ende 2014 war westlichen Nöten geschuldet, nicht dem Fortschritt bei der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte (die immer wieder auf ihre Partner und Ausbilder schießen).
Nach dem 11. September glaubte die NATO ihre postsowjetische Sinnkrise gelöst zu haben. Der neue Feind des internationalen dschihadistischen Terrorismus, der sich in scheiternden Staaten wie Afghanistan, Somalia und Jemen einnistete, machte die Sinnfrage obsolet. Aber die NATO hat durch den Antiterrorkampf eben doch nicht zueinander gefunden. Von Anfang bis Ende gab es Streit um die Mandate und um das Commitment der einzelnen Partner, wie es sich in dem amerikanischen Witz ausdrückt, ISAF bedeute in Wahrheit „I saw Americans fighting“. Und selbst wenn es unter den Alliierten harmonischer abgelaufen wäre – das große Projekt Afghanistan wäre auch dann gescheitert. Seit Jahren schon erlebe ich in den Briefings deutscher Beteiligter eine permanente Reduktion der Erwartungen beim Nationbuilding. Vielleicht ist das richtig so: Wir erwarten heute nichts mehr als Stabilität (wenn es schon zu Demokratie und Menschenrechten nicht reicht), das Ausbleiben allzu krasser Menschenrechtsverletzungen (die eine erneute Intervention erzwingen könnten) und den Verzicht auf aggressive terroristische Übergriffe nach außen (während wir die Integration der Taliban in die Regierung unter der Überschrift „nationale Versöhnung“ begrüßen würden).
Die NATO wird sich fragen (lassen müssen), ob dafür ein 12jähriger Krieg inklusive Besatzung nötig war, oder ob man die gewünschten Ergebnisse im Antiterrorkampf nicht auch durch gezielte Luftangriffe, Drohnenkrieg und Spezialoperationen hätte erreichen können.

Die Wahrheit ist, die NATO ist ausgepowert und müde und noch weniger im Klaren über ihre Existenzberechtigung als nach dem Fall des Kommunismus. Was die Mitgliedstaaten in Wahrheit von ihrem Bündnis halten, drückt sich nicht in den frommen Gipfelkommuniqués, sondern in den Militärbudgets aus, und die schrumpfen immer weiter. Schlecht muss das ja nicht einmal sein: Wir haben keine Feinde mehr, die man mit den Mitteln bekämpfen könnte, die die NATO hat.

Aber es fehlt der Mut, das auch zu sagen. Statt dessen wird in eine Raketenabwehr investiert, die uns ab 2020 vor den Raketen von Iran und Nordkorea schützen soll.
Mir kommt das ein wenig bizarr vor. Zwei der weltweit am meisten verachteten und isolierten Staaten, zwei Staaten, die keine Zukunft haben, inspirieren uns zu einem militärtechnischen Großprojekt von stellaren Ausmaßen? Sind wir denn sicher, dass es beide Länder in der jetzigen Herrschaftsform noch gibt im Jahr 2020? Soeben wurde gezeigt, dass Nordkorea Pappkameraden als Raketen auf seinen Militärparaden mitführt, und wir sollen uns vor den nordkoreanischen Interkontinentalraketen des Jahres 2020 fürchten? Mir fällt es schwer.
Iran steht dank der neuen Sanktionen vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Das Land hat keine Entwicklungsperspektive außerhalb des Verkaufs seiner Gasreserven, ein riesiger Youthbulge drückt auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung. Das Regime ist ideologisch entleert durch drei Jahrzehnte islamistischer Terrorherrschaft und zu Recht verhasst bei den eigenen Leuten, und in der Region entstehen demokratisch-sunnitisch-islamistische Alternativen von der Türkei bis Tunesien. Syrien ist fast verloren, der letzte Freund in der Region; die Türkei hat man im Streit um Syrien bereits verloren – und wir rüsten gegen iranische Raketen? I am not convinced.

Dass die Russen die Begründungen für unseren Raketenschirm für Bullshit halten, kann ich ihnen nachfühlen, auch wenn es nicht plausibel scheint, dass er gegen das immer noch riesige russische Arsenal einen Schutz bieten könnte, wie die Russen ihrerseits suggerieren. Wofür aber brauchen wir ihn dann überhaupt? Damit die NATO ein neues Projekt hat?

Wenn es nach einem 12 Jahre währenden, tausende Menschenleben und Abermilliarden Euro kostenden Unternehmen heißt, dem Bündnis gehe es prima, dann ist das wohl exakt, was der singapurische Diplomat und Politologe Kishore Mahbubani „western groupthink“ nennt – kollektives Schönreden. Mahbubani ist einer der wenigen, die das westliche Selbstbestätigungsdenken herausfordern. Wir sollten mehr auf solche Stimmen hören statt uns selber auf die Schultern zu klopfen.

 

Daniel Barenboim ist auch eine solche Stimme. Als ich ihn Ende Februar zusammen mit einer Kollegin interviewte, sagte er einen Satz, der mir in Erinnerung geblieben ist: „Glauben Sie vielleicht, dass sich China in zwei, drei Jahrzehnten auch so für Israel in die Bresche werfen wird wie die Vereinigten Staaten es heute tun?“ Das war in dem Zusammenhang gesagt, dass die Chancen für eine Zweistaatenlösung dahinschwinden, wenn der Siedlungsbau und die Besatzungspolitik einfach immer weiter gehen. Nicht nur das Abtreten einer Generation kompromissbereiter Palästinenserführer wird die Sache für Israel verkomplizieren, sondern auch der Wandel des internationalen Umfelds. Wenn Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien mehr Mitsprache in internationalen Foren bekommen, wird die Luft für Israel wahrscheinlich dünner.

Mahbubani hat über den Wandel und seine Folgen für die Wahrnehmung – den Wandel durch die Krise des Westens und den Aufstieg des Rests – vor einem Monat eine Kolumne in der Financial Times geschrieben (hier noch zu finden), die sich mir eingeprägt hat: „The West must work to understand a new world order“.

An drei Beispielen geht er die westliche Selbsttäuschung durch. Es sei falsch, schreibt er, dass der Westen sich im Konflikt mit Iran als Partei des Guten verstehe, die gegen das Böse auftrete. Westliches Gruppendenken suggeriere, dass der Westen offen und ehrlich operiere, während der Iran lügnerisch und hinterhältig vorgehe. Immer noch sei nicht klar, warum der Westen den Deal ausgeschlagen habe, den die Türkei und Brasilien vermittelten (bei dem nukleares Material im Ausland angereichert werden sollte). Nur um nun in der aktuellen Runde einen ähnlichen Deal selber wieder anzubieten? Wenn es zum Militärschlag gegen den Iran käme, weil Verhandlungen scheitern, wäre das ein Disaster für den Westen, das eine neue Periode des Hasses und Misstrauens einläuten werde – so wie 1953 der vom Westen inspirierte Coup gegen Mossadegh, von dem sich das Verhältnis bis heute nicht erholt habe. Ein erheblicher Teil der Welt kann das Mißtrauen, dass sich aus dieser Intervention ergibt, einer Art Ursünde neokolonialer westlicher Politik nach dem Weltkrieg, sehr gut nachvollziehen und sieht den Westen nicht als Ritter in glänzender Rüstung, ohne mit dem islamistischen Regime in Teheran zu sympathisieren.
Der zweite Fall ist Nordkorea nach der Machtübergabe an den Sohn. Dort wurde unter Riesenpomp eine Rakete abgefeuert, die angeblich einen Satelliten ins All tragen sollte. Es kam zu einem schmählichen Versagen, die Rakete fiel vom Himmel und verlöschte im Meer. Der Westen beantwortete diese Provokation mit der Ankündigung von abermals schärferen Sanktionen gegen das ohnehin isolierte Land. Was unter den Tisch fiel, schreibt Mahbubani, ist die erstaunliche Tatasache, dass das Regime erstmals öffentlich Fehler eingestanden hatte, im Staastfernsehen, gleich nach dem Absturz. Die göttliche Dynastie hatte ihre Fehlbarkeit eingestanden – ein großer Schritt zur Normalisierung. Im Westen aber schaute keiner hin.
Dritter Fall: Myanmar. Der Westen brüstet sich, durch Sanktionen das Regime auf die Knie gezwungen zu haben. Westliche Politiker reisen nach Myanmar, um sich mit Aung San Suu Kyi fotografieren zu lassen. Mahbubani sagt, diese Story ist schön, aber falsch. Nicht die westliche Sanktionspolitik (allein), sondern vor allem das Engagement der ASEAN-Staaten hat die Lage verändert. Wirtschaftliche und politische Öffnung von Myanmar wurden in tausenden Treffen des Regimes mit ASEAN-Staaten möglich gemacht. Die Generäle kamen herum und mussten feststellen, dass ihr Land immer weiter zurückzufallen drohte. ASEAN ermutigte sie zum Wandel. Die westlichen Medien, schreibt Mahbubani, ignorierten diesen Teil der Realität:

„Die selbstgerechte Erzählung des Westens kann die komplexe neue Welt nicht verstehen, die vor unseren Augen entsteht, während der Westen darniederliegt.“