Die israelische Linke freut sich, und die Kommentatoren im Ausland stimmen ein: Israel „rückt nicht nach rechts, sondern zurück in die Mitte“ – das soll das Wahlergebnis vom Dienstagabend bedeuten. So werden die Verluste von Netanjahu und Lieberman, die Gewinne von Yair Lapids neuer „Zukunftspartei“, das zwar sehr gute, aber nicht überwältigende Abschneiden von Naftali Bennetts Nationalreligiösen und die Zugewinne der linken Meretz zusammengefasst.
Die politischen Lager, so zeigen es die Grafiken, liegen äußerst knapp beieinander. Netanjahu wird wahrscheinlich mit der Regierungsbildung beauftragt, aber: Statt eines „Rechtsrucks“ triumphieren die „Moderaten“, also steigen die Chancen auf eine diplomatische Lösung des Iran-Konflikts und einer friedlichen Einigung mit den Palästinensern.
Wirklich? Ich habe das Gefühl, dass diese Deutung des Ergebnisses mehr über die Frustration und die Wünsche des Mitte-Links-Lagers aussagt als über die reale Lage.
Bis auf weiteres scheint mir alles dagegen zu sprechen. Ob und wie der Iran-Konflikt eskaliert, liegt sehr viel weniger in der Hand der israelischen Politik als diese gerne suggeriert. Iran war bezeichnender Weise kein Thema bei diesen Wahlen, also ist das Wahlergebnis auch kein Votum dazu.
Neue, substantielle Verhandlungen mit den Palästinensern sind keineswegs wahrscheinlicher geworden. Der Überraschunsgssieger Lapid hat bewusst kaum etwas zum Thema Palästina gesagt. Die Vermeidung dieses Themas ist ja ein erheblicher Teil seines Erfolgs. Was er gesagt hat, liegt auf der Linie des Mainstreams, der nicht mehr an eine diplomatische Lösung glaubt, ohne eine Alternative zu haben.
Er hat sich zwar im Prinzip für Verhandlungen ausgesprochen und für eine Trennung von den Palästinensern. Er hat Netanjahu kritisiert, wenn jener sagte, es „gebe keinen Partner“. Aber dann hat er auch selbst gesagt, „die Palästinenser wollen keinen Frieden“. Jerusalem zu teilen komme nicht infrage. Ebenso werde es kein Rückkehrrecht geben. Und die großen Siedlungsblöcke würden auf jeden Fall bei Israel bleiben. Seine außenpolitische Rede hat er bezeichnender Weise in der Siedlung Ariel in der Westbank gehalten – ein Kotau vor den Siedlern, die er „gute Leute“ nannte. Lapid hat schlichtweg kein Programm zu diesem Thema, das über Gemeinplätze hinausgeht. Alles was er sagt, läuft in der Konsequenz maximal auf eine Besatzung mit menschlichem Gesicht hinaus. Dass er so großen Erfolg hatte zeigt, wie wenig wichtig dem Publikum die Palästinafrage geworden ist.
Lapids eigentliches Thema war die Belastung der säkularen Mittelklasse durch Wohnungs- und Nahrungspreise, hohe Steuern und die als ungerecht empfundenen Ausnahmeregelungen für die Ultraorthodoxen (beim Militärdienst und bei den staatlichen Subventionen). So konnte er einen Teil des Geistes der Proteste von 2011 auffangen, bei denen es ja auch ausschließlich um innenpolitische Gerechtigkeitsfragen gegangen war.
Für Netanjahu ist es eigentlich sehr willkommen, wenn er seine Koalition mit jemand anreichern kann, der etwas softer rüberkommt und einen Sinn für die sozialen Beschwernisse der Mittelklasse hat. So bleibt ihm mehr Zeit, sich selbst weiter um die harten Themen zu kümmern: Iran, Siedlungen, Palästina. Soll Lapid ruhig neue Verhandlungen anmahmen, weil das in den Augen der Welt nötig ist, um Israels drohende Isolation zu verhindern: Nichts spricht angesichts von Lapids Liste der Vorbedingungen (Jerusalem, Rückkehrrecht, Siedlungsblöcke) dafür, dass solche Verhandlungen etwas bringen könnten. Für Netanjahu wäre dies entlastend: Dann kann die Welt nicht mehr sagen, es habe an seinem Unwillen gelegen.
Verhandlungen waren für alle israelischen Regierungen (egal welcher Richtung) der letzten beiden Jahrzehnte kein Hindernis beim Siedlungsbau. Im Gegenteil, die Zahlen zeigen, dass seit Oslo das Wachstum der Siedlungen unvermindert oder gar beschleunigt voranging. Lapid wird allerhöchstens das Wachstum in den Outposts eingrenzen, zum „natürlichen Wachstum“ der großen Blöcke hat er sich schon bekannt.
Auf der Seite der Palästinenser wird sich im übrigen auch nichts zum besseren wenden: Der Verfall der PA schreitet voran, und wenn es tatsächlich einmal eine „Versöhnung“ der Fatah mit der Hamas gibt, wird auch dies gegen Verhandlungen sprechen. Die PA scheint unterdessen entschlossen, unilaterale Schritte weiter zu verfolgen: Sie hat angekündigt, wegen des E1-Projekts vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu ziehen. Bekanntlich teile ich die Kritik an dem E1-Projekt. Trotzdem sehe ich der Ersetzung von Diplomatie durch „Lawfare“ mit einem gewissen Grausen entgegen.
Ich würde mich freuen, von der Ereignissen eines besseren belehrt zu werden. Aber dieses Wahlergebnis verstärkt meinen Pessimismus. Eine TV-Celebrity ohne die geringste politische Erfahrung kommt im Stand von Null auf 19 Knesset-Sitze: Das spricht für großen Frust angesichts der etablierten Parteien. Und darüber hinaus erst einmal für: nichts. Für Netanjahu muss das nicht schlecht sein. Die Nachrufe scheinen mir verfrüht. Er ist der letzte erfahrene Politiker auf der Bühne, weder Lapid noch Bennett können ihm das Wasser reichen.
Ein forscher Radikalinski mit einem New-Economy-Hintergrund wie Bennett stemmt seine nationalreligiöse Partei von 7 auf 12 Sitze (unter Soldaten hat er offenbar auch gut abgeschnitten): Das ist das gleich post-politische Phänomen wie Lapid, nur mit anderem politischem Geschmack.
Die linksgrüne Meretz-Partei feiert nun, dass sie sechs Sitze bekommen wird, was eine Verdoppelung bedeutet. Das sind kaum fünf Prozent: Ich weiß nicht, was daran zu feiern ist.
Tzipi Livni, deren Kadima einmal über 28 Sitze verfügte und damit nichts anzufangen wußte, freut sich nun über 6 Sitze.
Die Arbeitspartei hat immerhin 15, aber es interessiert niemanden, weil sie sich durch programmatische Feigheit vor der Wahl irrelevant gemacht hat.
Die ganze Idee, Israels politische Landschaft sei in der Mitte geteilt, ist wishful thinking des linksliberalen Establishments, das nicht erkennen will, wie der Wandel es immer mehr an den Rand drängt.
Lapid selbst ist alles andere als ein Linker, er ist ein postideologischer Wohlfühl-Kandidat, der alle harten Fragen vermeidet, und sein einziges Gerechtigkeitsthema betrifft die Umverteilung zwischen Säkularen und Ultraorthodoxen.
Das ganze Blockdenken ist illusionär, was sich schon daran zeigt, dass der „Linken“ dabei die arabischen, antizionistischen Parteien (11 Sitze) zugeschlagen werden, die niemals Teil einer Regierungskoalition werden können.
Der Schwerpunkt der israelischen Politik liegt heute sehr weit „rechts“, wenn dieser Begriff überhaupt noch Sinn hat (weil es eine relevante Linke nicht mehr gibt): Likud-Beitenu ist durch eine innere Revolte stark dominiert von extremen Kräften, und Bennetts Partei bewegt sich noch weiter „rechts“ von diesen. Im Kern der wahrscheinlichsten neuen Regierungskoalition werden diejenigen das Sagen haben, deren erstes Ziel die Verhinderung einer Zwei-Staaten-Lösung ist, weil sie sie für schädlich halten.
Ob ein Lapid daran etwas ändern kann und ob er das überhaupt will, scheint mir fraglich.