Beschneidungsverbot und die Zukunft des Judentums in Deutschland

Wer immer noch nicht glauben will, was ich hier verschiedentlich versucht habe auszudrücken, lese in der Süddeutschen den Text von Charlotte Knobloch, der ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland. Es ist ein Paukenschlag. Die 79jährige Knobloch ist heute an einem Punkt, an dem ihr Vorgänger Bubis auch kurz vor seinem  Tode angelangt war. Damals sagte Bubis, den die Debatte um Martin Walsers Paulskirchenrede erschüttert hatte, er wolle nicht in Deutschland begraben werden. Die Öffentlichkeit war schockiert und fragte sich: Was hat er bloß? Warum ist er so empfindlich?
Hoffentlich stellen sich nach diesem Text auch einige Leute solche Fragen, denn die Lage ist bedrohlich.

Charlotte Knobloch hat als Überlebende des Holocaust jahrzehntelang ihr Bleiben in Deutschland rechtfertigen müssen, und sie hat es guten Gewissens getan. Jetzt gehen ihr angesichts der Beschneidungsdebatte die Argumente aus und sie fragt die Deutschen: „Wollt ihr uns Juden noch?“

Die Frage ist berechtigt:

Wir rechtfertigen und erläutern die deutsche Mentalität gegenüber unseren Familien und Freunden im Ausland. Seit Jahrzehnten erklären wir, warum es trotzdem nicht nur richtig, sondern auch gut ist, in diesem Land zu leben, wir tun das selbst dann noch, wenn in Deutschland Rabbiner oder als Juden erkennbare Juden angepöbelt und krankenhausreif geschlagen werden. Beinahe mein ganzes Leben lang war und bin ich der Kritik der restlichen jüdischen Welt ausgesetzt. Seit sechs Jahrzehnten muss ich mich rechtfertigen, weil ich in Deutschland geblieben bin – als Überbleibsel einer zerstörten Welt, als Schaf unter Wölfen.

Ich habe diese Last immer gerne getragen, weil ich der festen Überzeugung war, dass es dieses Land und seine Menschen verdient haben. Erstmals geraten nun meine Grundfesten ins Wanken. Erstmals spüre ich Resignation in mir. Ich frage mich ernsthaft, ob dieses Land uns noch haben will. Ich frage mich, ob die unzähligen Besserwisser aus Medizin, Rechtswissenschaft, Psychologie oder Politik, die ungehemmt über ‚Kinderquälerei‘ und ‚Traumata‘ schwadronieren, sich überhaupt darüber im Klaren sind, dass sie damit nebenbei die ohnedies verschwindend kleine jüdische Existenz in Deutschland infrage stellen. Eine Situation, wie wir sie seit 1945 hierzulande nicht erlebt haben.“

Für Juden in Deutschland sind diese Wochen ein Alptraum, wie ich aus verschiedenen Gesprächen weiß. Die wollen euch nicht, die machen eure Religion runter, sie werden jüdisches Leben unmöglich machen oder jedenfalls so unsicher, dass ihr es nicht mehr aushaltet. Das bekommt man von Freunden im Ausland zu hören, und das denkt man in dunklen Stunden auch selbst. Deutsche Juden dachten, sie hätten die Situation hinter sich, die Charlotte Knobloch beschreibt: Die dauernde Not, sich für sein Leben hier zu rechtfertigen. Nun sind sie wieder bei Null.

Und die Besserwisser hören nicht auf. Sie haben es schon geschafft, dass weite Teile der deutschen Öffentlichkeit ein Ritual, das eine Feier des Lebens und des Bundes mit Gott ist – ein symbolischer Ersatz des Sohnesopfers – wahrnimmt als brutales archaisches Sohnesopfer. Die Deutschen, die sich von ihrer Verfallenheit an einen neuheidnischen politischen Todeskult (inklusive Kindestötung an „unwertem Leben“, denn das 5. Gebot wurde ja vom NS (korrekt!) als „jüdische Erfindung“ zurückgewiesen)  noch immer nicht erholt haben, von einem Todeskult, der den Judenmord zu einer quasireligiösen Erlösungstat erhob – diese Deutschen beziehunsgweise ihre Nachkommen beugen sich heute voller Mißachtung über einen  zentralen Ritus des Judentums, der die Heiligkeit des Lebens begründet und markiert. Das ist ein Bruch. Das ist schlimmer als die Walser-Debatte. Die ganze angebliche Renaissance jüdischen Lebens in Deutschland, von der auch ich in den letzten 15 Jahren immer berichtet habe, mit ihren Synagogeneröffnungen und neuen Rabbinerseminaren – sie steht zur Disposition.

Es ist eine perverse Traumlogik zugange: Die Entwertung der jüdischen Religion, diesmal nicht im Zeichen des rassistischen Antisemitismus, sondern im Zeichen der Aufklärung und der Menschenwürde. Endlich kann man den Juden am Zeug flicken, ohne sich dem Verdacht des Antisemitismus auszusetzen, denn es geht ja um den Kinderschutz, hier verstanden als Schutz jüdischer Kinder vor den Juden. Sollten die Juden da nicht mitmachen und auf ihrem Bundeszeichen bestehen, dann haben sie keine Zukunft unter den aufgeklärten Menschenrechtsschützern in Deutschland. Der ehemalige Oberrabiner Israels hat das zutreffend sarkastisch kommentiert, es sei etwas Neues für ihn, dass die Schmerzen jüdischer Kinder Deutschen etwas bedeuten. Zur Zeit seiner Jugend sei das nicht so gewesen.

So weit sind wir gekommen, dass das mühsam wieder erarbeitete Vertrauen der Juden in Deutschland gefährdet ist. Ich war letzte Woche in Israel unterwegs und habe viele Gespräch geführt. Immer wieder kam die Frage: „Was ist mit euch los?“ Ich habe keine beruhigenden Antworten anbieten können. Selbst Menschen, die der Beschneidung kritisch gegenüber stehen, sind aufgebracht durch eine gefühls- und gedankenlose Debatte. Sollte Beschneidung in Deutschland kriminalisiert werden, wäre dies das Ende jüdischen Lebens in Deutschland. Das sagen selbst Leute, die Verständnis für die kleine Minderheit von Juden hat, die ihren Söhne  nicht beschneiden lässt.

In Jerusalem habe ich angefangen, Simon Sebag Montefiores Biografie dieser Stadt zu lesen, ein monumentales und fesselndes Werk, das Schicht um Schicht unter den Steinen freilegt. Immer wieder wurde Jerusalem von den Feinden der Juden angegriffen, oft mit Erfolg. Beim Versuch, das Judentum auszulöschen, spielte der Brauch der Beschneidung als Zeichen des Bundes immer wieder eine zentrale Rolle. Zigtausende sind dafür gestorben, an diesem Zeichen festzuhalten. Das Judentum als Religion der Opferüberwindung und des Lebensschutzes hat sich dies auch trotz großer Opfer nicht nehmen lassen. Wer damit jetzt im Zeichen des Kinderschutzes Schluss machen will, sollte sich über die Konsequenzen klar sein.

 

 

Worum es (mir) in der Beschneidungsdebatte geht

Noch ein paar unsystematische Gedanken zu einer längst nicht abgeschlossenen Debatte:

Wer sich gegen das Verbot eines elementaren Rituals ausspricht, sieht sich dieser Tage leicht als „religiöser Eiferer“ angegriffen, wie ein bekannt und bekennend agnostischer Kollege mir erstaunt erzählte, der das Kölner Urteil in einem Artikel kritisiert hatte. Er hatte noch nie so viele wütende Leserbriefe bekommen.

Vielleicht muss man das noch einmal klarstellen: Das Recht auf die religiös begründete (Vorhaut-)Beschneidung zu verteidigen bedeutet nicht, diese Praxis für „gut“ oder gar „für alle Zeiten bindend“ zu erklären. In meinem persönlichen Fall möchte ich in Anspruch nehmen, dass meine Haltung zu diesem Brauch (würde ich es durchführen lassen, bin ich selber beschnitten – ja, dergleichen wird derzeit gerne erfragt) absolut irrelevant für meine Position ist. Es kommt darauf an, ob man erstens die Sache als schädlich für die Betroffenen betrachtet und ob man anderen Leuten abnimmt, dass es für sie ein wichtiges, unverzichtbares Ritual ist, eine Glaubenspflicht. Erstes ist m.E. nicht der Fall (Komplikationen notwithstanding), zweites ist der Fall, und darum glaube ich, dass die Knabenbeschneidung weiter erlaubt sein soll.

Darf der Gesetzgeber dabei Vorgaben machen? Natürlich. Darf er es verbieten, wie manche fordern: Nein.

Es ist völlig legtitim, ja es ist begrüßenswert, wenn nun Menschen, die sich durch die Beschneidung geschädigt fühlen, das Wort ergreifen. Das gilt für Stimmen wie den hier in Kommentaren bereits zitierten Ali Utlu, der das Ritual als schmerzhafte Demütigung erinnert und von Beeinträchtigungen danach spricht. Und es gilt auch für Eltern – muslimische, aber auch jüdische – die das Ritual als Belastung empfinden und es ihren Söhnen am liebsten ersparen wollen. Necla Kelek hat damit in der muslimischen Community angefangen, ich hatte in meinem ersten Beitrag darauf hingewiesen, und für die jüdische Seite lässt sich auch feststellen, dass es bei nicht-traditionalistisch lebenden jungen Leuten oft Unbehagen gibt und einen Wunsch nach neuen Lösungen. Die Darstellung eines solchen Gewissenskonflikts markiert übrigens das Ende meiner letzten größeren Reportage über Juden in Deutschland.

Was mich nach wie vor, oder sagen wir lieber, jeden Tag mehr, entsetzt ist die Unfähigkeit oder wenigstens der Unwille weiter Teile der Debattierenden, diese beiden Elemente zusammenzudenken: Respekt für Religionsfreiheit UND Offenheit für Bedenken, Änderungswünsche, Klagen. Warum soll das nicht zusammen möglich sein? Es ist, glaube ich, NUR in Kombination machbar. Nur wer sich nicht kriminalisiert fühlt, wird offen debattieren können.

Statt dessen erleben wir Tag für Tag, dass die Beschneidung als „barbarisches Ritual“ in Kommentaren und Leitartikeln vorgeführt wird. Den einsamen Höhepunkt hat für mich Volker Zastrow von der FAS erreicht, der es schaffte, auf subtile Weise Beschneidung in einen Zusammenhang mit Pädophilie und Kindesmißbrauch zu rücken. Dass es das Gleiche sei, sagt er zwar nicht rundheraus, aber dass, wer sich gegen diese Formen „sexueller Gewalt“ wende, eben auch die Beschneidung verbieten müsse, ist die Pointe des Leitartikels.

So sehen sich nun Beschnittene mit einer Kampagne konfrontiert, die sie zu einer neuen Opfergruppe definieren will. Wer nicht einsehen will, dass er traumatisiert ist, wie etwa Hanno Loewy hier in der „Jüdischen Allegemeinen“, für den stehen Kronzeugen der Anklage bereit, die das Gegenteil bezeugen. Wer dann noch verstockt darauf besteht, er sei zufrieden mit seinem in den Augen der Mehrheit verstümmelten Penis, bestätigt damit nur, wie tief das Trauma sitzen muss.

Die Orgasmusfähigkeit ganzer Bevölkerungsgruppen wird in Abrede gestellt, und kaum einer findet das schräg. Ich muss dieser Tage viel an Tisa Farrows unsterblichen Satz in Woody Allens „Manhattan“ denken: „Ich hatte endlich einen Orgasmus, aber mein Doktor sagt, es sei der falsche.“ So geht es heute Juden und Muslimen: Da stehen sie mit ihren unbemützten Schlongs, und der wohlmeinende Doktor beugt sich drüber: Tut uns leid, mag sein, dass ihr mit diesem Ding Orgasmen habt, aber es sind nicht die richtigen. Wir haben euch außerdem im Verdacht, dass eure Selbstbefriedigung abendländisch-christlichen Maßstäben nicht genügt. Und das alles kommt im Ton einer heiligen Mission daher, den semitischen Penis vor dem Messer zu retten. White man’s (rsp. woman’s) burden, neu verstanden.

Politisch interessant ist die Klärung der Fronten im „islamkritischen“ Lager zwischen PI und DADG. Bei PI ist man wütend auf die Juden, die es einem unmöglich machen, auf die Muslime einzudreschen. DADG distanziert sich zunehmend von dem islamophob-antisemitischen Diskurs. Infolge dessen emanzipiert sich die radikaler werdende rechtspopulistische Szene von der „proisraelischen“ Haltung (die ich immer für ein Fake gehalten habe). Wenn die Juden dem Moslembashing im Wege stehen, müssen sie eben auch dran glauben. Für „so etwas“ gibt es hier keinen Platz, das ist die Botschaft.

„So etwas“? Juden und Muslime finden sich durch diese Debatte im selben Boot, in den Augen der Mehrheit zwei Varianten derselben patriarchalisch-„barbarischen“ Wüstenreligion, die einfach nicht sublimieren will und stur weiter das Blut ihrer Söhne vergießt. Bei der Frage des Schächtens wird sich diese Konstellation wiederholen, dann anhand des Leids der Tiere. Interessant zu sehen, was daraus folgt für den Dialog.

Vorerst überwiegt eine tiefe Verunsicherung. Und das auch bei den nicht besonders Frommen, ja sogar bei den am wenigsten Frommen am meisten. Die Frommen wissen ja eh immer schon woran sie sind und beobachten die Mehrheit mit Verdacht. Am meisten getroffen sind aber diesmal viele moderne, moderate, ja sogar areligiöse Juden und Muslime.

Mir geht es auch so. Ich bin fassungslos über die Wut dieser Debatte.

Ich habe keinen Hund in diesem Kampf, wie man so sagt. Ich habe zum Besten an der Religion ein Verhältnis ähnlich dem eines Opernliebhabers, der selber kein Instrument spielt, und doch die Musik verehrt. Das weiß Gott viele Schlechte an der Religion, das oft genug auf diesem Blog Thema ist, wer wollte es leugnen? Darum geht es nicht. Religionsfreiheit ist in unserer Welt eine Frage, die oft genug über Krieg und Frieden, Leben und Tod entscheidet. Sie sollte auch für religiös Unmusikalische etwas Heiliges sein.

Es wäre eine bizarre Pointe, wenn Deutschland seine Lektion aus der eigenen totalitären Geschichte dahin treiben würde, Menschen- und also Kinderrechte derart zu definieren, dass jüdisches und muslimisches Leben hier unmöglich würde. Ist bei der Reeducation etwas schief gegangen?

 

(Korrektur, 28.7.2012: Es war nicht Mia, sondern Tisa Farrows, die in Manhattan den oben zitierten Satz sagt. Danke für die Hinweise darauf. Der eigentlich passende Satz kommt von Woody Allen in der Replik: „Ich hatte nie falsche Orgasmen. Auch die schlechtesten waren Volltreffer.“ JL)

 

 

Islamophobie und Antisemitismus, vereint gegen Beschneidungen

Gestern habe ich hier eingeräumt, dass mir die Unterscheidung zwischen Islamophobie und Antisemitismus nicht mehr einleuchtet:

Ich habe mich lange gegen die Auffassung gewehrt, Islamophobie und Antisemitismus hätten bedeutende Überschneidungsflächen (no pun intended). Ich gebe hiermit offiziell auf. Es ist ein und das Gleiche.

Mit jedem Tag der unsäglichen Beschneidungsdebatte sehe ich dies bestätigt. Sergej Lagodinsky hat auf Facebook auf diese Karikatur aus dem Berliner Kurier aufmerksam gemacht. Man beachte die Nase im Original Stürmer-Stil:

Und dann ist da der Kommentar von Michael Stürzenberger auf PI, mit dem endlich für alle sichtbar die „proisraelische“ Kostümierung der islamfeindlichen Rechtsradikalen gefallen ist:

Dem Christentum steht es gut zu Gesicht, durch Jesus einen “neuen Bund” geschlossen zu haben, was zu einer Relativierung des Alten Testamentes geführt hat. Dem Judentum kann man zubilligen, dass seine Schriften heutzutage meist nicht mehr wörtlich genommen werden, was auch zu der einzigen Demokratie im Nahen Osten, dem modernen Israel, geführt hat. Wenn sich aber jüdische Verbände und Organisationen beispielsweise so an die uralte Vorschrift der Beschneidung klammern, zeigen sie damit, dass sie sich in diesem Punkt nicht vom Islam unterscheiden. So etwas hat nach meiner festen Überzeugung in unserem Land nichts zu suchen.

Den Bestrebungen verschiedener Bundestagsparteien, nun ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das die religiös begründete Beschneidung von Jungen straffrei stellt, sollte daher unbedingt entgegengewirkt werden. Durch solche Maßnahmen wird auch dem Islam und seiner Scharia immer mehr Einfluß in unserer Gesellschaft verschafft, was zielstrebig in Richtung islamischer Gottestaat führt.

Juden raus – wenn sie sich an die „uralte Vorschrift der Beschneidung klammern“. Gut, dass man es endlich schriftlich hat.

 

 

Der Sinn der Beschneidung

Bernard Avishai von der Hebrew University erklärt auf der Website „Open Zion“ den Sinn der Beschneidung:

Most thinking Jews, justifiably, will counter all this physiological speculation (and hyperbole) by insisting that circumcision is not a practical matter at all. Rather, it is a primordial act of covenant, a kind of throwback to sacrifice, actually, which marks the commitment of our children to the Jewish people and its mission. But this begs the question, precisely, of how to understand the covenantal mission and how to engender it. The same Jews believe that the mission unfolds as life and history unfold. Our commitment is to inherited principles, not to inherited genes. The act has to be consistent with, or evoke, enduring principles. What are they?

So we are left with a puzzle. What deeper meaning might be implied by circumcision, so that Jewish parents, generation after generation, swallow hard do it? How does the back of the mind take in the brit mila, so that Jewish sages thought its lessons were indispensible?

Permit a passionate father (and grandfather) to suggest a direction, if not a whole answer. The poet Robert Bly once said, “A man’s wound is his genius.” I think parents who perform circumcision on a tender baby cannot but feel the beginning of an acknowledgement, which will grow over time—something bitter-sweet and wise. It is that our role is not merely to protect our children but to expose them. We are required to introduce them—affectionately, yet at times strictly—to the stings of the world, which are everywhere; these are the real prompts of maturity and autonomy—thus the deepest sources of their happiness. This ritual infliction of pain, like the insistence of broken glass at a wedding, is an act of love, arguably divine love—that is, love of human beings as we truly are, without (dare I say, childish?) illusions.

You don’t have to have a mother like Sophie Portnoy to know that over-protection is the ultimate form of child abuse. Who among us would live our lives over again without the pains that instructed, fashioned and liberated us?

And since this was a German court, however secular, let’s cover another base. Saint Paul said that we ought rather to circumcise the heart. (Actually, Leviticus, and later Jeremiah, suggest the same, arguably without the “rather.”) Well, I have had both circumcisions, of the flesh and heart, and I can report that the latter is far more painful. Human life is calculated to make us lose every person we love, but who lives happier by shielding himself from love?

The part of Paul’s theology I admire most suggests that the divine proved truest by becoming flesh to suffer with us, thus to truly know us. I like to think the divine was first present in my life at the tiny suffering of my circumcised flesh; that God slyly instructed Abraham to circumcise his sons because he wanted to imply what some rabbis have had the wit to add, generation after generation. Before circumcision a man is not whole. Genesis Rabbah states, glossing circumcision: “All that was created during the six days of creation requires improvement. For example, the mustard seed needs to be sweetened and the lupine need to be sweetened, the wheat needs to be ground, and even a person needs improvement.” Indeed, there is nothing so whole as a broken heart.

 

Die Komiker-Nation Deutschland debattiert Beschneidungen

«Ich will nicht, dass Deutschland das einzige Land auf der Welt ist, in dem Juden nicht ihre Riten ausüben können. Wir machen uns ja sonst zur Komiker-Nation.»
Das hat die Kanzlerin mal was richtig erkannt.

Die Muslime hätte sie allerdings gerne einbeziehen können. Tut sie aber bezeichnender Weise nicht. Denn Ausgangspunkt der Debatte war ja der Fall eines vierjährigen Muslims. Dass die Oberstaatsanwältin, die den Fall in Köln vor Gericht brachte, auch gegen einen weißbärtigen Mohel vorgegangen wäre, kann ich mir nicht vorstellen. Noch fällt es schwer, sich auszumalen, dass wir demnächst wegen Körperverletzung einen Rabbiner in der Synagoge verhaften.

Nein, wohl eher nicht. Aber einem syrischstämmigen Arzt kann man eben schon mal die Instrumente zeigen. Es fällt in Deutschland einfach leichter, Muslime über ihr „Barbarentum“ zu belehren als Juden.

Jedenfalls noch.

Nun hat man es aber mit der Rabbinerkonferenz und dem Zentralrat der Juden in schönster Einheit mit den islamischen Verbänden zu tun bekommen, und da hört dann der Spaß auf. Eine rechtliche Klärung muss nun her, um Juden das Verbleiben hier zu ermöglichen. Recht hat sie, die Kanzlerin.

Davon dürfen dann die Muslime, die den Anlass für das irre Theater gegeben haben, gerne mit profitieren, ohne dass die Kanzlerin sich nun freilich als deren Schutzpatronin erwischen lassen will.

Deutschland. Zum Auswandern schön.

Ich habe mich lange gegen die Auffassung gewehrt, Islamophobie und Antisemitismus hätten bedeutende Überschneidungsflächen (no pun intended). Ich gebe hiermit offiziell auf. Es ist ein und das Gleiche.

Heute morgen im Deutschlandfunk hören zu müssen, wie wohlmeinende deutsche Ärzte gleich zwei Weltreligionen freundliche Angebote machen, sich endlich bitte, bitte auf das zivilisatorische Niveau des Kölner Landgerichts hinaufhieven zu lassen, das war dann doch sehr erhellend. Jüdische Teilnehmer verwahrten sich gegen die Unterstellung, sie seien traumatisiert. Es half nichts. Der deutsche Therapeut wußte es besser.

Leserbriefschreibern und Kommentatoren quillt der gesunde Menschenverstand aus den Tasten, dass es keine, aber auch gar keine akzeptable Begründung für die „Verstümmelung“ von Knaben durch Vorhautentfernung gebe.

Religiöser Analphabetismus wird mit erstaunlichem Stolz als Common Sense spazieren geführt. Irre, was man so alles an Vergleichen hört: Abtreibung, Ohrfeige, kosmetische Ohrenkorrektur… Das großmütige Angebot, man könne Beschneidung verbieten, aber straffrei lassen, wie eben die Abtreibung. Und dem Vorschlagenden fällt gar nicht mehr auf, dass damit eine Ritualhandlung aufgrund eines religiösen Gebots, die der Aufnahme eines neuen Lebens in die Gemeinschaft dient (und der Feier des Bundes mit Gott), auf die gleiche Stufe mit der Beendigung menschlichen Lebens gestellt wird. Und wie das wohl bei den Betroffenen ankommt, dass ihre Handlung mit einer Tötung verglichen wird.

Ach was, es geht womöglich gar nicht um die Juden und die Muslime. Es ist wieder einmal eine – diesmal knisternd pornographisch aufgeladene –  Orgie der Selbstbestätigung ausgebrochen. Der faszinierte Blick auf den beschnittenen Schlong lässt uns in Gewissheit erstarren, dass wir aufgeklärten Mehrheitsmenschen den Längsten haben.

Mit heiligem Ernst beschäftigt sich ein Land wie Deutschland zwei Wochen lang mit anderer Leute Geschlechtsorganen. Man fasst es nicht. Andererseits: Deutsche wollen die Unversehrtheit jüdischer und muslimischer Penisse per Gesetz garantieren. Irgendwie ein Fortschritt, oder? Wäre da nicht die peinliche Pointe, dass zu diesem Zweck die Eltern und die Ärzte, die an „barbarischen Bräuchen“ festhalten, kriminalisiert werden.

Alle sollen so werden wie wir. Darum gehts es letztlich. Ja, warum auch nicht: Es gibt ja nun wirklich keinen Grund, anders zu sein oder anderes zu glauben, denn wir sind das zwar nicht das auserwählte, aber das aufgeklärte Volk. Indem wir ihre Religion kriminalisieren, geben wir den Juden und den Muslimen eine Chance, sich endlich nach Jahrtausenden von ihren archaischen Praktiken zu distanzieren.

Wir Deutschen sind die Guten: Eine Komiker-Nation im Einklang mit sich selbst.

Komisch nur, dass keiner lacht.

 

 

Die Beschneidung der Religionsfreiheit

Wie um alles in der Welt sind wir denn bloß hierhin gekommen? Ein deutsches Landgericht urteilt, dass das Recht des Kindes auf Unversehrtheit über dem Recht der Eltern steht, aus religiösen Gründen die Beschneidung eines Sohnes vornehmen zu lassen – und innerhalb von Wochen ist von einer der „vielleicht schwersten Attacken auf jüdisches Leben in Europa in der Post-Holocaust-Welt“ die Rede – so der Vorsitzende der Europäischen Rabbinerkonferenz Pinchas Goldschmidt.

Dabei war der Fall eines muslimischen Jungen der Anlass für die Rechtssprechung gewesen. Ein Kölner Arzt hatte im November 2010 den vierjährigen Sohn eines aus dem Irak stammenden Paares beschnitten. Es war, wie Yassin Musharbash in der ZEIT dargelegt hat, zu (durchaus üblichen) Nachblutungen gekommen. Die Mutter war dadurch in Panik geraten, hatte in verwirrtem Zustand um Hilfe gerufen und war mit ihrem Sohn in die Notaufnahme gekommen, wo die kaum des deutschen mächtige Frau Angaben machte (oder so verstanden wurde), dass ihr Sohn „in einer Wohnung mit der Schere“ beschnitten worden sei. Es kam zur Anklage gegen den Arzt, die in erster Instanz niedergeschlagen wurde, in zweiter Instanz aber kam es dann zu dem Urteil mit den folgenschweren Sätzen über den Vorrang der Unversehrtheit.

Beschneidung als Körperverletzung: Aus einem Urteil in Sachen eines vierjährigen Muslims ist nun eine „Attacke auf das jüdische Leben“ geworden. Juden und Muslime erklären vereint, sie sähen ihre Religionsfreiheit gefährdet und gar die Zukunft jüdischen beziehungsweise muslimischen Lebens auf Messers Schneide, wenn dieser unpassende Wortwitz hier erlaubt sei. Aus einer Verkettung von Missverständnissen ist ein Kulturkampf geworden.

Ich glaube nicht, dass das Kölner Urteil Auswirkungen auf eine Jahrtausende alte Praxis haben wird, die konstitutiv für die beiden Religionsgemeinschaften ist. Allein die Anmaßung der treibenden Oberstaatsanwältin und des Landgerichts ist freilich atemberaubend. Das heißt eben nicht, dass es unter den Betroffenen keine Diskussion um diese Praxis gibt. Necla Kelek hat in ihrem Buch über türkische Männer eine extrem scharfe Kritik der Beschneidungsrituale in der Türkei formuliert. Ich teile nicht ihre Folgerungen, aber ihr Impuls, eine Debatte über Männlichkeitsriten anzuregen, ist berechtigt. Junge Juden, die nicht fest in der Orthodoxie verhaftet sind, machen es sich oft auch nicht leicht, wenn sie Eltern werden. Allerdings entscheiden sich die meisten doch für die Beschneidung als Zeichen für den Bund, als Zeichen dafür, dass die jüdische Geschichte weitergeht.

Es gibt übrigens eine eigene Tradition von jüdischen Beschneidungswitzen. Einen besonders drastischen von Oliver Polak habe ich schon einmal in der ZEIT zitiert: „Warum sind jüdische Männer beschnitten? Weil eine jüdische Frau nichts anfasst, was nicht mindestens um 20 Prozent reduziert ist.“ Berühmt ist auch folgende Episode aus der Comedy-Serie „Seinfeld„, in der die Bedenken gegen die Beschneidung auf geniale Weise thematisiert werden. (Allerdings wird auch hier das Kind dann eben doch beschnitten.)

Aber eine interne Debatte um das Für und Wider ist das eine. Und eine über Gerichte und Meinungsumfragen geführte Debatte der Mehrheit über die vermeintlich rückständig-barbarische Minderheit ist etwas anderes. In der deutschen Debatte, die durch das Kölner Urteil aufgekommen ist, irritiert der bierernste Ton der Belehrung und der herablassenden Umerziehung der „archaischen Religionen“, die einfach nicht bereit sind, ihre blutigen Rituale weiter symbolisch zu sublimieren. (Manchmal glaube ich einen Nachhall von dem protestantischen Zetern über die unbelehrbaren Katholen zu hören, die an die Wandlung von Wein zu Blut und Brot zu Fleisch glauben.)

Der aufgeklärte Vorbehalt gegen die Juden – und daraus abgeleitet auch gegen die in ihrer Ritualverhaftetheit verwandten Muslime – ist plötzlich wieder da. Wie anders ist zu erklären, dass breite Mehrheiten hierzulande das Kölner Urteil für richtig halten? Unser Recht soll also jüdische und muslimische Jungen vor einer barbarischen Praxis schützen, der sie ihre „verstockten“ Eltern unterwerfen? Wir kriminalisieren einen religiösen Ritus, der konstitutiv für die Zugehörigkeit zu den beiden abrahamitischen Bruderreligionen ist?
Abenteuerlich, und undenkbar in Gesellschaften, die nicht wie unsere derart vom Gespenst der religiös-kulturellen Homogenität heimgesucht werden. Undenkbar in den USA oder Kanada – Ländern, in denen es weit verbreitet war oder ist, Jungen auch ohne religiöse Gründe zu beschneiden. Dort wird diese Praxis zwar inzwischen in Frage gestellt, doch niemand käme auf die Idee, religiös begründete Beschneidungen zu kriminalisieren.
Es ist eine beängstigende Verspießerung unseres öffntlichen Lebens festzustellen, eine Verspießerung im Zeichen selbstgefälliger Pseudoaufgeklärtheit, die religiöses Anderssein unter der Flagge des Kinderschutzes und der Menschenrechte (im Fall Schächten/Halal: Tierschutz) zu erdrücken droht.
Die Rabbiner hätten nicht gleich das H-Wort bemühen müssen, aber im Kern haben sie recht: Wenn sich diese Rechtsauffassung durchsetzt, ist jüdisches (und muslimisches) Leben in Deutschland bedroht. Schon jetzt ist Schaden entstanden: 70 Jahre nach der Schoah wird in Deutschland traditionelles jüdisches (und muslimisches) Leben kriminalisiert, und der Bürger nickt wohlgefällig mit dem Kopf dazu. Als wäre es nicht Aufgabe des Rechts, die Minderheit vor dem Absolutismus der Mehrheit zu schützen.

 

 

Höchste islamische Autorität Ägyptens nennt Genitalbeschneidung eine „strafbare Aggression“ gegen das Menschengeschlecht

Vorige Woche fand in Kairo ein Treffen theologischer und medizinischer Experten zur Frage der Genitalverstümmelung von Frauen statt. Die Al-Azhar Universität, die höchste theologische Autorität des sunnitischen Islam, gibt daraufhin folgendes Rechtsgutachten heraus, das uns der Mit-Initiator der Konferenz, Rüdiger Nehberg, vorab in deutscher Übersetzung zur Verfügung stellte:

1. Gott hat den Menschen mit Würde ausgestattet. Im Koran sagt Gott: „Wir haben die Söhne Adams gewürdigt.“ Daher wird jeglicher Schaden verboten, der Menschen zugefügt wird, unabhängig von gesellschaftlichem Status und Geschlecht.

2. Genital-Beschneidung ist eine ererbte Unsitte, die in einigen Gesellschaften praktiziert wird und von einigen Moslems in mehreren Ländern in Nachahmung übernommen wurde. Dies ohne textliche Grundlage im Koran respektive einer authentischen Überlieferung des Propheten.

3. Die heute praktizierte weibliche Genitalbeschneidung fügt der Frau psychologische und physische Schäden zu. Daher müssen diese Praktiken unterbunden werden, in Anlehnung an einen der höchsten Werte des Islams, nämlich dem Menschen keinen Schaden zuzufügen – gemäss des Ausspruchs des Propheten Mohammed „Keinen Schaden nehmen und keinen Schaden zufügen“. Vielmehr wird dies als strafbare Aggression gegenüber dem Menschengeschlecht erachtet.

es folgen

4. der Appell an die Muslime, die Unsitte zu unterbinden

5. der Appell an die internationalen und regionalen institiutionen, die Aufklärung der Bevölkerung voranzutreiben

6. der Appell an die Medien, das Gleiche zu tun

7. die Forderung nach einem Gesetz, das die Genitalverstümmelung zum Verbrechen erklärt

8. die Forderung nach internationaler Unterstützung beim Kampf gegen die Genitalverstümmelung

Das ist ein großer Fortschritt. Wenn nun noch der einflussreiche TV-Scheich Jussuf Al-Karadawi mitzieht, bedeute dies Hoffnung für die 8.000 Opfer dieser Praxis pro Tag.

 

Warum ich (immer noch) gegen ein NPD-Verbot bin

… steht in diesem Artikel, der am 31. August 2000 unter dem Titel „Helm ab zum Verbot“ in der ZEIT erschien. Damals stand die Bundesregierung hinter dem Verbotsantrag. Die heutige Regierung hat aus dem Scheitern der damaligen gelernt. Die SPD offenbar aus ihrem eigenen Desaster von damals – nicht. Rösler hat recht, die Sache nicht zu unterstützen und für die FDP zu erklären, man stehe nicht dahinter. Seehofer ist ein politischer Opportunist übelsten Wassers, wenn er darum der FDP „Verharmlosung“ der Nazis vorwirft. Im Gegenteil verharmlost, wer die Sache durch Verbote regeln will.

Wie dem auch sei, an meinem Essay von vor fast 13 Jahren habe ich interessanter Weise nichts zurückzunehmen:

Rassistische Terrorakte erschüttern das Land. In ihrer Not erwägt die Regierung das Verbot von Demonstrationen und Parteien. Wird der Demokratie der Preis der Freiheit zu hoch?

Seit die Bundesregierung die Absicht erklärt hat, beim Bundesverfassungsgericht ein Verbot der NPD zu beantragen, falls ein solcher Antrag Aussicht auf Erfolg habe, sind allerlei praktische Bedenken laut geworden. Kein Einwand traf das prinzipielle Mittel des Verbots. Die Atmosphäre allgemeiner Beflissenheit im „Kampf gegen die Nazis“ scheint alle Erinnerung an einen früheren Kampf getilgt zu haben, der in der Bundesrepublik einmal von linksliberaler Seite gegen die unselige Praxis des Parteienverbots geführt wurde. Heute scheinen Opportunität und Umsetzbarkeit die einzigen Kriterien für die Wünschbarkeit eines Verbots zu sein. Es gebe wahrscheinlich, so ließ sich der nordrhein-westfälische Innenminister vernehmen, gar nicht genug belastendes Material zur Begründung eines Verbotsantrags. Würde der Antrag aber scheitern, so fürchten andere, dann dürfte sich nicht nur die NPD, sondern die gesamte rechte Szene gerechtfertigt fühlen. Bei einem erfolgreichen Verbot der NPD hingegen würden sich nur die beiden konkurrierenden Parteien – DVU und Republikaner – freuen, denen das gesamte Feld des legalen Rechtsradikalismus zufiele. Die illegale Szene werde abtauchen und sich der Beobachtung entziehen. In einem Verfassungsschutzbericht werden die Führer einer norddeutschen „Kameradschaft“ zitiert, die sich geradezu erleichtert über die Aussicht zeigen, dass sie mit einem NPD-Verbot auch die Staatsspitzel loswerden können, die bisher in allen Parteiveranstaltungen sitzen.

Es sei, gaben schließlich Kenner der Szene zu bedenken, ohnehin illusorisch, zu glauben, man könne mit einem Parteiverbot dem Terror Einhalt gebieten. Die rassistischen Gewalttaten seien nicht zentral gesteuert. Internet und Mobiltelefon haben in der rechten Szene hierarchische Kaderstrukturen obsolet gemacht und eine neue Form von Aktivismus hervorgebracht, den spontanen, selbst organisierten „Feierabendterrorismus“. Alle Einwände, kurz gesagt, laufen darauf hinaus, dass ein Verbot der NPD zur Lösung des akuten Problems kaum etwas beitragen kann. Auch die historische Legitimation für die Anwendung des Arsenals der „wehrhaften Demokratie“ wurde bestritten: Die Weimarer Republik, so legte der Historiker Hans Mommsen dar, sei nicht daran gescheitert, dass ihr die rechtlichen Mittel fehlten, sich ihrer Feinde zu erwehren – sie hatte solche Mittel und hat sie auch angewandt -, sondern am mangelnden Freiheitssinn ihrer Bürger.

Letzteres ist nun allerdings ein passendes Stichwort, unter dem sich die laufende Debatte betrachten lässt. Weiter„Warum ich (immer noch) gegen ein NPD-Verbot bin“

 

Die Vergiftung der deutschen Integrationsdebatte

 Diesen Vortrag habe ich letzte Woche beim „Berliner Integrationsforum“ gehalten. Regelmäßige Leser dieses Blogs werden einiges wiedererkennen.

Wo steht die deutsche Integrationsdebatte? Ich neige zum Optimismus, trotz allem. Warum?

Da Herkunft in dieser Debatte eine so große Rolle spielt, will auch ich sie hier einmal in Anspruch nehmen, um meine Argumente zu untermauern. Ich spreche also als artgerecht aufgewachsener „Biodeutscher“ (Aua!) aus der westdeutschen Provinz.

Ich komme aus einem dörflich-kleinbürgerlichen Milieu Westdeutschlands, in dem das, was man heute Rassismus nennt, in den siebziger und achtziger Jahren noch zum normalen Umgangston gehörte. Rassismus hätte man es damals natürlich nicht genannt.

Man war stolz auf seine Vorurteile, und wer irgendetwas dagegen sagte, dass man gegen Itaker, Spanier, Türken und Griechen wetterte, hatte wahrscheinlich keinen Humor.

Gegen Juden sagte man lieber nichts (mehr), jedenfalls nicht laut, denn die konnten uns nachtragender Weise die Sache mit Hitler nicht vergessen. Alle anderen waren Freiwild für den Stammtischhumor.

Es war ein kenntnisfreier, gewissermaßen unschuldiger und ursprünglicher Rassismus, der alle Andersartigen gleichmäßig traf, einfach nur weil sie anders waren. Es war nicht persönlich gemeint, pures Ressentiment, Fiesheit gegen jedermann. Auch diejenigen, die sich im realen Leben sehr korrekt und nett mit den wenigen Fremden auf dem Dorf und in der Kleinstadt beschäftigten, zogen dabei mit.

Der Kern der Sache war das Unbehagen an gesellschaftlicher Veränderung. Und im Verfluchen der anderen leuchtete auch viel deutscher Selbsthass auf. Sehr berechtigter deutscher Selbsthass, möchte ich sagen: der Selbsthass eines unglücklichen Volkes, das sich selbst im trüben Licht der Katastrophengeschichte des letzten Jahrhunderts sehen musste, ein Selbsthass, der sich am Objekt der schwächeren, ärmeren, neuen Unterschicht der Einwanderer abreagierte.

Dieses Phänomen ist irgendwann ausgestorben. Die Deutschen in meinem Herkunftsmilieu wollen sich so nicht mehr sehen und sie können es nicht mehr hören. Sie sind herumgekommen, sie waren auf guten Schulen (oder ihre Kinder jedenfalls), sie haben sich abgeregt. Viele von ihnen kennen ein paar Türken, Araber, Vietnamesen, seltener, muss ich sagen: Juden.

Die Ausländerwitze, die man in den siebziger und frühen achtziger Jahren in diesem Milieu noch normal fand, wären heute absolut indiskutabel. Es gibt Schwiegertöchter und Schwiegersöhne mit Migrationshintergrund, Freunde der Kinder haben Migrationshintergrund – oder gar, wie ich mit Erstaunen feststellen musste: in meinem Fall sogar die eigenen Kinder.

Deutschland ist auf dem Weg des Sich-Abregens weltoffener, entspannter, welterfahrener geworden. Die Veränderungspanik hat abgenommen.

So sehe ich es, trotz unserer erregten Debatten der letzten Jahre.

Gut so.

Trotzdem läuft hier etwas schief. Die gesellschaftliche Kommunikation leidet an einer schleichenden Vergiftung.

Mein Grund-Optimismus macht zur Zeit eine schwere Phase durch. Manchmal habe ich den Eindruck, ich erliege meinem eigenen Wunschdenken und es geht eigentlich überhaupt nicht voran. Ich denke dann, ich mache mir das nur vor, weil ich mir das eigene Land schön singen will.

In den letzten beiden Jahren war ich viel damit beschäftigt, auf türkisch-deutsche, arabisch-deutsche, iranisch-deutsche, und deutsch-jüdische Freunde einzureden, sie sollen sich bitte nicht verrückt machen lassen. Sie sollen hier bleiben und weitermachen.

Wie oft habe ich gehört, jetzt reiche es, man halte es nicht mehr aus, man gehe nun endgültig weg, in die Türkei, nach Amerika, nach Israel… Und manchmal sind das keine leeren Drohungen geblieben. Meist jedoch war die Auswanderungsdrohung nicht ernst gemeint.

Sehr wohl ernst gemeint war die Botschaft der Verletzung und Enttäuschung. Ich habe bei manchen Freunden und Bekannten eine Art innere Kündigung ihrer Liebe zu Deutschland erlebt. Das ist etwas Gefährliches.

Unsere „Integrationsdebatte“ mit dem Höhepunkt Sarrazin hat diesen „tipping point“ vorbereitet. Aber die Enthüllungen über die „Dönermorde“ haben dann für viele den Ausschlag gegeben.

Und die jüngste Debatte über Beschneidung hat zu tiefer Verunsicherung geführt – eine Verunsicherung, die viele aus der Mehrheit nicht verstehen. Dazu gleich mehr.

Es wird unterschätzt, wie erschüttert viele türkische Deutsche von der NSU-Mordserie, vom Versagen der Behörden und der Medien bis heute sind. Schon die letzten Jahre einer zunehmend als Demütigung und Kujonierung empfundenen “Integrationsdebatte” haben viel Schaden angerichtet. Der Erfolg des Buchs von Thilo Sarrazin wurde als eine Abstimmung gegen Türken an der Ladenkasse empfunden. Mehrere türkische Bekannte haben mir erzählt, dass sie in Folge dieser Debatte Freunde verloren haben. Es wurde nicht verstanden, dass sie Sarrazins Buch und seine Interventionen – von den “Kopftuchmädchen” über die “Gemüsehändler” bis zu den “belgischen Ackergäulen” als persönliche, ehrabschneidende Angriffe empfanden. Und dass die breite Zustimmung der Bevölkerung die Sache erst recht schlimm machte.

Wenn sie das ihren Freunden sagten, hieß es oft, hab dich doch nicht so, Du bist doch nicht gemeint! Doch, ich bin gemeint, antworteten sie, mindestens innerlich. Mich und meine Leute meint ihr, wenn ihr diese Buch kauft.

Man fühlte sich von Sarrazin und seinem begeisterten Publikum aus Deutschland herausdefiniert. Das Wort Ausgrenzung habe ich nie gemocht. Es wird inflationär gebraucht und hat einen moralistischen Ton. Aber hier passt es. Viele meiner Bekannten mit so genanntem Migrationshintergrund, bestens integriert, haben in diesen letzten Jahren Ausgrenzungserfahrungen gemacht.

Die Enthüllung über die Mordserie traf auf diese Gefühlslage. Ohnehin angeknackstes Vertrauen war nun bei vielen ganz dahin: Die Hinrichtung von Türken, wie sich nun herausstellte, durch Neonazis, war jahrelang den Opfern und ihrem mutmaßlichen “Milieu” zugeschrieben worden. Im Begriff “Dönermorde” schien der antitürkische Rassismus der Behörden und der Medien zu sich zu kommen.

Gerade bei gut ausgebildeten und erfolgreichen deutschen Türken trifft man derzeit auf eine Mischung aus enttäuschter Liebe zu ihrer Heimat, auf Wut, Trauer und allgemeine Aufgewühltheit, in einem Maß, dass einem Angst um dieses Land und seinen Zusammenhalt machen kann.

Wir verlieren so die Besten. Auch diejenigen, die nicht weggehen, schließen innerlich mit Deutschland ab.

Ich habe also dagegen geredet und gesagt, schaut doch mal, das ist zwar nicht schön, das ist alles hässlich, aber es sind doch Rückzugsgefechte. Vergleicht das mal mit wirklichem, offenem Rassismus! Das Sentiment der deutschen Debattentreiber wie Sarrazin hat so was Verklemmtes und Verschwiemeltes, weil sie ja wisssen, dass es politisch nicht wirksam wird. Die gesamte politische Klasse hält doch dagegen. Merkel hat die Sache gleich mit ihrem „nicht hilfreich“ gekillt. Und dann Wulff mit seinem Islam-Diktum, gegen die BILD und die FAZ… Wir haben keine rechtspopulistische Partei in Deutschland! Alle unsere Nachbarn haben eine!

So richtig tröstlich hat das nicht gewirkt.

Seither bin ich über meine eigene Theorie ins Stutzen geraten, mit der ich mir bisher immer erklärt habe, warum das so ist, dass Deutschland keine rechtspopulistische Partei hat – ein Umstand, auf den ich einigermaßen stolz bin.

Meine Theorie darüber, warum Deutschland keine rechtspopulistische Partei hat wie alle unsere Nachbarn – keine Partei vom Typ Front National, SVP, Folkeparti oder PVV, besteht aus zwei Elementen.

Das erstere ist banal: Das Rechte ist tabuisiert, herausgedrängt aus der wohlanständigen Mitte in die Außenbezirke des Politischen. Analog zu dem, was ich anfangs berichtet habe über die Inakzeptabilität eines offenen Rassismus in der Mitte der Gesellschaft: Populismus geht in Deutschland nur noch links. Auch der kann sich übrigens mit xenophoben und rassistischen Motiven verknüpfen, wenn Sie es nicht glauben, lesen Sie mal die Bücher von Oskar Lafontaine!

Aber es ist undenkbar, dass eine einflußreiche Politikerin hierzulande für ein Kippaverbot einträte wie Marine Le Pen das kürzlich getan hat. Und ich prophezeie, dass aus diesem Grund auch in absehbarer Zeit die Kopftuchverbote in Deutschland fallen werden. Man wird das abräumen wie so viele andere Angstregelungen aus der Übergangszeit, wie etwa auch das Verbot der Doppelstaatsbürgerschaft. Man wird einsehen, dass Loyalität zu unserer Gesellschaft und den Werten sich weder am Kopfschmuck noch an der Zahl der Pässe festmachen lässt.

Das zweite Element meiner Erklärung geht so:

Wo andere Länder eine rechtspopulistische Partei haben, haben wir in Deutschland die „Integrationsdebatte“. Über „Integration“ zu reden, das muss man heute schon betonen, war einmal ein Fortschritt. In dem Wort liegt ja die Akzeptanz, dass der zu Integrierende bleibt und dazugehören soll. In der Geschichte des Einwanderungslandes Deutschland war es eine historisch wichtige Schritt, das anzuerkennen.

Heute aber empfindet man diese Debatte seitens derjenigen, über die gesprochen wird, oft als Schikane und Falle. Immer neue Kriterien für Integration lassen den Eindruck zurück: Hier soll entgegen dem Sinn des Begriffs eigentlich eine unüberwindliche Differenz ausgedrückt werden. Anders als der Begriff suggeriert, ist die Integrationsdebatte eine Ausschlussdebatte, die am Ende die Pointe hat aufzuzeigen, warum ihr hier nie dazugehören werdet. Integration ist ein Distanzmarker geworden. Das Wort ist unbrauchbar für seinen ursprünglichen Zweck, und es wird darum weithin abgelehnt. Zu Recht, denn um Integration geht es gar nicht mehr: das setzt noch das Bild einer selbstgewissen Mehrheit voraus, die den Neuankömmlingen und ihren Kindern die Regeln vorgibt, nach denen sie sich integrieren können.

Von diesem Punkt aus spricht Bürgermeister Buschkowsky in seinem Buch. Aber das ist eine Retro-Fantasie: In den Siebzigern hätte es vielleicht funktioniert nach diesem Maßstab zu integrieren, aber damals war Integration ja eben nicht gewollt. Die Einwanderer sollten separat bleiben, damit ihnen die Heimkehr nicht schwer fiele: Re-Integration in ihre Herkunftsländer, das war das (illusorische) Ziel.

Heute ist die Vorstellung passé, die eingeborene Mehrheit gebe einer zugereisten Minderheit die Regeln vor. Wozu sollen wir denn die hier geborenen, hier zur Schule und zur Uni gehenden Kinder von Einwanderern und Alteingesessenen rechnen? Sie sind vielerorts die Mehrheit. Sie sind die Eingeborenen.

Wozu rechnen dann etwa meine eigenen Kinder, die einen iranischen und einen deutschen Opa haben und eine Mutter mit doppeltem Pass? (Wobei der Iraner ein Exilant ist, den sein eigenes Land verfolgt, und der deutsche Opa ein Vertriebener war, der im heutigen Polen geboren wurde.)

Ich kann es Ihnen sagen: So lange meine Kinder gut in der Schule sind, sind sie Deutsche. Würden sie Ärger machen, würde man vielleicht beginnen, ihren „Hintergrund“ durchleuchten.

Es geht nicht mehr um Integration, sondern um Partizipation von Menschen mit verschiedensten Mix-Identitäten.

Übrigens: Ich mag das Wort Identität nicht besonders. Es ist ein Plastikwort. „Identitäten“ sind entweder aus spannenden, schönen, traurigen Geschichten zusammengesetzt, oder sie sind bloße, langweilige, ideologische Behauptungen darüber, wer man ist. Identitäten sind oft nur Anmaßungen ohne viel Inhalt: die „christlich-jüdische Identität“ unseres Landes, die gerne behauptet wird – dass ich nicht lache! Man muss sich nur die Beschneidungsdebatte vor Augen halten, um zu erkennen, was das für ein Quatsch ist.

Ich habe mich lange gegen die Auffassung gewehrt, Islamophobie und Antisemitismus hätten bedeutende Überschneidungsflächen. Seit der Beschneidungsdebatte habe ich das Gefühl, es ist eben doch ein und das Gleiche.

Morgens im Deutschlandfunk hören zu müssen, wie wohlmeinende deutsche Ärzte gleich zwei Weltreligionen freundliche Angebote machen, sich endlich bitte, bitte auf das zivilisatorische Niveau des Kölner Landgerichts hinaufhieven zu lassen, das war dann doch sehr erhellend. Jüdische Teilnehmer verwahrten sich gegen die Unterstellung, sie seien traumatisiert. Es half nichts. Der deutsche Therapeut wußte es besser.

Leserbriefschreibern und Kommentatoren quillt der gesunde Menschenverstand aus den Tasten, dass es keine, aber auch gar keine akzeptable Begründung für die “Verstümmelung” von Knaben durch Vorhautentfernung gebe.

Religiöser Analphabetismus wird mit erstaunlichem Stolz als Common Sense spazieren geführt. Irre, was man so alles an Vergleichen hört: Abtreibung, Ohrfeige, kosmetische Ohrenkorrektur… Das großmütige Angebot, man könne Beschneidung verbieten, aber straffrei lassen, wie eben die Abtreibung. Und dem Vorschlagenden fällt gar nicht mehr auf, dass damit eine Ritualhandlung aufgrund eines religiösen Gebots, die der Aufnahme eines neuen Lebens in die Gemeinschaft dient (und der Feier des Bundes mit Gott), auf die gleiche Stufe mit der Beendigung menschlichen Lebens gestellt wird. Und wie das wohl bei den Betroffenen ankommt, dass ihre Handlung mit einer Tötung verglichen wird.

Geht es womöglich gar nicht um die Juden und die Muslime? Ist dies wieder einmal eine – diesmal knisternd pornographisch aufgeladene –  Orgie der Selbstbestätigung? Der faszinierte Blick auf den beschnittenen Penis der anderen lässt uns in Gewissheit erstarren, dass wir aufgeklärten Mehrheitsmenschen den Längsten haben.

Mit heiligem Ernst beschäftigt sich ein Land wie Deutschland Monate lang mit anderer Leute Geschlechtsorganen. Man fasst es nicht. Andererseits: Deutsche wollen die Unversehrtheit jüdischer und muslimischer Penisse per Gesetz garantieren. Macht nichts, wenn zu diesem Zweck die Eltern und die Ärzte, die an “barbarischen Bräuchen” festhalten, kriminalisiert werden.

Alle sollen so werden wie wir. Darum gehts es letztlich. Ja, warum auch nicht: Es gibt ja nun wirklich keinen Grund, anders zu sein oder anderes zu glauben, denn wir sind das zwar nicht das auserwählte, aber das aufgeklärte Volk. Indem wir ihre Religionen kriminalisieren, geben wir den Juden und den Muslimen eine Chance, sich endlich nach Jahrtausenden von ihren archaischen Praktiken zu distanzieren.

Wir Deutschen sind die Guten: Eine Komiker-Nation, wie die Kanzlerin treffend feststellte, im Einklang mit sich selbst.

Komisch nur, dass keiner lacht.

So viel zur deutschen Identität.

Aber auch wenn ich von der „muslimischen Identität“ höre, muss ich innerlich kichern: Identisch womit? Mit welcher Rechtsschule, welcher Konfession, welcher historisch-geografischen Prägung? Sufi oder Salafi? Konvertit oder wiedergeborenener Muslim? Muslimischer Atheist? Anti-Muslim?

Ich kenne keine zwei Muslime, die „identisch“ sind. Ich kenne viele, die andere Muslime für ganz schlimme Heuchler, Verwässerer, Fanatiker, Häretiker, Holzköpfe halten. Türken haben selten hohe Meinungen von Arabern und umgekehrt, und Iraner halten ohnehin alle anderen im Nahen Osten für kulturlose Völker (außer vielleicht die Juden, die auch schon ein paar Jahrtausende Geschichte haben, aber das geben nur wenige zu).

Also: Geht mir weg mit euren Identitätsbehauptungen! Identität ist nicht abendfüllend. Ganz mit uns identisch werden wir mit Sicherheit an einem Punkt unseres Lebens: Wenn es zuende ist. Tote sind mit sich identisch. Ein Merkmal des Lebens ist es, nicht mit sich identisch zu sein.

Aber ich schweife ab.

Ich wollte eigentlich sagen: Ich bin in unseren Debatten für maximale Offenheit, auch für verletzende Positionen. Ich habe lieber eine Debatte als eine rassistische Partei.

Ich halte das für einen entscheidenden Punkt zum Verständnis der deut­schen und europäischen Debatten über den Islam: Sie handeln in Wahrheit nicht wirklich vom Islam als Religion. Man kann die Leidenschaften, die dabei am Werk sind, wohl kaum aus einem Interesse am Verstehen einer Weltreligion ver­stehen, die (als Teil Europas, nicht als sein Gegenüber) immer noch neu ist. In erheblichem Maße dient die Debatte über den Islam der Selbstvergewis­serung einer verunsicherten Mehrheitsgesellschaft.

Es geht bei der „Islamkritik“min­destens so sehr um die deutsche, die europäische, die christliche, die säku­lare Identität wie um den Islam.

Das ist für sich genommen weder irrational noch illegitim. Es gibt Gründe für diese Verunsicherung, es gibt auch Gründe, die die „Islamkritik“ antreiben – und ihr die Leser zutrei­ben.

Ich sehe Deutschland in der Situation eines Nach-Einwanderungslan­des. Das Wort ist nicht schön, aber es beschreibt die Wirklichkeit: wir leben in einer post-migrantischen Situation. Wir debattieren also nicht mehr unter einem Einwanderungsdruck: Der Wanderungssaldo Deutschlands mit der Türkei ist seit Jahren negativ. Beginnend im Jahr 2006 kehrte sich der Trend um: Mehr Menschen zogen von Deutschland in die Türkei als umgekehrt. 2009 gingen bereits 10.000 mehr Menschen von Deutschland in die Türkei als vice versa.

Das ist nur ein Beleg dafür, dass Deutschland (jedenfalls für Türken) kein Einwanderungsland mehr ist. Doch just in dem selben Moment nehmen die Debat­ten über die Eingewanderten und ihre Nachkommen immer schärferen Charakter an. Kann es da einen Zusammenhang geben?

Das ist nicht ungewöhnlich: Vielleicht kann man im Amerika der Zwischenkriegszeit des letzten Jahrhunderts einen Präzedenzfall sehen. Damals wurden die Gren­zen für Immigration weitgehend geschlossen – nach einer großen Welle zwi­schen 1870-1924, die Iren, Deutsche, Polen und andere Osteuropäer und Italiener in Millionenzahlen nach Amerika gebracht hatte.

Dann ging man daran, mit viel Druck die Integration/Assimilation der Eingewan­derten zu betreiben.

Ich will die Analogie nicht zu weit treiben. Nur soviel: Europa insgesamt scheint, nach der gigantischen Einwanderungswelle der Nachkriegszeit, die gespeist wurde durch Postkolonialismus und Wirtschaftsboom, ebenfalls in einer Phase der Schließung zu sein. Schließung im Wortsinne durch gesetz­liche Erschwerung von Zuwanderung. Und im übertragen Sinne als Ver­such, die jeweilige Identität zu bewahren (was auch immer das jeweils sei). Der Erfolg der rechtspopulistischen Anti-Einwanderer-Parteien überall in Europa spricht dafür.

Überall? Eben nicht. Deutschland hat keine solche Partei. Deutschland hat statt dessen eine Debatte über „Integration“. Mir ist das einstweilen lieber so, wie hässlich die Debatte auch sein möge. Bei aller Kritik an der „Islamkritik“ sollte das nicht vergessen werden.

In Deutschland kann ich meinem Unmut an der Einwanderungsgesellschaft nicht an der Wahlurne Ausdruck verleihen. Alle Parteien – selbst die Union – haben ihren Frieden damit gemacht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Es gibt bei uns in der politische Klasse keine erfolgreichen Hetzer. Alle Zündler sind politisch gescheitert und aussortiert worden. Fragen Sie mal Roland Koch über seinen letzten Wahlkampf.

Was ich aber tun kann, um meinem Unmut, meiner Angst, meiner Überforderung Ausdruck zu geben, ist ein Buch zu kaufen und zu Lesungen zu gehen, bei denen diesem Gefühl Ausdruck verliehen wird.

Das ist besser als eine Partei zu haben, die monothematisch damit Stimmen sammelt. Aber es ist nicht harmlos.

Vergiftete Kommunikation ist eine schlechte Voraussetzung, wenn eine Gesellschaft eigentlich darangehen muss, ein neues WIR auszuhandeln. Weil man sich dann nur in wechselseitigen Beschimpfungen ergeht: Integrationsverweigerer! Rassist!

Ich halte nichts davon, Buschkowski als Rassisten zu bezeichnen. Nicht nur aus dem strategischen Grund, dass man ihn mit einem so überzogenen Vorwurf zum Helden eines Publikums macht, das ohnehin der Meinung ist, die Wahrheit könne man in diesem Land nicht mehr sagen, weil man dann als Rassist bezeichnet werde. Wenn ich für Buschkowski und die NSU-Täter das gleiche Wort verwende, mache ich meine Kritik an seinen Verallgemeinerungen und Zuspitzungen selber unglaubwürdig. Aber lassen wir dieses Buch. Ich habe schon gesagt, dass mir Bücher lieber sind als Parteien, und das gilt auch hier, bei aller Kritik.

Um zum Schluss zu kommen:

Deutschland ist schon sehr viel weiter als es weiß. Wird jetzt alles gut, wird jetzt alles nett?

Nein, gemütlich ist es nicht in Einwanderungsländern, sie sind voller Konflikte und Ressentimens – auf allen Seiten! Selbstverständlich auch auf Seiten der Einwanderer. Schauen Sie nach USA, England, Kanada, Israel. Es gäbe keine Standup-Comedy ohne diese Tatsache.

Gegen Vergiftung muss man allerdings eintreten, aber dagegen hilft nicht das Schönreden. Man darf nicht die Arbeitsteilung akzeptieren, dass die einen sich für Religionsfreiheit, Säkularismus, Frauenrechte, Werte, Bildung einsetzen und die anderen erklären, alles laufe schon irgendwie und man müsse nur abwarten und dem neuen bunten Deutschland beim Wachsen zusehen. Ängste und Vorbehalte, Konflikte und Ressentiments darf man nicht wegdrücken, weil sie „der falschen Seite nutzen“.

Nur wer weniger Angst vor den eigenen Ängsten hat, wird sich weiter entspannen können. Nur wer nicht fürchtet, dass seine Ängste weggewischt werden, wird sie eines Tages relativieren können.

 

Warum interessieren wir uns nicht für Opfer des antimuslimischen Rassismus?

Ich habe die Hoffnung, dass sich Juden und Muslime nicht durch die jüngsten Vorfälle gegeneinander aufbringen lassen. Zur Stunde findet in Berlin eine Demo gegen Beschneidungsverbote statt, bei der ein breites Spektrum von Gruppen vertreten ist – neben jüdischen und muslimischen auch christliche Unterstützer. Das ist ein gutes Zeichen.

Allerdings muss ich Sakine Subasi-Piltz Recht geben, die sich beklagt, dass die Opfer des antimuslimischen Rassismus in Deutschland trotz des Skandals um die NSU nicht genügend beachtet werden. Etwas stimmt nicht in der Wahrnehmung: Der Fall des Rabbiners Daniel Alter hat Entsetzen ausgelöst. Die häufigen Hass-Attacken gegen Muslime und ihre Einrichtungen finden kaum Aufmerksamkeit. Ich zitiere aus einem Post von Frau Subasi-Piltz:

„Als ich von dem Überfall auf den Rabbiner gelesen habe, war ich schockiert und beschämt darüber und habe, ich gebe es zu, auch nichts dazu gesagt. Ich habe beschämt darauf gewartet, dass andere einen Solidaritätsakt beginnen, dem ich anschließen kann. So kam es dann auch.
Als in den Medien darüber geschrieben wurde, dass Muslime sich mehr solidarisieren könnten, habe ich dieser Kritik aus meiner ganz persönlichen Perspektive in verschiedenen Internetforen Recht gegeben. Ich fand auch die Presseerklärung Ali Kizilkayas nicht ganz richtig und hätte mir von ihm noch mehr versöhnliche Worte gewünscht, als sich zu beklagen. Das war Fehl am Platz.

Doch seit einigen Tagen versuche ich auch die Aufmerksamkeit auf ebenso aktuelle Fälle von antimuslimischem Rassismus zu lenken. Ich schreibe Autor_innen an, die sich über die mangelnde Solidarität unter Muslimen gegen Antisemtismus beklagen und fordere von Ihnen, sich bitte mit auch mit Muslimen gleichermaßen zu solidarisieren. Mir geht es nicht darum, die Opfer auf der muslimischen Seite gegen die Opfer auf der jüdischen Seite aufzuwiegen. Jeder Fall ist einer zu viel, zumal diese Debatte nicht in der Hinsicht geführt werden sollte, Muslime gegen Juden aufzuwiegeln. Es geht eher darum, die Gesamtgesellschaft anzusprechen und die mehrheitsgesellschaftlichen Akteure aufzufordern, sich sensibler gegen Rassismus in Deutschland zu positionieren, egal gegen wen er gerichtet ist und die Probleme von Rassismus nicht den Minderheiten in die Schuhe zu schieben. Gerade wenn es um Antisemitismus unter Muslimen geht, erwarte ich eine Sensibilität, die auch den antmuslimischen Rassismus in Deutschland berücksichtigt. Doch schon wie in dem Fall von Marwa El-Sherbini, die letztendlich aufgrund ihres Kopftuchs in einem Dresdner Gerichtssaal ermordet wurde, interessieren sich die Medien der Mehrheitsgesellschaft nicht für muslimische Opfer.

In den letzten Tagen und Wochen sind aber gerade Muslime vermehrt wieder Opfer rechtsextremer und antimuslimischer Gewalt geworden. Hier eine Chronologie der mir bekannten Fälle:

30.07.2012 Woltmershausen/ Bremen: Brandanschlag auf türkische Familie, nach dem rassistische Äußerungen getätigt wurden. Die Nachbarschaft hat sich zusammengetan, um einen Brandanschlag zu verüben.

27.08.2012 Herzogenrath: „geht in Euer Land zurück … mit Eurem Scheißkopftuch.“ Zwei türkischstämmige Frauen werden in einem Park brutal zusammengeschlagen. Sie kommen gerade aus dem Krankenhaus. Der Ehemann von einer der Frauen liegt mit Krebs im Krankenhaus. Sie wollen sich ausruhen und werden von drei Personen zusammengeschlagen. Eine der Frauen muss auf die Intensivstation eingeliefert werden und überlebt den Vorfall nur knapp.

31.08.2012 Betzdorf: In die Wohnung einer türkischen Familie wird eingebrochen. Mit Pistole und Eisenstange gehen zwei Männer auf die Familie mit fünf kleinen Kindern zwischen 2 und 9 Jahren los. Der Vater der Familie lässt geistesgegenwärtig seine Handykamera laufen, auf der der Überfall und die schreckliche Angst der Familie nicht zu übersehen und vor allem nicht zu überhören ist. Die Einbrecher, richten die Pistole, bevor sie gehen, auf alle, sogar auf die Kinder…

Ende August: Angriff auf DITIB Moschee im Odenwald/ Breuberg

02.09.2012 Berlin: Ein junger Mann wird von zwei Rechtsradikalen (die am gleichen Abend an einem Neonazi-Treffen in Berlin-Schöneweide teilgenommen hatten) attackiert und flüchtet in eine Imbissstube (diese wehren gemeinsam die Täter ab)

02.09.2012 Haiger: versuchter Brandanschlag auf IGMG Moschee

03.09.2012 Hanau: versuchter Brandanschlag auf IGMG Moschee
(Zusammengestellt von Elif Arikan, Initiatorin der Facebookgruppe „Rechtsextreme Gewalt und Übergriffe – Antmuslimischer Rassismus“)

Als ich das Video von dem Einbruch und dem Einschüchterungsversuch bei der Familie Korkusuz gesehen habe, konnte ich zwei Tage kaum noch klar denken. Die Hilferufe und Angstschreie der Kinder und auch der Eltern, gingen mir nicht aus dem Ohren. Auf der anderen Seite hören die Artikel nicht auf, die (…) Antisemitismus bei Muslimen beklagen und dabei Muslimen mehr oder weniger pauschal eine Art Verlogenheit gegenüber Rassismus in den eigenen Reihen vorwerfen. Dabei noch kein Wort der aufrichtigen Anteilnahme zu den Übergriffen auf Muslime, die auch gerade passiert sind.

Doch der antisemitische Übergriff auf den Rabbiner scheint für einige nützlich zu sein, ob nun direkt politisch oder emotional unbewusst. Denn gerade als sich Muslime und Juden begannen anzunähern, ja sogar gemeinsame Aktionen durch zu führen, welche eine der wenigen positiven Konsequenzen der unsäglichen Beschneidungsdebatte ist, werden Konflikte zwischen Juden und Muslimen geschürt. In den Medien geschieht dies, in dem jüdische Opfer groß gemacht werden, während muslimische fast gar nicht erwähnt werden. Zudem wird das Problem des Antisemitismus den Muslimen zugeschoben. Und während Muslime und Juden verletzt und betroffen sich gegenseitig Vorwürfe machen, zieht sich die christlich geprägte Mehrheitsgesellschaft aus der Verantwortung.“