Lesezeichen
 

Fundamentalisten verstehen

Der ägyptische Blogger Sandmonkey macht einen neuen Versuch:

Fundamentalism reaches past all that nonsense and chaos and into a primordial world where men were men and women weren’t, where no decisions ever had to be made, where every single option was laid out ahead of time by a firm but loving God, where families meant a certain thing and sex meant a certain thing, and everything was easy except temptation. But that’s obviously a crock. You can’t honestly tell me there was ever a time when human beings were less complex, less passionate or afraid or unpredictable, less wonderful than they are now.

For me, all this was a revelation on the level of learning, as a kid, that Allah and JHVH and the christian God were the same thing: that all Big Three monotheisms worship the God of Abraham and don’t even bother hiding that fact. The idea that “fundamentalism” was a logically tortured appeal to a beautiful pure world that never existed, and that Al Qaeda and Juniper Creek are essentially parallel movements with the same agenda and arising from the same confusion and fear… Revelatory.

Things are confusing, lots of stuff coming at your face all the time. Sex keeps getting less and less kind, and we keep blaming more and more shit on our parents and our kids, and technology is overwhelming and even the hippest among us can sometimes feel like the world is changing so fast and flying by so carelessly without giving us more than a glimpse of itself, much less a place to grab hold. I can’t say they don’t have a point. But then, terrorists usually do. If they didn’t have something to say (even if it’s usually a crock of bullshit), they wouldn’t feel silenced, and they wouldn’t pull the shit they pull. They wouldn’t feel the need to scream so loudly that the whole world must listen.

Al Qaeda und Juniper Creek (evangelikaler Fundamentalismus)  entstammen allerdings nicht „der gleichen Verwirrung und Angst“ im Angesicht der Moderne. Von einer „gleichen Agenda“ mal ganz zu schweigen. Das mag ein tröstlicher Gedanke sein für einen Ägypter, der sich mit Schrecken dem Fundamentalismus im eigenen Land gegenüber sieht (Al-Zawahiri ist ein ägyptischer Arzt). Aber letztlich bringen solche überzogenen Parallelisierungen nichts.

Den ersten und den dritten Absatz finde ich allerdings treffend.

 

Karsai – so illegitim wie Ahmadinedschad?

Und noch einmal eine Frage, der wir uns in den kommenden Wochen  stellen müssen, wenn die afghanische Regierung gebildet wird.

Karsai hat nach der bisherigen Auszählung der Stimmen eine absolute Mehrheit in Aussicht. Zugleich ist massiver Wahlbetrug festzustellen, wie ihn  zuerst – chapeau! – mein Kollege Ulrich Ladurner in dieser Zeitung dargestellt hat.

Was machen wir denn jetzt? Wir isolieren Ahmadinedschad, weil er durch eine manipulierte Wahl ins Amt gekommen ist und arbeiten mit der neuen Regierung Karsai einvernehmlich zusammen? Wir legen die Zukunft eines Landes, für das unsere Soldaten sterben (und töten) in die Hand eines Wahlbetrügers?

Wie gehen wir damit um, dass wir einen zweiten Iran (was die Legitimität der Wahlen betrifft) unter den Augen der Bundeswehr entstehen sehen?

Das ist das wahre Desaster in Afghanistan, über das gestern im Bundestag kein einziges Wort gefallen ist.

 

Khatami: „Faschistische und totalitäre Methoden“ der Unterdrückung

Damit es nicht untergeht: Der ehemalige iranische Präsident Khatami hat am Sonntag in einer Brandrede gegen die Führung der Islamischen Republik Stellung genommen. Er sprach von „faschistischen und totalitären Methoden“ der Unterdrückung, mit denen die Regierung ihre Gegner abstempeln und mundtot zu machen versucht.

Das ist eine bemerkenswert klare Rede. Khatami macht sich damit sehr angreifbar. Ich finde das sehr mutig.

Und wie um diese Kritik zu bestätigen, ging die Regierung in den folgenden Tagen gegen die Opposition vor. Büros der Organisationen von Mehdi Karrubi und Mir Hussain Mussawi wurden gestürmt, Materialien beschlagnahmt. Menschenrechtsorganisationen werden an der Arbeit gehindert, Beweise über den Mißbauch und die Vergewaltigung von Gefangenen werden von den Behörden einkassiert.

Die New York Times berichtet:

Late Tuesday night, security forces arrested Alireza Hosseini-Beheshti, Mr. Moussavi’s top aide, according to mowjcamp.com, a Web site linked to Mr. Moussavi.

Earlier on Tuesday, as Mr. Karroubi watched, the authorities sealed his office, which had led the effort to document the prison abuses, the semiofficial ILNA news agency reported. Mohammad Davari, the editor of Mr. Karroubi’s Web site, was arrested during the raid, the BBC’s Persian-language Web site reported, and another aide, Morteza Alviri, was arrested at his home.

Also on Tuesday, security forces emptied and sealed the office of the Association for the Defense of Prisoners’ Rights, opposition Web sites reported. The office was founded by a reformist journalist, Emadedin Baghi.

On Monday, the authorities raided an office run by a Moussavi aide that recently said it had confirmed the deaths of 72 protesters. The government has maintained that only 30 people were killed, while some human rights organizations say hundreds may have died.

 

Sorgen eines Wechselwählers (4): Kein Kreuz, nirgends?

Meine wöchentliche Kolumne zur Bundestagswahl, aus der ZEIT von morgen, Nr. 38, S. 9:

Und wenn man diesmal einfach wegbliebe? Nichtwähler würde?
Aufgewachsen unter Stammwählern, die nach der Kirche im besten Anzug (man sagte »Sonntagsstaat« dazu) ihr Kreuz zu machen pflegten, mit Gewissenszweifeln zum Wechselwähler geworden, ist die Hürde immer noch hoch für mich. Aber es könnte passieren, dass sie mich doch noch hinübertreiben. Ich bin ja kein Exot mit solchen Gedanken: Kaum mehr als zwei Drittel sind entschlossen, wählen zu gehen. Bis zu 17 Millionen Wahlabstinente werden diesmal erwartet. Wenn es schlecht läuft für die SPD, hat sie am Ende weniger Stimmen als die sogenannte Partei der Nichtwähler.
Kein Wunder: Die Kanzlerin erstickt zärtlich jeden Profilierungsversuch des Gegners in Umarmungen. Sie hat alles immer schon im Angebot – jetzt sogar den Abzug aus Afghanistan (sie nennt es »verantwortliche Übergabe«). Steinmeier tituliert sie maliziös als »Mitbewerber«. Herausforderer ist er für sie offenbar nicht.
Ein Lagerwahlkampf findet nicht statt. Nicht dass ich mich nach den Zeiten von »Freiheit oder Sozialismus« und »Stoppt Strauß« sehne. Ich frage mich allerdings gelegentlich, ob ich am 27. nicht gleich zu Hause bleiben kann, weil es auf mich nicht ankommt. Denn Merkel wird es wohl am Ende wieder werden, in welcher Konstella­tion auch immer. Die meisten denken das, selbst Sozis, auch wenn sie es nicht sagen.
Wenn sich aber das Gefühl breitmacht, über den Kanzler nicht mehr mitbestimmen zu können, ist erst mal die Luft raus. Bleibt das taktische Wählen, um wenigstens die Koalition mitzubestimmen. Es ist allerdings zu einer hochkomplexen Nanotechnologie geworden. Nie war mir unklarer, was meine Stimme bewirken kann. Mit einem Kreuz bei der Union bekäme ich vielleicht nicht die sozialdemokratisierte Merkel, die mir eigentlich gut gefällt, sondern eine von der FDP getriebene unfreiwillige Retro-Neoliberale. Ich müsste also Steinmeier wählen, um Merkel vor Westerwelle zu beschützen? Wähle ich aber Steinmeier in eine zweite Große Koalition, beschleunige ich womöglich den weiteren Zerfall der SPD (worüber sich dann am meisten die Linke freuen würde). Wähle ich Grün, weiß ich nicht, ob meine Stimme mit Merkel, Steinmeier oder gar Westerwelle (Ampel) nach Hause geht. Und Linkswählen wäre ohnehin schon sehr nah am Nichtwählen, weil (diesmal) niemand mit den Dunkelroten regieren wird. Wenn ich zu viel über diese Optionen nachdenke, habe ich einen meiner ohnmächtigen Nichtwähler-Momente.
Aber wir Wechselwähler sind geltungsbedürftig. Wir stimmen nicht (nur) ab, um Zugehörigkeit zu einer Richtung zu bekunden. Ich wechselwähle auch, weil ich das Gefühl von Einfluss am Wahlabend genieße, wie illusionär auch immer.
Als Nichtwähler müsste ich darauf verzichten. Nur im besorgten Stirnrunzeln der Wahlforscher könnte ich meine Spur erkennen, in ihren Kassandrasprüchen über die »Demokratie ohne Demokraten«. Und so will ich mich am Ende wohl doch nicht sehen.
Mag sein, dass es nie irrationaler war zu wählen. Ich fürchte, ich werde es doch wieder nicht lassen können. Ich möchte mich in den Gewinn- und Verlustbalken am Wahlabend wiederfinden. Ich will die Wirkung meines Kreuzchens auf den Gesichtern geschlagener Favoriten, unverhoffter Aufsteiger und gestürzter Hoffnungen ablesen können.

 

Warum wir in Afghanistan nicht gewinnen können

Mitblogger Zagreus gibt zu Bedenken:

Selbstverständlich kann man einen Guerillakrieg gewinnen – die Frage dabei ist im Grunde sehr einfach: welchen Preis ist man bereit zu zahlen dafür.
WIR können ihn nicht gewinnen, denn wir können den Preis nicht zahlen – und darum bin ich dafür, daß wir aus Afganistan raus gehen und halt die Taliban  dort wieder die Herrschaft ergreifen lassen.
Lau kann sich ja dann wieder über irgendwelche Hinrichtungen und Steinigungen in Sportarenen aufregen …
Wie gewinnt man solch einen Guerilla-Krieg: (…) indem man noch grausamer als die Taliban gegen all die vorgeht, die irgendwie den Taliban helfen.
Den Leuten muss bewußt werden, daß Hilfe für einen Taliban in irgeneiner Form einem Todesurteil für sich und seine Gemeinschaft gleichkommt. Hingegen muß es ein gutes Geschäft sein, sich gegen die Taliban zu stellen – und nicht wie jetzteinem Selbstmord gleichkommen.

Lau jammert in einem Kommentar weiter oben über die ‚verbrannten Leichen‘, und andere Journalisten sind geschockt darüber, daß ‚Zivilisten‘ umgekommen sind – nachts um ca. 2:30 bei einem Angriff
auf Tanklastwägen mehrere Kilometer vom nächsten Dorf entfernt. Zivilisten? Kinder? – Pech gehabt, oder: das waren mindestens Sympathisanten – Leute, die es als relativ ungefährlich eingeschätzt haben sich den Taliban dort zu nähern.

Eine entscheidende Frage gibt es aber trotzdem – und auf die wüßte ich gerne eine Antwort: was wollen wir dort erreichen langfristig bei diesen Menschen?
Das wir für uns wollen, daß Afganistan relativ stabil ist und von dort keine Unterstützung für Terroristen mehr ausgeht, ist eine Seite.


Aber was haben wir den Menschen dort zu bieten im Gegenzug?
Irgendwie sehe ich nicht, wie in Afganistan in absehbarer Zeit irgendeine breitflächigere wirtschaftliche Perspektive aufgebaut werden kann, die helfen kann, die dortigen arachaischen Strukturen, diese Stammes-, Clan- und Dorf-Feudalherrschaften zu einer Zivilgesellschaft umzuwandeln.
Ich will dabei kein Wunder erwarten – allein sollte schon ein Bauer z. b. die Möglichkeit haben vom Verdienst seiner Hände sich und seine Familie ernähren zu können und nicht auf Drogenanbau angewiesen sein.
Das Land muss zumindest intern genug erwirtschaften, um eine funktionierende Infrastruktur (…) aufrecht erhalten zu können – so daß z. b. irgendwann eine Entwaffnung der Bevölkerung eintreten kann.
Darauf habe ich irgendwie keine Antwort …

Auch sollte man nicht vegessen, was die Taliban geleistet haben.
Sie haben (…) die meisten Streitereien der sich untereinander bekämpfenden Stammesfürsten und Warlords beendet – zum Teil einfach dadurch, daß sie jeden umbrachten, der dagegen verstoßen hatte. Damit haben sie eine Sicherheit geschaffen –  Sicherheit, die aus Angst entspringt, aber Sicherheit. Die antiken Strafen des Gesetzgebers Drakon waren ebenfalls inhuman und doch ein Fortschritt gegenüber all dem, was vorher war – nämlich sich bekriegenden Adelsgeschlechtern. Man sollte im Auge behalten, daß schlimme Zustände besser sind als noch Schlimmeres.

 

Afghanistan: Die potemkinsche Wahl

Angesichts dieser Meldung wiederhole ich meine Frage von letzter Woche: Was eigentlich unterscheidet die afghanische Wahl noch – was ihre (Il)Legitimität angeht, von der iranischen?

DPA: Neue Vorwürfe über massiven Wahlbetrug in Afghanistan: Nach einem Bericht der «New York Times» haben Anhänger von Präsident Hamid Karsai bei der Abstimmung am 20. August bis zu 800 «Phantom-Wahllokale» eingerichtet, in denen in Wirklichkeit niemand seine Stimme abgab. Aus den fiktiven Wahllokalen seien aber jeweils tausende Stimmen für Karsai registriert worden, berichtete das Blatt am Montag unter Berufung auf Diplomaten. «Wir gehen davon aus, dass 15 Prozent der Wahllokale am Wahltag niemals geöffnet hatten», zitiert die Zeitung einen westlichen Diplomaten. «Dennoch meldeten sie tausende Stimmen für Karsai.» Bereits zuvor hatte es immer wieder Berichte über Wahlbetrug zugunsten Karsais gegeben, der nach offiziellen Auszählungen in Führung liegt.

Mehr hier.

 

Doch keine Peitsche wegen Hosentragens

Manchmal bringt es eben doch etwas, wenn sich unsereiner aufregt. Lubna Hussein, die im Sudan wegen „unislamischen Verhaltens“ angeklagte ehemalige UN-Mitarbeiterin, wird nun doch nicht ausgepeitscht.

Und dass die Sache solche internationale Aufmerksamkeit hatte, wird dazu beigetragen haben, dass diese Frau (diesmal) nicht die Rute zu spüren bekommt – wie leider viele andere.

Dass sie dennoch verurteilt wurde, ist anstössig genug. Aber vielleicht wankt die Terrorherrschaft der bärtigen Herren gegen selbstbewußte Frauen doch ein wenig.

DPA meldet: Die sudanesische Journalistin Lubna Hussein ist am Montag wegen «unanständigen Verhaltens in der Öffentlichkeit» zur Zahlung von umgerechnet 140 Euro verurteilt worden. Auf eine Auspeitschung verzichtete das Gericht, berichtete der britische Rundfunksender BBC.
Hussein war im Juli zusammen mit zwölf anderen Frauen von der Religionspolizei festgenommen worden, weil sie Hosen trugen. Die meisten der Frauen, einige von ihnen minderjährig, hatten sich nach der Festnahme als schuldig bezeichnet und waren mit jeweils zehn Peitschenhieben bestraft worden.

Hussein, die von Frauengruppen aus dem Sudan und mehreren arabischen Ländern unterstützt wird, bestand auf einem Prozess und nutzte das Verfahren, um eine Streichung des Gesetzes zu fordern. Sie hatte sogar ihre Arbeit für die UN im Sudan gekündigt, da das Verfahren sonst wegen ihrer diplomatischen Immunität eingestellt worden wäre. Mehrere Frauen, einige von ihnen in Hosen gekleidet, wurden am Montag daran gehindert, das Gerichtsgebäude zu betreten.

 

Hello again

Liebe Mitblogger,

ich muss um Entschuldigung bitten für die Blogabstinenz.

Die neue Software muss noch angeeignet werden – und ausserdem bin ich gerade durch die Ereignisse in Afghanistan in Anspruch genommen.

Bald mehr! JL

 

Pause

Werte Mitblogger, last orders!

Um 23 h wird das Blog zwecks Aufhübschung bis Sonntagmittag geschlossen.

Lesen kann man wohl, aber Kommentare werden nicht möglich sein.

Sorry.

Bis bald.

Ihr Blogmaster.

 

Die Rückseite von Woodstock

Ab und zu darf ich in meiner Zeitung auch über Dinge schreiben, die mir wirklich wichtig sind. Filme zum Beispiel. (Ich schaue fast jeden Tag einen Film, seit ich mit einer ehemaligen Filmkritikerin verheiratet bin.) Und manchmal darf ich dann meine Meinung dazu sagen, wie hier über Ang Lees (mein Lieblingsregisseur der letzten 15 Jahre) neuen Film „Taking Woodstock“. Aus der ZEIT von morgen:

Ang Lee hat sich schon wieder ein neues Milieu, ein neue Ära zu eigen gemacht – nun also Woodstock und die späten Sechziger. Man fragt sich bewundernd, ob es eigentlich irgendetwas gibt, das dieser Regisseur nicht kann. Und zugleich bleibt man doch ein kleines bisschen enttäuscht zurück, denn „Taking Woodstock“ ist sicher kein ganz großer Film unter den vielen, die wir Lee schon zu verdanken haben. Gegen den abgründigen Spionage-Thriller „Gefahr und Begierde“ etwa fällt die luftig-leichte Hippie-Komödie deutlich ab. Und von „Brokeback Mountain“, dem größten Melodrama der letzten Jahre, wollen wir mal gar nicht erst anfangen. Aber müssen sich Genies denn immer selbst übertreffen?
Ein Rätsel, wie jemand so vielfältig erzählen kann: Ang Lees Filmwelt spannt sich auf zwischen Taiwan und Montana, zwischen Jane Austen und Marvel-Comics, zwischen chinesischen Familiendramen im heutigen Hongkong und einer tragischen schwulen Erweckungsgeschichte im Cowboymilieu der Fünfziger. Lee ist der große Melodramatiker, der Gefühls- und Beziehungsregisseur unserer Tage – ein Douglas Sirk ohne Kitsch, der zu seiner und unserer Entspannung gelegentlich auch mal einen Actionfilm macht.
Oder eine leichte Komödie wie diese hier, seine erste seit fünfzehn Jahren, als er mit dem „Hochzeitsbankett“ und „Eat Drink Man Woman“ auf der Szene erschien. Doch diesmal hat Lee sich eine wahre Geschichte vorgenommen – eine Premiere in seinem Oeuvre. Es wird erzählt, wie es dazu kam, dass eine halbe Million Hippies in das Kaff Bethel bei Woodstock einfiel, tief im „Borscht-Belt“ der Catskills gelegen, wo sonst jüdisch-osteuropäische Einwanderer ihre Sommerfrische zu verbringen pflegen. Dass dieser Film kein ganz grosser geworden ist, mag durchaus damit zu tun haben, dass Lee das Material nicht vollkommen gehört. Offenbar braucht er für seine Höhenflüge die Freiheit des Fiktionalen. Diesmal aber bilden die Erinnerungen Eliot Teichbergs den Rahmen, eines eher obskuren, aber entscheidenden Hintermanns des Woodstock-Festivals.

Eliot wollte eigentlich bloß seinen Eltern helfen, die Zwangsversteigerung ihres heruntergekommenen Motels abzuwenden. Dabei ist es kein Wunder, dass sie vor dem Ruin stehen: Seine dominante Mutter (wunderbar kratzbürstig: Imelda Staunton) und sein unterdrückter Vater (Henry Goodman) sind wohl die ungastlichsten Wirtsleute, die man sich denken kann – wortkarg, bitter, knauserig. Als Eliot, der eigentlich Innenausstatter in New York werden möchte, von einem Musikfestival hört, das in einem Nachbarort an den Vorbehalten der Bewohner gegen die Hippies zu scheitern droht, kommt er auf eine Idee mit Folgen: Sollen die Hippies doch nach Bethel kommen und auf der Wiese der Teichbergs ihr Festival abhalten! Am Ende wird es zwar die Wiese des Nachbarn Max Yasgur werden, weil die Teichberg-Farm in Wahrheit zu weiten Teilen ein Sumpfgebiet ist. Aber das kaputte Motel der Eltern wird tatsächlich zur Keimzelle des größten Ereignisses der Gegenkultur der 60er. Die Organisatoren haben hier ihr Büro, einige zentrale Bands steigen in dem Haus ab, und Hunderte kampieren am Ende auf dem Land der Teichbergs.
Doch das ist alles nur der Hintergrund für die Geschichte Eliots, seiner Familie und Freunde. Eliot, gespielt von dem sehr witzigen Comedian Demetri Martin in seiner ersten Rolle, wird zu unserem Führer durch die legendären Tage voller Frieden, Matsch und Musik. Er verliert seine Jungfräulichkeit mit einem der Bühnenarbeiter, er schmeißt seinen ersten Trip, und schließlich lernt er seine Eltern von einer neuen Seite kennen. (Wenn ich richtig gezählt habe, ist dies bereits das dritten schwule Coming Out in Lees Werk – ziemlich bemerkenswert für einen erklärtermaßen heterosexuellen Regisseur, der Vater zweier Söhne ist.) Die Teichbergs betrachten die langhaarigen jungen Leute mit den auffällig geweiteten Pupillen zunächst voller Verdacht, wie alle in der verschlafenen Gemeinde. Dann jedoch entdecken sie zahlreiche Möglichkeiten, ein gutes Geschäft mit ihnen zu machen, weil es viel zu wenig Schlafplätze und Verpflegung für die in Scharen anreisenden Freaks gibt. Und schließlich werden auch sie kurz vom Geist des Wassermannzeitalters erfasst – mit Hilfe einiger Kekse mit speziellen Zutaten. Eine der schönsten Szenen des Films zeigt die beiden alten Herrschaften vollkommen stoned und ausgelassen tanzend – vielleicht zum ersten Mal entspannt und befreit, seit die beiden Einwanderer das Shtetl in Weissrussland verlassen haben.
Dies ist kein Woodstock-Film. Wir sehen weder Hendrix, noch Joplin, noch die Who. Niemand imitiert Richie Havens. Manchmal wehen zwar einige Akkorde zum „El Monaco“-Motel herüber. Aber hier geht es im Grunde, wie so oft bei Ang Lee, um die Lebenswege einiger nicht ganz normaler Individuen, die vom Wind des Wandels erfaßt werden. Diesmal ist es kein Eissturm, der Menschen von ihrem Weg abbringt und ihre Beziehungen zertrümmert – wie in dem gleichnamigen Film. Es ist eine freundliche Brise: Eliot hat sein Coming out, seine Eltern schütteln die alte Einwandererangst ab, Eliots Freund Billy lernt mit seinem Vietnamtrauma zu leben, Max Yasgur lernt die Hippies als höfliche Menschen zu lieben. Und der muskulöse Transvestit und Ex-Marinesoldat Vilma findet seine Lebensaufgabe als Security-Dragqueen im rosa Fummel. Liev Schreiber ist in dieser Rolle der heimliche Held des Films, mit langen blonden Haaren, imposanten Oberarmen und einem Herz aus Gold.
Es macht Spaß, sich die Rückseite des berühmten Festivals von Ang Lee ausmalen zu lassen. Aber hier liegt auch ein Problem des Films: Im Vergleich zu Lees großen Melodramen wie „Eissturm“, „Brokeback Mountain“ oder „Gefahr und Begierde“ wirkt „Taking Woodstock“ irgendwie spannungslos. Und das ist ausgerechnet bei diesem Thema dann doch misslich.
Martin Scorcese war als junger Regisseur an der legendären Woodstock-Doku von Michael Wadleigh beteiligt, die unser Bild des Festivals geprägt hat. Im Rückblick hat Scorcese einmal gesagt: „Heute schauen viele Leute sentimental auf den Geist von Woodstock zurück. Aber ich glaube, er enthielt Elemente von etwas Bedrohlichem, die nie gezündet wurden.“ Schade, dass Ang Lee diese bedrohlich lauernden Elemente nicht wenigstens zeigt: Drogenwahn, Gewalt und Kommerz, die leider schon bald die Bewegung verschlingen sollten. Die Kostbarkeit des Moments unverhoffter Freiheit, den wir mit Eliot, seine Freunden und seinen Eltern erleben, hätte das noch gesteigert.