In Afghanistan tobte viele Jahre lang ein Krieg. Doch der Zoo in der Hauptstadt Kabul blieb selbst in den schwersten Zeiten geöffnet. Die Besucher trafen dort ihren Helden: Den Löwen Marjan aus Deutschland
Von Ulrich Ladurner
Im Zoo von Kabul gibt es kaum noch Tiere. Das war nicht immer so. Früher einmal lebten hier sogar sehr viele wilde Geschöpfe: Bären, Affen, Giraffen, Löwen, Elefanten. Die Menschen kamen in Scharen, um sie anzusehen und zu füttern. Doch dann kam der Krieg. Dieser Krieg begann vor dreißig Jahren, und so richtig aufgehört hat er bis heute nicht: Bis heute geht es darum, wer in Afghanistan herrschen soll und wie die Menschen dort leben wollen. Zuerst war der Krieg weit weg von Kabul. Er spielte sich irgendwo in den Bergen und Wüsten Afghanistans ab. Die Leute in der Stadt bekamen davon wenig mit. Sie hörten die schlechten Nachrichten, doch versuchten sie, ihr Leben so normal wie möglich zu führen.Sie gingen weiter in den Zoo. Bei schönem Wetter kamen sie zu Tausenden hierher. Sie hörten mit gespieltem Entsetzen das Brüllen der Löwen, sie lachten über die Späße der Affen und bestaunten mit offenen Mündern die riesenhaften Elefanten. Die Eisverkäufer im Zoo machten gute Geschäfte. Die Zuckerwatte, die ein Mann namens Achmed an der Ecke gleich neben dem Löwenkäfig anbot, lief am besten. Die Watte war rosa, und wenn man in sie hineinbiss, löste sie sich sofort in klebrigen Zucker auf. Der setzte sich hartnäckig an den Zähnen fest und schmeckte nicht einmal gut. Trotzdem hatte Achmed großen Erfolg: Er hatte einfach den richtigen Platz ergattert. Denn im Löwenkäfig lebte das Tier, das lange Zeit die größte Attraktion des Zoos war, der Löwe Marjan. Die Besucher nannten ihn: »Marjan, der Löwe aus Deutschland!« Denn er war das Geschenk eines deutschen Zoos an die Bürger der Stadt Kabul. Das Geschenk sollte ein Zeichen der Freundschaft zwischen den beiden Ländern sein. Die Freundschaft zwischen Afghanistan und Deutschland ist alt und bis heute gut. Die Kabulis, so nennt man die Einwohner von Kabul, liebten Marjan.
Doch der Krieg rückte unerbittlich näher an Kabul heran. Schließlich fielen Bomben auf die Stadt. Die Menschen hatten große Angst, sie suchten Schutz in ihren Häusern und gingen kaum mehr ins Freie. Auch die Wärter des Zoos kamen immer seltener, bis sie schließlich ganz wegblieben, weil der Weg in den Zoo zu gefährlich wurde. Der Krieg wütete inzwischen mitten in der Stadt. Feindliche Soldaten schossen in den Straßen aufeinander. Die Tiere im Zoo blieben sich selbst überlassen. Sie hungerten, sie hatten Durst und bekamen nur selten Futter und Wasser. Nach einigen Wochen Krieg in Kabul kam überhaupt kein Wärter mehr zu ihnen. Und selbst wenn einer das Wagnis auf sich genommen hätte: Womit hätte er die Tiere füttern sollen? Auch die Menschen hatten ja nichts mehr zu essen. Sie hungerten. Im Zoo starben die schwächsten Tiere zuerst, anderen gelang die Flucht. Immer wieder schlugen Granaten in die Gebäude des Zoos ein und rissen Löcher in die Gitter und Mauern. Affen, Elefanten und Giraffen entkamen und irrten durch die Straßen der Stadt, wo viele von ihnen von Soldaten erschossen wurden. Andere überlebten, indem sie in die Berge flohen. In Kabul erzählt man sich, dass manche von ihnen noch heute dort leben und darauf warten, dass sie in ihren Zoo zurückkehren können. Achmed, der Verkäufer der Zuckerwatte, behauptet, dass am Kamm des Berges oberhalb Kabuls immer wieder Affen zu sehen seien, die in die Stadt hinunterschauten: sehnsüchtig, meint er. Doch kaum einer glaubt ihm. Jeder denkt, dass Achmed es einfach nicht erwarten kann, bis der Zoo wieder voller Tiere ist, damit er seine Zuckerwatte verkaufen und gutes Geld verdienen kann. Das wundert niemanden. Doch bisher sind die Affen leider nicht von ihren Bergen heruntergekommen.
Ein Trost blieb den Kabulis selbst in den schlimmsten Zeiten: Marjan. Der Löwe aus Deutschland flüchtete nicht aus dem Zoo. Er hätte es tun können, denn in seinem Käfig klaffte ein riesiges Loch, das eine Granate gerissen hatte. Doch er blieb. Warum, kann keiner sagen. Marjan magerte ab, aber er starb nicht vor Hunger. Irgendjemand muss ihn gefüttert haben, oder er beschaffte sich das Futter selbst auf geheimnisvolle Weise. Je länger Marjan aushielt, desto mehr liebten ihn die Kabulis. Denn der Krieg hatte sie zu Gefangenen in ihrer eigenen Stadt gemacht. Sie konnten nirgendwo hin, und niemand konnte zu ihnen. Sie waren vergessen von der Welt. Und es schien ihnen, dass nur Marjan, der Löwe aus Deutschland, ihnen die Treue hielt.
Marjan starb an dem Tag, als der Krieg Kabul verließ. Die Menschen trauerten um ihn. Sie nannten ihn nun: Marjan, der Löwe aus Deutschland, der uns im Krieg Hoffnung gab. Sie begruben ihn im Zoo und errichteten ein schönes Grabmal für ihn. Die Kabulis sagen, dass Marjan blieb, um den anderen Tieren zu zeigen, dass ihr Platz im Zoo sei. Hier haben sie eine Aufgabe: die Menschen zum Staunen, zum Lachen, zum Jubeln und Jauchzen zu bringen und ihnen Trost zu spenden, selbst in der Not. So wie Marjan es getan hat, der Löwe aus Deutschland.