Bis vor 20 Jahren gab es zwei deutsche Staaten. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse erklärt, warum die Menschen mit dem einen Staat so unzufrieden waren, dass sie ihn abschafften
Am 9. November vor 20 Jahren ist in Berlin die Mauer gefallen. Nicht einfach so: Sie wurde von vielen mutigen Menschen in der DDR umgestürzt. Heute ist es kaum noch vorstellbar, dass es einmal zwei deutsche Staaten gab – die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) – und dass Berlin einmal durch eine hohe Mauer geteilt war. Wenn Ihr aufmerksam durch die Stadt geht, könnt Ihr noch Spuren davon finden.
Die Bundeskanzlerin und ich kommen aus der DDR – dem Land, das es heute zum Glück nicht mehr gibt. Aber warum hat es überhaupt einmal zwei deutsche Staaten gegeben? Nach dem von Deutschland begonnenen furchtbaren Zweiten Weltkrieg haben die Sieger, die Sowjetunion (heute Russland), die USA, England und Frankreich, Deutschland und die Hauptstadt Berlin aufgeteilt. 1949, also vor 60 Jahren, wurde aus dem sowjetischen Teil im Osten die DDR, und aus dem westlichen Teil wurde die Bundesrepublik Deutschland. West-Berlin lag 40 Jahre lang wie eine Insel in der DDR.
In der Bundesrepublik entstand ein demokratischer Staat. Es gab einen wirtschaftlichen Aufschwung, und den Menschen ging es bald viel besser als in der Zeit nach dem Krieg. In der DDR sollte eine kommunistische Gesellschaft aufgebaut werden, in der alles gerecht zugeht. Aber das ist nicht gelungen, sondern die Menschen wurden immer unzufriedener, denn sie durften nicht frei ihre Meinung sagen, es gab keine richtigen Wahlen, und man konnte vieles nicht kaufen. 1953 gab es einen Aufstand dagegen, der aber mit Panzern niedergeschlagen wurde. In so einem Land wollten viele Menschen nicht leben und verließen die DDR.
Damit nicht noch mehr Menschen fortgingen, haben die DDR-Politiker ihre Bevölkerung einfach eingesperrt. 1961 – ich war damals 17 Jahre alt – wurde in Berlin die Mauer gebaut und die Grenze zum Westen Deutschlands geschlossen. Das bedeutete, dass sich viele Verwandte und Freunde nicht mehr besuchen und sehen durften. Für DDR-Bürger war es bis zum Ende der DDR ganz schwer, eine Erlaubnis zu bekommen, um in den anderen Teil Deutschlands oder in andere Länder zu reisen. Die DDR war für viele also wie ein großes Gefängnis. Es wurde sogar auf Menschen geschossen, die versuchten, über die Mauer zu fliehen. Allein in Berlin starben 136 Menschen an der Mauer.
Die DDR führte zwar »demokratisch« im Namen, aber sie war es nicht. Demokratie heißt, dass man sich aussuchen kann, ob und wen man wählt. In der DDR gab es nichts auszusuchen. Das Ergebnis stand immer schon vorher fest. Man wurde trotzdem unter Druck gesetzt, zur Wahl zu gehen. Wenn wir am Wahltag mittags noch nicht »wählen« waren, klingelte es an der Tür, und wir wurden erinnert, das doch möglichst bald zu tun. Wer nicht hinging oder die Wahlkabine benutzte, wurde aufgeschrieben.
In den Zeitungen stand immer nur das, was die Sprecher der herrschenden Partei SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) vorgaben. Es gab zwar verschiedene Zeitungen, aber es stand doch in jeder das Gleiche. Im Fernsehen und Radio war es genauso. Wenn wir erfahren wollten, was wirklich passierte, mussten wir Westfernsehen, zum Beispiel die Tagesschau, sehen. Die SED versuchte, das zu verhindern, indem spezielle Sender den Fernseh- und Radioempfang störten. Als Kind musste ich immer ganz leise sein, wenn im Westrundfunk die Übertragungen aus dem Bundestag liefen, denn durch die Störungen konnte man kaum etwas verstehen.
Für viele Kinder war es gar nicht so einfach, damit umzugehen, dass sie zu Hause von den Eltern oft das Gegenteil hörten von dem, was sie in der Schule lernten. Zum Beispiel stand in den Schulbüchern: »Religion ist Opium für das Volk.« Das ist ein Zitat von Karl Marx, der damit meinte, dass der Glaube an Gott die Menschen wie Drogen betäuben würde. Meine Frau und ich haben unsere Kinder im christlichen Glauben erzogen. Deshalb durften wir irgendwann nicht mehr in der Elternvertretung mitmachen. Unsere Tochter entschied sich bewusst dagegen, Pionier zu werden. Diese Entscheidung bedeutete, anders zu sein als die anderen Kinder in ihrer Klasse, denn in der Pionierorganisation waren fast alle, erst als Jungpionier mit blauem Halstuch, dann als Thälmannpionier mit rotem Halstuch. Es kam oft vor, dass Kinder, die in die Kirche gingen, nicht Abitur machen oder studieren durften. Auch deshalb waren wir sehr froh, dass für unsere Kinder die Mauer rechtzeitig gefallen ist und ihnen dann alle Wege offenstanden.
In diesem Jahr wird viel darüber diskutiert, ob die DDR ein Unrechtsstaat war. Darauf antworte ich immer, dass man unterscheiden muss zwischen dem Staat DDR und den Menschen, die darin gelebt haben. In der DDR passierte sehr viel Unrecht. Aber die meisten Menschen haben versucht – unter diesen schwierigen Bedingungen –, ein richtiges, anständiges Leben zu leben. Und dieses richtige Leben und der bewahrte Mut haben 1989 dazu geführt, dass Hunderttausende Menschen gegen dieses Unrecht auf die Straße gingen und so die Mauer zum Einsturz brachten. An dieses Glück und den Mut der Menschen sollten wir uns immer wieder erinnern!