Chinesisch ist die meistgesprochene Sprache der Welt. Sie zu lernen ist allerdings sehr schwierig. Wer schon als Kind übt, hat es leichter
Von Anna Marohn
Frau Yue ruft »zou!« und hält dazu eine Karte hoch, auf der ein rotgrünes Zeichen steht. Franziska, Luna und die
anderen Mädchen gucken sich kurz an, dann laufen sie los. Schon ruft Frau Yue »lì!«, und die Mädchen bleiben wie angewurzelt stehen. Als Frau Yue »zuò!« ruft, setzen sich alle hin. Was beim ersten Hören vielleicht klingt wie eine Geheimsprache, ist die meistgesprochene Sprache der Welt: Chinesisch.
Lei Yue ist Chinesin. Jeden Donnerstagnachmittag unterrichtet sie in einer Grundschule in Norderstedt chinesische und deutsche Kinder in ihrer Muttersprache. Dabei steht Frau Yue nicht die ganze Zeit an der Tafel, zwischendurch machen sie Spiele wie Zou-lì-zuò.
Die neunjährige Franziska ist vor ein paar Monaten durch einen chinesischen Freund auf die Idee mit dem Sprachunterricht gebracht worden. »Mit Frau Yue macht das auch richtig viel Spaß«, sagt sie. Luna, sieben Jahre alt, ist sehr schlau und findet die Schule oft ein bisschen langweilig. Deshalb wollte sie gerne in ihrer Freizeit eine fremde Sprache lernen.
Viele Leute sagen, dass Chinesisch immer wichtiger wird, weil das riesengroße Land mit bald eineinhalb Milliarden Einwohnern immer mehr an Einfluss gewinnt. Man muss nur mal gucken, wo die Sachen herkommen, die man täglich benutzt: Vom Regenschirm bis zum Stofftier, fast immer steht irgendwo in kleinen Buchstaben made in China, hergestellt in China. Im Augenblick sind diese Hinweise noch auf Englisch, weil Englisch sich als Weltsprache durchgesetzt hat. In der Geschäftswelt etwa unterhalten sich die meisten auf Englisch – auch dann, wenn alle Beteiligten aus Ländern kommen, in denen andere Sprachen gesprochen werden.
Aber könnte nicht bald Chinesisch Weltsprache sein? Würden dann überall nur noch die für uns fremden Zeichen statt der vertrauten Buchstaben stehen? Und müssten dann alle Chinesisch lernen, wenn sie später einen guten Job wollten? Ja und nein. Es gibt mehrere gute Gründe, warum das Chinesische nicht so schnell die englische Sprache ersetzen wird. Erstens: Chinesisch ist nicht gleich Chinesisch. Es gibt neben dem Hochchinesischen, das Mandarin heißt, ganz viele Dialekte, die vollkommen unterschiedlich sind.
Wenn ein Chinese aus dem Norden des Landes einen aus dem Süden trifft, kann es sein, dass sie sich nicht unterhalten können. Nur schriftlich – denn die Zeichen sind dieselben. Zweiter Grund: Mandarin sprechen zwar mehr Menschen auf der Welt als Englisch, weil es so viele Chinesen gibt. Aber es wird eben fast nur in China gesprochen.
Zur Weltsprache eignet es sich auch deshalb nicht gut, weil es so schwer zu lernen ist. Schon chinesische Kinder müssen früh anfangen, die Zeichen immer und immer wieder zu schreiben, damit sie später möglichst viele beherrschen. Etwa 3000 muss man können, um Zeitung zu lesen, als gebildet gilt, wer 10 000 Zeichen kennt. Die Schriftzeichen setzen sich meist aus mehreren Teilen zusammen. Zuò (sitzen) zum Beispiel besteht aus zweimal dem Zeichen für Mensch und einmal dem für Erde, das heißt: Zwei Menschen sitzen auf der Erde. Auch die Aussprache ist knifflig: Es gibt vier unterschiedliche Arten, Wörter zu betonen. Zum Beispiel spricht man lì (stehen) im vierten Ton, der wie ein Befehl klingt. Betont man das Wort im zweiten Ton, bei dem man wie bei einer Frage die Stimme hebt, bedeutet lí nicht mehr stehen, sondern Birne. So ist das bei allen chinesischen Wörtern – je nach Betonung sagt man gleich etwas ganz anderes.
Für eine Weltsprache ist das natürlich unpraktisch, weil es leicht zu Missverständnissen kommen kann. Trotzdem ist es für Unternehmen gut, wenn ihre Mitarbeiter Chinesisch können. Denn weil das Land immer reicher wird, können die Firmen mehr Waren dorthin verkaufen. Und natürlich können sie das besser, wenn sie Mitarbeiter haben, die Mandarin sprechen.
Wie bei den meisten Dingen gilt, dass man Chinesisch leichter lernt, wenn es einem Spaß macht. Bei Franziska und Luna ist das so. Franziska sagt, sie mag Chinesisch, weil sie gerne Sprachen lernt. Sie kann sich durchaus vorstellen, später in China zu arbeiten, »wenn es da gute Jobs gibt«. Spannend findet sie auch, wie die Menschen in China leben.
Gerade sprechen zum Beispiel viele über die Chinesin Amy Chua. Sie hat ein Buch geschrieben, in dem es darum geht, Kinder streng zu erziehen, damit sie später erfolgreich sind. Frau Yue ist in ihrem Chinesisch- Unterricht in Norderstedt nicht streng. Da werfen die Kinder einen großen Stoffwürfel und rufen dazu laut die Zahlen auf Chinesisch. Und wer sich als Erster ein neues Zeichen merken kann, für den gibt es ein Bonbon oder einen Keks.
Die Eltern von Luna und Franziska wollen nicht, dass ihre Kinder sich im strengen Chinesisch-Unterricht quälen. Und sie wollen auch nicht, dass ihre Kinder die Sprache nur lernen, damit sie später bessere Chancen im Beruf haben. »Wir wollten für Luna vor allem einen Ausgleich zur Schule, der ihr Spaß macht«, sagt ihre Mutter. Und der Vater von Franziska denkt zwar, dass es nicht schaden kann, Chinesisch zu lernen. »Drillen wollen wir unsere Tochter aber nicht«, sagt er. Wenn Franziska ihre Chinesisch-Hausaufgaben macht, schaut der Vater ihr gerne über die Schulter. Dabei hat er nämlich selbst schon was gelernt: Yī, èr, sān. »Bis drei zählen kann ich mittlerweile auch.«