Kunststücke üben, Tiere versorgen und jede Woche eine neue Schule besuchen: Als Kind im Zirkus aufzuwachsen klingt aufregend – ist aber auch anstrengend
Von Gudrun Kirfel
Drei Monate war Henry alt, als er zum ersten Mal in der Manege des Zirkus auftrat. Er lag in der Hand seines Vaters, der mit ihm über ein Seil balancierte. Seine Mutter hatte dem Baby eine rote Nase gemalt und ein winziges Clownskostüm genäht. Heute ist Henry 18 Jahre alt und hat eine eigene spektakuläre Nummer: Auf vier leere Sektflaschen stellt er einen Stuhl, auf dem er einen Handstand macht. Wenn das Publikum im Zirkuszelt geklatscht hat, nimmt er noch einen Stuhl, stellt ihn auf den unteren, macht wieder einen Handstand – und so weiter. Am Ende seiner Nummer hat er fünf Stühle übereinandergestapelt und macht hoch oben kerzengerade Handstand.
Nur mit einem winzigen Drahtseil ist Henry dabei gesichert. Wenn die Stühle ruckeln, halten die Menschen auf den Zuschauerbänken die Luft an. Etwa einmal im Jahr passiert es, dass Henry mit dem Stuhlturm umkippt. Dann zieht sein Vater blitzschnell am Seil, und Henry baumelt oben in der Luft. Aber das Publikum klatscht dann beim zweiten Versuch noch viel mehr. Der junge Artist liebt diesen Applaus, den er schon als Baby gehört hat.
Henry heißt mit Nachnamen Quaiser, genauso wie der Zirkus, der seinen Eltern Jakob und Sonja gehört. Sie haben den Familienbetrieb von ihren Eltern übernommen und die schon von ihren Großeltern. Henry und sein älterer Bruder Alexander sind die fünfte Generation der Quaisers, die mit dem blau-gelb gestreiften Zelt durch Norddeutschland ziehen. Zehn Familienmitglieder sind sie insgesamt, jeder tritt in mindestens zwei Nummern auf. Henry ist Artist und Ziegendompteur (außerhalb der Manege auch Kartenabreißer, Tierpfleger und Süßigkeitenverkäufer).
Das ganze Jahr über wohnt Henry im Wohnwagen, dort gibt es ein Bett, eine kleine Sitzecke und eine Toilette. Seit er zwölf Jahre alt ist, hat er einen eigenen Wagen, vorher teilte er sich einen mit seinem Bruder. Auch seine Eltern haben einen Wohnwagen, genauso wie seine Großeltern, seine Cousine und sein Cousin. Hinter dem Zirkuszelt stehen sie aufgereiht nebeneinander. Jede Woche spielt der Zirkus woanders. Dann müssen die Wohnwagen und das Zelt abgebaut und in einer anderen Stadt wieder aufgebaut werden.
Als Henry sechs Jahre alt war, gastierte der Zirkus im Spätsommer eine Woche lang auf der Insel Föhr, und so kam es, dass Henry dort eingeschult wurde. Fünf Tage besuchte er seine erste Schule, als der Zirkus dann am Wochenende weiterzog, kam er am folgenden Montag in eine andere Klasse an einer anderen Schule in einer anderen Stadt.
So ging es fortan jede Woche. Das Einzige, was blieb, war ein großes blaues Schulbuch, das alle fahrenden Leute (so heißt es, wenn Menschen keine feste Wohnung haben) von der Schulbehörde für ihre Kinder bekommen. In dieses Buch schrieben die Lehrer am Ende einer Woche, was ihnen an Henry aufgefallen war. Meist stand da, dass der Junge freundlich ist, besonders gut in Sport, aber nicht so gut in Mathe.
Jede Woche in eine neue Schule zu kommen, war das nicht schwierig? »Nein«, sagt Henry heute. Nur den ersten Tag fand er immer »ein bisschen eklig«, weil ihn alle so angestarrt haben. Aber meist wurde es schnell besser. Kein Wunder, wer will nicht gerne einen Mitschüler haben, der in der Pause mit einem Salto vom Lehrerpult springt?
Länger an einer Schule, nämlich drei Monate, blieben Henry und sein Bruder immer nur im Winter – dann, wenn es zu kalt ist, um Zirkus zu machen. Dann schrieben sie auch alle Tests und Klassenarbeiten mit, vor denen sie sich sonst oft drücken konnten. Im letzten Frühjahr hat Henry versucht, seinen Hauptschulabschluss zu machen. Er hat viel dafür gelernt, aber es hat trotzdem nicht geklappt. Er durfte die Prüfungen nicht an verschiedenen Schulen ablegen, und lange genug an einem Ort konnte der Zirkus nicht bleiben. Jetzt muss Henry nicht mehr zur Schule gehen – und er will auch nicht noch einmal versuchen, einen Abschluss zu machen. Später möchte er sowieso den Zirkus von seinen Eltern übernehmen, da brauche er keinen Schulabschluss, sagt er.
Dafür muss es den Zirkus allerdings weiterhin geben. Die Vorstellungen der Quaisers sind aber nur noch selten ausverkauft. Viele Leute gehen heute lieber ins Kino oder sitzen am Computer, statt in einen solch kleinen Zirkus zu gehen. Wenn dazu das Wetter lange schlecht ist, wie im vergangenen Sommer, kommen noch weniger Zuschauer. Doch das Kamel, die Ponys, die Riesenschlange und die Ziegen brauchen jeden Tag Futter, egal, ob genügend Eintrittsgeld in der Kasse ist oder nicht. Da wird Henrys Vater manchmal ganz bang.
Vor ein paar Jahren hatte die Familie eine Idee, um zusätzlich Geld zu verdienen: Schulen können den Zirkus mieten. Die Familie baut ihr Zelt dann mitten auf dem Pausenhof auf, und die Schulkinder können jeden Tag Zirkusnummern üben. Sie dürfen fast alles ausprobieren, sogar den knapp drei Meter langen Tigerpython umherführen. Wenn die Kinder dann auftreten, kommen deren Eltern und Großeltern, und das Zelt der Quaisers ist schnell voll.
Henry hofft, dass es seinen Familienzirkus noch lange geben wird. Er liebt das Leben mit Applaus und Umherziehen. Nur Freunde, die fehlten ihm manchmal. Er versteht sich gut mit seinem Bruder und seinem Cousin, sie gehen zusammen angeln oder spielen Fußball. Zwischen Training und Vorführungen ist tagsüber ohnehin nicht viel Freizeit. Aber abends in seinem Wohnwagen kommt er schon mal ins Grübeln. Dann träumt er von einem Mädchen, das seine Freundin werden könnte. Sie sollte auch aus einem Zirkus kommen, weil Henrys Leben ihr sonst sicher zu fremd vorkäme. Am schönsten wäre es, wenn sie dazu noch Artistin wäre, sagt Henry. Vielleicht kann man auf einem Stuhlturm ja auch zu zweit Handstand machen.