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Keine Angst!

 

Die Kinder dürfen Hund Gipsy streicheln/ © Edith Wagner

Viele Menschen fürchten sich vor Hunden. Wie man richtig mit den Tieren umgeht, kann man in besonderen Kursen lernen. Eine Berliner Klasse übt mit Hündin Gipsy

Angelika Dietrich

Wenn Julia mit ihrer Mutter einkaufen geht, greift sie manchmal ganz plötzlich nach deren Hand und versteckt sich hinter ihr. Das passiert immer dann, wenn Julia einen Hund entdeckt. Die Zehnjährige hat Angst vor Hunden. Sie ist schon einmal gebissen worden, von einem kleinen weißen Hund aus der Nachbarschaft. Sie hatte im Hof gespielt, da rannte er auf sie zu und biss sie ins Schienbein. Julia zieht ihr Hosenbein hoch und zeigt auf die Stelle. Und dann sagt sie: »Aber ich hatte vorher schon Angst vor Hunden.«

So wie Julia geht es vielen Menschen, Kindern und Erwachsenen. Oft ist die Angst vor Hunden einfach da, man weiß vielleicht gar nicht so richtig, woher sie kommt, kann sich auch nicht an ein schlimmes Ereignis erinnern. Peter Friedrich ist Psychologe, er beschäftigt sich damit, wie solche Ängste entstehen. »Meist ist irgendwann einmal etwas Unangenehmes passiert«, sagt er. Es muss einem noch nicht einmal selbst zugestoßen sein. »Vielleicht hat jemand, den man gut kennt, einmal aufgeschrien, als ein Hund kam. Vielleicht wechselt der Vater, die Mutter, der Bruder immer die Straßenseite.« Schon eine einzige solche Situation kann dazu führen, dass man sich fortan unwohl fühlt, wenn man einen Hund sieht.

Und oft geht man dem aus dem Weg, was man nicht mag. Aber genau das ist falsch. Peter Friedrich sagt: »Wer Hunde meidet und sich von ihnen fernhält, macht auch keine guten Erfahrungen mit den Tieren. So kann sich die Angst festsetzen.« Egal ob jemand acht Jahre alt ist, achtzehn oder achtzig, die Angst wird man erst los, wenn man sich langsam wieder an Hunde herantraut.

Das kann man lernen. So wie Julia und ihre Mitschüler. Auf dem Stundenplan ihrer Klasse an der Berliner Grundschule Köllnische Vorstadt steht das Thema Hund. Die Schüler haben sich für das Projekt »Helfer auf vier Pfoten« angemeldet. Sie wollen lernen, mit Hunden richtig umzugehen. Und wer Angst hat, soll sie überwinden.

Dafür kommt Besuch in die Schule: Hundetrainerin Barbara Meyer und Mischling Gipsy. Die Hündin ist sieben Jahre alt, schwarz, ziemlich groß und reichlich verfressen. Mit ihr lernen die Kinder, was sie tun sollen, wenn sie einem Hund begegnen – auf dem Schulweg zum Beispiel. Dafür gibt es vier Besuche, über vier Wochen verteilt.

Als Gipsy das erste Mal in die Schule kommt, sind die Kinder ganz aufgeregt, stürzen sich auf die Hündin und streicheln sie am Kopf, ohne vorher Barbara Meyer zu fragen. Das alles meinen die Kinder gut. Aber leider ist ihr Verhalten ganz falsch.

Deshalb lernen sie zuerst einige Regeln: Immer den Besitzer fragen, ob man einen Hund streicheln darf. Wenn man es darf, das Tier nie am Kopf streicheln und ihm nicht in die Augen blicken. Das tut unter Hunden immer der Stärkere, deshalb kann sich das Tier herausgefordert fühlen. Rennt ein Hund auf einen zu, sollte man ganz still stehen, denn die Tiere jagen gern und laufen allem nach, was sich bewegt.

Gipsy ist ein sehr friedliches Tier. Aber auch Hunde können mal einen schlechten Tag haben. Damit Gipsy in die Schule darf, musste sie extra eine Prüfung machen. Nur wenn sich ein Hund all das gefallen lässt, was man eigentlich nicht darf – ihm Fressen aus dem Maul ziehen, ihm starr in die Augen blicken –, nur dann darf ein Hund bei solchen Kursen mitmachen. Schließlich müssen die Kinder bei ihm ja alles falsch machen dürfen, ohne dass etwas passiert.

Später sitzen die Schüler zusammen und erzählen, was sie bisher mit Hunden erlebt haben. Pascal meldet sich und erinnert sich daran, wie er einmal nach Hause gegangen ist, dann zwei Boxerhunde auf ihn zurasten und er das unheimlich fand. Lea zeigt auf eine kleine Narbe am rechten Handrücken – da habe sie mal ihr Hund gebissen. Und Julia fällt ein, dass nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Mutter einmal gebissen wurde, von einem Dackel.

Bei dem Hundekurs mit Gipsy lernen die Kinder insgesamt zwölf Regeln, wie sie sich verhalten sollen. Sie machen auch Übungen, laufen mit der Hündin durch einen Parcours, kämmen und füttern sie. Für besonders ängstliche Kinder hat Hundetrainerin Meyer ein Notfallset: Statt einer normalen Bürste zum Kämmen gibt es eine mit extra langem Stiel. Statt die Leckerli aus der Hand zu füttern, können die Kinder sie durch ein Papierrohr kullern. So können sie sich langsam an den Umgang mit dem Tier gewöhnen.

Beim letzten Besuch dürfen die Schüler zeigen, was sie alles gelernt haben: Mit Leckerli sollen sie Gipsy durch einen Tunnel locken, um Hütchen herum lotsen oder durch einen Ring steigen lassen. »Macht eine Faust, und haltet die Hand mit dem Leckerli unten«, erinnert Barbara Meyer die Kinder. »Wisst ihr noch, warum?« – »Weil die Hunde uns sonst anspringen!«, ruft ein Junge.

Dann ist Julia an der Reihe. Gipsy läuft neben ihr her und schnüffelt an der Faust mit dem Leckerli. Julia zuckt zusammen und zieht die Hand ein bisschen höher. »Unten lassen!«, ruft Barbara Meyer. Gipsy will unbedingt das Leckerli, Julia nimmt es schnell in die andere Hand. Überlistet, die Hündin trottet brav hinter dem Mädchen her. Jetzt muss Gipsy noch durch den Tunnel. Julia läuft um die Röhre herum auf die andere Seite und lockt von dort aus das große schwarze Tier. »Gipsy!«, ruft sie. Und Gipsy kommt. Julia sagt: »Es ist ein bisschen aufregend, so einen Hund zu führen.« Ganz wohl fühlt sie sich dabei aber nicht.

In ganz Deutschland bietet Helfer auf vier Pfoten die kostenlosen Besuche an – am häufigsten sind die Gruppen in Berlin im Einsatz. Barbara Meyer sagt: »Gerade in Stadtvierteln wie Neukölln laufen viele Hunde ohne Leine herum. Da gibt es sehr viele Menschen, die Angst vor den Tieren haben.« Nicht ohne Grund: Immer wieder steht in der Zeitung, dass jemand von einem Hund gebissen wurde. »Leider gibt es auch Hundebesitzer, die ihre Tiere schlecht erziehen«, sagt Barbara Meyer. »Deshalb ist es nicht nur wichtig, dass Kinder die Angst vor den Tieren verlieren, sondern auch, dass sie sich an die Regeln halten, die sie mit Gipsy geübt haben.«

Julia sagt, wenn ihr künftig wieder einmal ein Hund entgegenkommt, dann wird sie nur noch die Hand ihrer Mutter halten und sich nicht mehr neben ihr verstecken. Sie überlegt ein bisschen, dann sagt sie: »Vielleicht halte ich die Hand auch gar nicht mehr fest.«