Nick ist blind, trotzdem geht er wie jedes andere Kind in die Schule, ins Museum und macht Radtouren – alles auf seine eigene Weise
Von Ulrike Linzer
Über den Hund ist Nick noch nie gestolpert. »Das hat Buddy ziemlich schnell kapiert, dass er den Weg frei machen muss, wenn ich komme«, sagt Nick. Er ist zwölf Jahre alt und von Geburt an blind. Eigentlich wollten seine Eltern den Labrador zum Blindenhund ausbilden lassen, aber Buddy war dann wegen einer Verletzung nicht so gut geeignet. Und außerdem war Nick damals kein großer Tier-Fan. Doch die beiden haben sich dann gut aneinander gewöhnt und leben seit sieben Jahren friedlich zusammen. Und Buddy hilft Nick, indem er ihm aus dem Weg geht.
Ein Hund kann das – aber die Spielsachen seines um zwei Jahre jüngeren Bruders Ben können Nick nicht ausweichen. Deshalb geht Nick nicht in Bens Zimmer, erzählt er. »Seine Sachen fliegen immer überall herum, und ich stolpere dann darüber.« Es ist der einzige Raum in der Wohnung, in dem Nick sich nicht alleine bewegen kann. Sonst weiß er genau, wo die Türrahmen sind und wo ein Schrank oder Regal steht. Manchmal bleibt er stehen und orientiert sich, indem er um sich herum tastet. Damit Nick nicht hinfällt, muss immer gut aufgeräumt sein und alles am selben Platz bleiben, sagt Nicks Mutter. »Und die Türen dürfen nie halb offen stehen. Entweder ganz zu oder ganz auf.« Um Nick die Orientierung zu erleichtern, sind die Böden der Wohnung verschieden ausgelegt: Fliesen, Teppich, Parkett. »Es klingt dann anders, wenn man darauf geht, so weiß Nick schneller, wo er gerade ist.«
Nicks Tag beginnt um Viertel nach sechs, dann klettert er die Leiter seines Hochbetts hinunter. »Alleine, versteht sich!« Er zieht sich an, die Sachen haben ihm seine Eltern schon hingelegt. Nach dem Frühstück fährt einer von beiden ihn und seinen Bruder Ben zur Schule. Gerade ist Nick aufs Gymnasium gekommen, in seiner Klasse ist er das einzige blinde Kind. Er macht den Unterricht genauso mit wie seine nicht blinden Mitschüler. Zum Lesen benutzt er eine sogenannte Braillezeile. Das ist ein Gerät, das an den Computer angeschlossen wird. Mithilfe einer speziellen Software wird der Bildschirmtext in Blindenschrift übersetzt. Die Blindenschrift ist ein System aus tastbaren Punkten, die aus dem Material herausragen und deshalb mit den Fingern lesbar sind. Mit der Braillezeile können Blinde sogar schreiben. Sie ist sehr wichtig für Nick, denn damit kann er alleine am Computer arbeiten.
Ungefähr einmal pro Woche bekommt Nick Hilfe von einer Ambulanzlehrerin. Sie tippt vor allem Unterrichtsmaterialien für ihn ab, wenn es die Texte noch nicht digital gibt. Den Rest bekommt er von den Lehrern – als Dateien auf einem USB-Stick. »Eigentlich läuft der Schultag für mich so wie für alle anderen Kinder auch«, sagt Nick. Außer beim Sportunterricht. Den bekommt er nicht zusammen mit seinen Mitschülern, sondern mit anderen sehbehinderten Kindern aus anderen Klassen und einer anderen Schule.
»Sport ist sowieso nicht so mein Ding«, erklärt Nick. Aber im vergangenen Winter hat er sich bei der Klassenfahrt ins Allgäu sogar einmal auf die Skier gestellt und ist den Abhang hinuntergerutscht. »Irgendwie ging das«, sagt er. Und ist schon ein bisschen stolz auf sich.
Wenn Nick nachmittags nach Hause kommt, macht er seine Hausaufgaben und kann sich dann seiner großen Leidenschaft widmen: Hörspiele und Podcasts zu produzieren. Er kann Texte einsprechen, Tondateien schneiden und die fertigen Podcasts im Internet hochladen. Sein Vater hat es ihm beigebracht, auch Workshops hat Nick schon belegt. Er würde das später gerne beruflich machen.
Blinde Menschen haben oft ein sehr feines Gehör. Überhaupt nehmen sie mit ihren verbleibenden Sinnen sehr viel wahr: Sie tasten, schmecken oder riechen besser als Sehende. Denn das ist ihre Möglichkeit, ihre Umwelt zu verstehen und sich zu orientieren.
Draußen kann Nick nicht alleine herumlaufen, noch nicht. »Dafür brauche ich den Stock-Führerschein«, sagt Nick. Damit meint er ein Training, bei dem Blinde lernen, den Blindenstock richtig zu nutzen. Noch ist Nick mit dieser Ausbildung nicht fertig, aber gelegentlich nimmt der den weißen Langstock schon auf Familienausflüge mit: An einem Sonntag fährt er mit seiner Mutter und seinem Bruder zum Berliner Technikmuseum und läuft mithilfe des Stockes allein den Bürgersteig hinab.
Während andere Kinder ins Museum gehen, um sich etwas anzusehen, besucht Nick das Museum, um Dinge zu erfühlen. Er wird an einer Führung teilnehmen, die speziell für blinde Kinder gedacht ist: Die Objekte werden ertastet, auch ihre Akustik spielt eine wichtige Rolle. Und so finden Nick und auch die nicht blinden Geschwister Dinge heraus, die andere Besucher vielleicht übersehen.
»Fühl mal den Propeller. Ganz vorsichtig an der Kante entlangtasten!«, sagt der Museumsmitarbeiter Sören Marotz. Er nimmt Nicks Hand und führt sie zu dem rostigen Propeller eines alten Flugzeugs. Nick tastet konzentriert und fragt: »Warum ist der so verbeult und rissig? Das Flugzeug ist bestimmt abgestürzt.« Stimmt genau, erklärt Sören Marotz: »Der Propeller stammt von einem russischen Kriegsflugzeug, das im Zweiten Weltkrieg über Deutschland abgeschossen wurde.« Weiter geht es durch das technische Museum. Nick ist ganz aufgekratzt, tastet viel, klettert über Schiffsschrauben, ruft in hohle Turbinen hinein und erfreut sich am Klang seiner Stimme.
Nach der Führung will Nicks Bruder Ben endlich los, denn die Familie hat noch andere Pläne für den Tag: eine Fahrradtour. Nick sitzt dann hinten bei seinem Vater auf dem Tandem. »Ich muss auch mitstrampeln«, sagt Nick. Das begeistert ihn zwar nicht besonders – aber vielleicht kann er nachher einen Podcast darüber machen.