In Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen wird gewählt! JÖRG SCHÖNENBORN, Chef- Wahlforscher der ARD, verrät, warum er früher als alle anderen weiß, wie die Ergebnisse lauten
Umfragen kann man leicht selbst machen. Als ich zehn Jahre alt war, habe ich mit meinem Freund Thomas aus der Nachbarschaft darüber gestritten, ob Chips oder Erdnussflips leckerer sind. Ich war ein totaler Flips-Fan und konnte mir nicht vorstellen, dass es viele Menschen wie Thomas gibt, die jeden Tag Chips essen. Also haben wir einen Fragebogen gemacht, sind auf die Straße gegangen und haben jeden angesprochen, der vorbeikam: »Wie oft in der Woche essen Sie Chips? Wie oft Flips? Was von beidem mögen Sie lieber?« Das Ergebnis damals hat mich ziemlich enttäuscht: Bei ungefähr 15 zu drei für Chips haben wir die Umfrage abgebrochen.
Diese Geschichte hat mit Wahlen zwar nichts zu tun, aber sie erklärt, warum es Umfragen gibt: Menschen sind neugierig, ob sie mit ihrer Meinung oder ihrem Geschmack allein stehen oder ob die Mehrheit der anderen auch so denkt. Das genau ist der Grund, warum die Wahlumfragen im Fernsehen von den Zuschauern so häufig geguckt werden – gerade wenn wie jetzt in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen wieder Landtagswahlen anstehen.
Ganz praktisch geht die Umfragerei so: Wir überlegen uns in der Redaktion in Köln, welche Ereignisse in der Politik die Menschen beschäftigen könnten – zum Beispiel ob Studenten an der Uni Gebühren zahlen müssen oder ob der Kindergarten für Fünfjährige kostenlos sein soll. Dazu formulieren wir Fragen. Außerdem überlegen wir Fragen zu den Politikern und Parteien, die ja meistens unterschiedlicher Ansicht darüber sind, was Geld kosten und was kostenlos sein soll. Dieser Fragebogen geht per E-Mail an unser Meinungsforschungsinstitut in Berlin. Dort sitzen 30 Mitarbeiter mit Kopfhörer und Mikrofon am Monitor. Ein Computer wählt zufällige Telefonnummern aus. Und wenn sich jemand meldet, lesen die Mitarbeiter unsere Fragen vor und notieren die Antworten. Die Meinungsforscher müssen darauf achten, dass sie immer mit sehr unterschiedlichen Menschen sprechen, jung und alt, reich und arm, aus der Stadt und vom Land, alles in allem führen sie über 1000 Telefongespräche. Wenn alle Gruppen aus der Gesellschaft vertreten sind, nennen wir das Ergebnis »repräsentativ«. Das heißt, wir können sicher sein: Das Ergebnis unter den 1000 Befragten ist ziemlich genau so, wie die 80 Millionen Deutschen insgesamt denken.
Am bekanntesten ist die Sonntagsfrage. Sie lautet: »Wen würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Landtagswahl wäre?« Das Ergebnis ist für alle spannend. Für die Wähler, die sich immer genau überlegen, ob die Partei, die sie wählen wollen, auch eine Chance hat mitzuregieren. Und für die Parteien, die sich im Wahlkampf noch mehr anstrengen müssen, wenn sie in der Sonntagsfrage schlecht abschneiden. Umfragen haben also Einfluss darauf, wie es im Wahlkampf weitergeht, und auch auf das spätere Ergebnis. Aber welchen Einfluss sie genau haben, wissen nur die Wähler selbst. Denn sie müssen ja niemandem verraten, warum sie sich am Ende genau so entschieden haben.
Umfragen sind übrigens keine Vorhersagen und auch gar nicht so gemeint. Das ginge schon deshalb schief, weil sich oft 30 bis 40 Prozent der Wähler erst ganz zum Schluss entscheiden, ob sie überhaupt wählen gehen und wem sie ihre Stimme geben. Manchmal tun sie das erst im Wahllokal. Außerdem gibt es immer mehr Parteien, über die man nachdenken muss. Früher erreichten meist nur drei Parteien Ergebnisse von mehr als fünf Prozent und durften deshalb Abgeordnete in den Landtag schicken. Heute sind es fünf oder sechs Parteien. Und je mehr Parteien mitspielen, desto schwerer fällt die Wahlentscheidung – und desto später wird sie getroffen.
Deshalb ist der Wahltag für mich meistens ziemlich aufregend. Trotz aller Umfragen vorher weiß ich morgens nicht, was abends herauskommt. Dafür aber gibt’s am Wahltag eine Megaumfrage, so groß und aufwendig wie keine andere. Sie heißt »Wahltagsbefragung«, und wir machen sie, damit wir um 18 Uhr, wenn die Wahllokale schließen, im Fernsehen die sogenannte Prognose zeigen können – die einzige Umfrage, die tatsächlich als Vorhersage gemeint ist.
Für diese Wahltagsbefragung bleiben die Mitarbeiter des Meinungsforschungsinstituts nicht in Berlin am Telefon, sondern fahren in die Wahllokale. Etwa 200 verschiedene suchen sie sich aus. Wer dort gewählt hat, wird anschließend gebeten, für die ARD noch einmal einen Wahlzettel auszufüllen und ihn in einen blauen Karton zu werfen, der so ähnlich wie die echten Wahlurnen aussieht. Jetzt kommt das Entscheidende: Während die richtigen Wahlurnen erst abends um sechs geöffnet werden, fischen unsere Leute jede Stunde die Wahlzettel aus dem blauen Karton, zählen aus und geben die Ergebnisse ins Wahlstudio weiter. Über den Tag kommen da mehr als 20000 Fragebögen zusammen. Damit haben wir sonntags von Stunde zu Stunde mehr und genauere Ergebnisse und können um 18 Uhr auf Sendung gehen. An der Prognose arbeiten erfahrene Wissenschaftler, die sich die Umfrageergebnisse sehr genau ansehen und sie von Computern Hunderte Male durchrechnen lassen, bevor sie gegen halb sechs aus den Zahlen für die einzelnen Parteien die Grafik basteln, die wir dann im Fernsehen zeigen.
Schön ist, dass diese Zahlen fast immer so genau sind, dass das spätere Ergebnis für eine Partei und unsere Prognose nur um Zehntelprozente auseinanderliegen. Weniger schön finde ich, dass dann an manchen Wahlabenden die Luft raus ist: Es wird nicht mehr richtig spannend. Aber zum Glück wollen die Zuschauer nicht nur wissen, wer die Wahl gewonnen hat, sondern auch, warum. Und wie man das herausfindet und erklärt, ist eine ganz andere Geschichte.