Stellt Euch mal vor, es ist Krieg. Eure Wohnungen und Häuser sind zerstört. Eure Eltern verschwunden, verloren gegangen oder umgebracht worden. Alles, was Ihr wisst, ist, dass Ihr nicht da bleiben könnt, wo Ihr jetzt seid. Es gibt kein zu Hause mehr, Ihr müsst fliehen. Über eine Grenze in ein Land, wo Ihr in Sicherheit seid. Doch den Weg dorthin müsst Ihr alleine schaffen. Vielleicht zeigt Euch ein ebenfalls flüchtender Erwachsener den Weg, vielleicht gibt Euch jemand zu essen. Aber alles andere müsst Ihr alleine schaffen. Zusammen mit ein paar anderen Kindern, die in einer genauso schrecklichen Situation sind wie Ihr.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs irrten durch Europa mehrere Tausend Kinder ohne Begleitung eines Erwachsenen durch Länder und Städte, die vom Krieg zerstört waren. Landesgrenzen verschoben sich, Sprachgrenzen veränderten sich. Weite Teile des Kontinents waren ein Chaos, fast jeder kümmerte sich erst einmal um sich selbst und seine Familie. An die elternlosen Kinder dachten nur wenige. „Wolfskinder“ wurden diese Kinder genannt, die sich oft in kleinen Gruppen zusammen fanden, weil es zusammen leichter ist. Weil es gut tut, nicht ganz allein zu sein. Und weil es hilft, zusammen zu überlegen, wo das Ziel der langen Wanderung sein könnte.
Autorin Linde von Keyserlingk, die viele Jahre als Therapeutin gearbeitet und viele Wolfskinder psychologisch betreut hat, hat sich einen Roman über eine Gruppe von Wolfskindern ausgedacht. Ambromow, Ismael und zwei lettische Mädchen mit ihrer Ziege erreichen den Strand der Ostsee und müssen von dort aus immer weiter nach Westen. Das Buch ist zuweilen sehr traurig, aber auch spannend. Auf ihrem Zug nach Westen begegnen die Kinder hilfsbereiten Menschen, Menschen, die ihnen das bisschen, was sie noch haben, auch noch wegnehmen und immer wieder anderen Kindern, die ein ähnliches Schicksal haben wie sie. Zuletzt bilden sie eine Gruppe von acht Kindern, die gemeinsam den Weg nach Westen – weg von der Roten Armee – schaffen.
Was den Kindern in Europa 1945 geschah, wiederholt sich heute in Syrien. Nach Schätzungen des UN-Flüchtlingswerks sind über Tausend syrische Kinder, die keine Eltern mehr haben, auf der Flucht und auf der Suche nach einem neuen zu Hause. Viele versuchen bis in den Libanon oder die Türkei zu fliehen, in der Hoffnung, da Hilfe zu finden.
Das Buch „Sie nannten sie Wolfskinder“ ist keine leichte, fröhliche Ferienlektüre, sondern macht nachdenklich. Aber nicht nur für alle, die an der Ostsee, in Polen, Lettland oder Litauen Urlaub machen, ein gutes Buch, das ein Bewusstsein dafür weckt, was vor fast 70 Jahren in Europa los war.
Linde von Keyserlingk
Sie nannten sie Wolfskinder
Carlsen Verlag, Taschenbuch
ab 12 Jahren, 8,20 Euro