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Auf der Piste

 

Früher waren Seifenkisten eckig, heute sind sie windschnittig

Seifenkisten schaffen 60 Kilometer in der Stunde – ohne Motor. Ein Besuch bei zwei Piloten vor dem wichtigsten Rennen der Saison

Von Hauke Friederichs mit Fotos von Inge Schrüfer

Vorsichtig klettert Simon in das Cockpit seines silbern lackierten Mini-Rennwagens. Er streckt beide Beine durch den schmalen Einstieg und schiebt dann den Oberkörper hinterher. Als er endlich im Rennwagen liegt, ist nur noch sein Kopf im schwarzen Helm hinter dem Visier zu sehen. Geschafft. Der Seifenkistenpilot ist bereit für die Testfahrt vor dem wichtigsten Rennen der Saison.

Simon, zwölf Jahre alt, und sein Vater Markus überprüfen, ob der Renner bereit ist für die Deutsche und die Europameisterschaft im Seifenkistenfahren. Simon testet auf einer Probefahrt die Bremse und die Lenkung. Alles funktioniert. Er steigt aus der engen Kiste aus und setzt den Helm ab.

Von der Rampe, fertig, los!

Seit er neun Jahre alt ist, fährt Simon Rennen in Seifenkisten. Früher bastelten sich Kinder aus alten Kisten für Käse und Seife oder aus Blechwannen ihre Rennwagen selbst. Damit sausten sie Berge und Abhänge hinunter. Heute haben die Kisten keine Ecken mehr, sondern sind vorne spitz, damit der Wind sie nicht bremst. Sie sind heute richtige Profi-Wagen mit teuren Spezialrädern und besonderen Bremsen, die wie ein Stempel auf den Boden gehen. »Seifenkisten« heißen sie aber immer noch.

Seifenkisten haben keinen Motor. Sie rollen auf ihren vier Rädern von ganz allein, wenn die Rennstrecke bergab geht. Für die Seifenkistenrennen werden normale Straßen abgesperrt. 300 Meter sind die meisten Strecken lang. Alle Piloten tragen bei den Rennen einen Helm, weil ein Unfall sonst sehr gefährlich wäre. Bis zu 60 Kilometer in der Stunde werden die Kisten schnell, wenn die Strecke ein starkes Gefälle hat. Das ist schneller, als Autos in Ortschaften fahren dürfen. Die Fahrer müssten sich darum sehr konzentrieren, sagt Simon. Gullideckel, Schlaglöcher oder Hubbel könnten die Kiste von der Ideallinie abbringen. Einmal knallte Simon bei einem Rennen gegen die Bande, die der Veranstalter zum Schutz der Fahrer aufgestellt hatte. Passiert ist Simon dabei nichts.

Simons Seifenkiste steht in der Garage seiner Eltern in einer Kleinstadt in Bayern. Daneben ist die Kiste seiner Schwester Stella aufgebockt. Auch Stella, zehn Jahre alt, wird bei den Meisterschaften antreten, in der Juniorklasse für Acht- bis Elfjährige. Simon startet in der Seniorklasse, in der die Älteren bis 18 Jahre antreten. Stella hat ihren älteren Bruder bei Rennen gesehen und selbst Lust darauf bekommen. Die Junioren steuern ihre Wagen im Sitzen, die Größeren im Liegen. Stella macht sich bei den Rennen ganz klein, beugt sich nach vorn, um möglichst wenig Luftwiderstand zu erzeugen.

»Die Seifenkisten sind ein Hobby der ganzen Familie«, sagt Inge, die Mutter. Die Kinder steuern die Wagen. Der Vater ist im Team der Mechaniker. Er repariert die Kisten, versucht sie immer schneller zu machen und schiebt die schweren Rennwagen die Rampe hoch, wenn der nächste Start ansteht. Stellas Kiste hat ihr Vater sogar selbst gebaut, im Keller der Garage. Stella hat dabei geholfen, Holz abgeschliffen und ganz oft Probe gesessen. Auch Simons Kiste, gebraucht gekauft, hat er gründlich überholt. Die Mutter gibt bei den Rennen Tipps und diskutiert mit den Piloten die richtige Taktik. Wo verläuft die Ideallinie? Soll man die Kurve weiter links anfahren? Außerdem macht sie Fotos von den Wettkämpfen und tröstet, wenn es sein muss.

In diesem Jahr brauchten ihre Piloten kaum Aufmunterung. Auf einer Fensterbank im Wohnzimmer stehen viele Pokale – Simon und Stella haben sie allein in diesem Jahr gewonnen. »Am meisten Spaß macht die Geschwindigkeit«, sagt Simon. Manchmal fährt seine Kiste so schnell, dass er den Fahrtwind rauschen hört. »Ich gewinne gerne«, sagt Stella, »und ich fahre am liebsten richtig schnell.«

Am zweiten Septemberwochenende ist es so weit: Die Meisterschaften beginnen. Simon und Stella laden mit ihren Eltern die Seifenkisten in einen Kleinbus und fahren nach Mettingen, in die Nähe von Osnabrück. Dort treffen sie auf andere Rennfamilien aus ganz Deutschland, Österreich, der Schweiz und Dänemark. 70 Teams starten in der Seniorklasse und 49 bei den Junioren.

Ein Rennen besteht aus drei Probeläufen und aus drei Läufen, die gewertet werden. Meistens starten zwei Fahrer gleichzeitig nebeneinander. Mit Laseranlagen messen die Organisatoren, wie lange die Fahrer von der Startrampe bis ins Ziel brauchen. Wer nach drei Fahrten insgesamt die niedrigste Zeit hat, gewinnt. Simon hat zuletzt oft den ersten Platz belegt. In diesem Jahr ist er bayerischer Meister geworden – 2011 war er sogar Europameister. Auf seiner Kiste steht der Schriftzug »Carpe Momentum«. Das ist Latein und heißt übersetzt »Nutze den Moment«. Beim Seifenkistenrennen entscheiden oft Hundertstelsekunden über Sieg oder Niederlage.

Für Stella läuft es am Samstag super. Schon bei den Probeläufen ist ihre Kiste richtig schnell. Stella belegt zweimal den zweiten Platz. Sie freut sich riesig, auch über die Digitalkamera, die sie als Preis bekommt.

Am Sonntag ist Simon dran. Vor allem der Start ist immer spannend: Simons Kiste steht dabei oben auf einer Rampe. Vor ihm liegt die Piste. Ein Mann von den Rennorganisatoren prüft noch mal die Bremsen. Dann geht es los. Eine Platte vor den Reifen klappt weg, und Simons Seifenkiste rollt die Rampe hinunter. Die Räder drehen sich immer schneller. Dann rast Simons Seifenkiste dem Ziel entgegen.

Etwas mehr als 36 Sekunden später bleibt die Uhr stehen – Simon hat knapp verloren. Nur wenige Hundertstelsekunden fehlen ihm zu einem Platz auf dem Treppchen. Er wird Fünfter bei der Deutschen und Vierter bei der Europameisterschaft. Nächstes Jahr wird er wieder antreten.