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Eine für alle

 

Seit einem Jahrhundert sitzt die Nixe auf ihrem Sockel/ © Christina Anzenberger-Fink/llustrationen: Frederik Jurk für DIE ZEIT
Seit einem Jahrhundert sitzt die Nixe auf ihrem Sockel/ © Christina Anzenberger-Fink/llustrationen: Frederik Jurk für DIE ZEIT

Die kleine Meerjungfrau in Kopenhagen ist 100 Jahre alt geworden – und sieht trotzdem aus wie ein junges Mädchen. Henning Sussebach hat sie für die KinderZEIT an ihrem runden Geburtstag besucht

Wenn dieses Wesen da drüben im Wasser ein richtiges Mädchen wäre, mit Augen zum Sehen und Ohren zum Hören – es würde ziemlichen Ärger bekommen an diesem Tag: »Schau doch mal her!«, »Begrüß Deine Gäste!«, »Einmal lächeln könntest Du schon!«

Aber das Mädchen am Wasser sieht nichts, hört nichts, sagt nichts. Mit verschlossenen Lippen und krummem Rücken hockt es auf seinem Stein, aus blinden Augen blickt es aufs Meer. Und niemand nimmt es ihm übel!

Es ist der 23. August, und im Hafen von Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen steigt die vielleicht verrückteste Geburtstagsfeier der Welt: Die kleine Meerjungfrau wird 100 Jahre alt, und einige Tausend Menschen sind gekommen, um einer Statue aus Bronze zu gratulieren, als wäre sie ein echter Mensch. Sie singen, tanzen, prosten ihr zu. Doch die Lille Havfrue – so heißt sie auf Dänisch – sitzt reglos im Rummel und ist, was sie immer ist: das traurig-schönste Wesen der Welt.

Auf den Tag genau 100 Jahre ist es her, dass der dänische Bildhauer Edvard Eriksen die Nixe auf ihren steinernen Sockel im brackigen Hafenwasser hob. Sie ist nur 125 Zentimeter groß und somit eines der kleinsten Wahrzeichen der Welt, winzig, verglichen mit der Freiheitsstatue oder den Pyramiden – aber fast so bekannt. Ihre Berühmtheit pro Zentimeter ist also riesig groß.

Es war leicht und schwierig zugleich, die kleine Meerjungfrau an ihrem großen Tag zu finden. Leicht, weil man nur den Touristenbussen folgen musste, hinaus aus der Innenstadt an den Langelinie-Kai, wo sich Kopenhagen zum Öresund öffnet, nach Schweden hin. Schwierig, weil dort eine große Bühne, Bierwagen und Souvenirstände mit sehr kleinen Meerjungfrauen den Blick auf die kleine Meerjungfrau verstellen. Doch wer sich treiben lässt im Strom der Geburtstagsgäste, steht plötzlich an der Kante des Kais. Und da sitzt sie! Wie hingeschmolzen auf ihrem Stein, ihre Füße ganz flossig, ihr Haar zu einem lockeren Zopf gebunden, ihr Gesicht zum Meer gewandt. Versonnen sieht sie aus. Und bekümmert.

Wie könnte es auch anders sein bei ihrer Geschichte, einem alten Märchen, ausgedacht von Hans Christian Andersen, noch einem Dänen: Als jüngste von sechs Töchtern des Meereskönigs hat unsere kleine Nixe ein Kinderleben tief unten im Meer geführt, bis sie an ihrem 15. Geburtstag einen ohnmächtigen Menschenprinzen vor dem Ertrinken rettet. Und sich in ihn verliebt. Schwierige Sache. Er kann im Wasser nicht leben, sie nicht an Land. Bis heute leidet die ganze Welt am Gang der Geschichte: Unten im Meer schwimmt die Lille Havfrue zur bösen Meereshexe. Um ein Landwesen zu werden, tauscht sie ihre Flosse gegen ein paar Füße. Und gibt ihre Stimme her! Oben an Land wacht der Prinz aus der Ohnmacht auf und glaubt, eine andere habe ihn gerettet. Stumm muss die kleine Meerjungfrau mitansehen, wie der Prinz sich in die andere Frau verliebt.

Nun steht da Martin aus Kopenhagen am Kai, ein bärtiger Mann mit Struwwelpeterfrisur, und sagt: »Ich liebe sie.«

Neben Martin steht Weng, 22, aus Taiwan, der ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn Fotos macht und erzählt: »Ich habe ihre Geschichte als Comic gelesen.«

Neben Weng steht Chiara, 9, aus Italien und meint: »Ich bin traurig, dass sie traurig ist.«

Neben Chiara steht Zhang, 33, aus China, unterwegs auf einer Reise durch vier Länder in sieben Tagen, und sagt: »Ich habe als Schulkind ihre Geschichte gelesen. Ich bin so glücklich, hier zu sein.«

Und neben Zhang und Chiara und Weng und Martin sitzt die kleine Meerjungfrau auf ihrem Stein – und schweigt.

Dass aus der Fantasiefigur eine Statue zum Angucken und Anfassen wurde, so lebensecht, dass nun ihr Geburtstag gefeiert wird, ist eine fast so märchenhafte Geschichte wie das Märchen selbst: Im Winter des Jahres 1909 wurde das Märchen der Lille Havfrue in Kopenhagen als Ballett aufgeführt. Im Publikum saß auch ein Mann namens Carl Jacobsen, steinreicher Besitzer einer großen Bierbrauerei. Jacobsen war so gerührt von der kleinen Meerjungfrau (und auch ein bisschen verknallt in die Tänzerin, die sie spielte …), dass er den Bildhauer Eriksen bat, die Nixe als Statue zu verewigen.

Jetzt, an ihrem großen Geburtstag, schieben, drücken und drängen sich Dänen und Deutsche, Schweden und Spanier, Amerikaner und Chinesen um das 100-jährige Mädchen und kämpfen um die eine Sekunde, um den einen Meter Raum, der es in ihren Fotoalben später so aussehen lassen wird, als seien sie allein mit ihr gewesen.

Eine Band schmettert Geburtstagslieder. Die Meerjungfrau sitzt still und stumm.

Kopenhagens Kulturbeauftragte gratuliert. Die Meerjungfrau sitzt still und stumm.

Die Brauerei von Carl Jacobsen lässt sechs Pferde aufmarschieren und spendiert Freibier. Die Meerjungfrau sitzt still und stumm.

So hat sie auch schon Stürmen getrotzt und Kriege überlebt. 1961 malte ihr ein Witzbold einen Bikini auf die Bronzehaut. 1964 sägte ihr ein Fiesling den Kopf ab – da war die kleine Meerjungfrau schon so berühmt, dass sogar Zeitungen in Amerika Fotos von ihr druckten. An einem Morgen des Jahres 1984 fehlte ihr der rechte Arm, 1998 noch einmal der Kopf, 2003 wurde sie ganz von ihrem Sockel gesprengt. Die Sache war den Dänen so wichtig, dass die Mordkommission ermittelte (aber nichts herausfand). Immer wurde sie wieder zusammengeflickt.

Wer das alles von der kleinen Meerjungfrau weiß und sie klaglos am Hafen sitzen sieht, der versteht, was die große Lebensleistung dieser gar nicht Lebenden ist: dass sie für alles und jeden da ist. Für glücklich und unglücklich Verliebte. Für Fotografen und Touristen. Für Attentäter. Für Reklame für Bier. Und natürlich für ihre Heimatstadt Kopenhagen, die ihr am Ende des Tages ein Feuerwerk schenkt, groß wie ein Gewitter.

Mütter heben ihre Kinder ans Wasser, Väter rufen Fotobefehle: »Andy, jetzt komm schon! … Nein, weiter nach links! … Und cheese!« Ganze Familien geraten auf den glitschigen Steinen ins Rutschen. So mancher ist hier schon ins Wasser geklatscht. Aber die kleine Meerjungfrau sitzt still und stumm. Tag für Tag. Auch heute.