Micah und Taha können spielend zwischen zwei Sprachen wechseln. Sie sind mit beiden gleichzeitig groß geworden. Kommt man da nicht durcheinander?
Von Silke Fokken
„Ich brauche noch meinen cartable!“ Wenn die elfjährige Micah in die Schule muss, fällt ihr manchmal nicht das deutsche Wort für Schultasche ein. Dann nimmt sie einfach das französische – cartable. Denn Französisch spricht sie genauso gut wie Deutsch. Hin und wieder mixt sie die Sprachen, aber meistens hält sie sie in ihrem Kopf sorgfältig auseinander. Ähnlich geht es Taha. Er ist neun und spricht Deutsch und Türkisch. Blitzschnell kann er von einer Sprache in die andere umschalten, je nachdem, wer ihn verstehen soll.
»Mit meinen Freunden rede ich deutsch, mit meinen Eltern türkisch«, sagt er. Eine zweite Sprache zu lernen ist normalerweise aufwendig. Man muss sich fremde Wörter merken, ihre Aussprache üben und sie nach komplizierten Regeln zusammensetzen. Die meisten Menschen brauchen dafür Jahre. Anders ist es, wenn man als Kind gleich mit mehreren Sprachen aufwächst, so wie Micah und Taha. Micah kam in Frankreich zur Welt. Ihr Vater ist Franzose, ihre Mutter Deutsche. Als Micah vier Jahre alt war, zog die Familie nach Hamburg. Taha und seine Mutter sind in Deutschland geboren, sein Vater und alle seine Großeltern stammen aber aus der Türkei. Anfangs haben Tahas Eltern mit ihm nur Türkisch gesprochen.
»Meine älteren Geschwister haben sich aber immer auf Deutsch mit mir unter halten«, sagt Taha. So lernte er beide Sprachen, ohne groß darüber nachzudenken. Mit zwei Sprachen sind Micah und Taha schon nah dran an dem, was Politiker sich für alle Menschen in Europa wünschen: nämlich dass jeder drei Sprachen beherrscht. In Europa gibt es offiziell 24 Sprachen, Deutsche können aber selten mehr als etwas Englisch. Menschen aus kleineren Ländern sind mit verschieenen Sprachen geübter. Belgier sprechen neben Englisch auch Niederländisch, Deutsch und Französisch. Wer viele Sprachen spricht, kann viele Menschen verstehen. Das ist die Idee der Politiker. Man kann aber auch andere ausschließen. Taha freut sich, dass er und seine Geschwister eine Geheimsprache haben: »Als ich in der Türkei etwas besprechen wollte, was keiner wissen sollte, habe ich mit meinem Bruder deutsch geredet«, erzählt er.
Beide Sprachen spricht er ohne Akzent. Das kommt daher, dass er schon als Kleinkind Deutsch und Türkisch hörte und nachahmte. Auch Micah hat von ihrem Vater Wortklänge aufgeschnappt, die es im Deutschen nicht gibt. Dabei muss man durch die Nase reden. »Das versuche ich meiner Mutter beizubringen, aber es klappt nicht richtig«, sagt sie. Üben muss Micah trotzdem. Denn einige Wörter kennt sie nur auf Deutsch, andere nur auf Französisch. »Kinder brauchen jemanden, der eine Sprache gut beherrscht und viel mit ihnen redet«, sagt Ingrid Gogolin. Sie ist Wissenschaftlerin und erforscht, wie Kinder am besten mit mehreren Sprachen auf wachsen. Wichtig ist, dass man Wörter immer wieder richtig hört. Heißt es »der Sonne« oder »die Sonne«? Wer von klein auf lernt, dass es »die Sonne« ist, kann die Frage leicht beantworten. Micah hat aber alles immer doppelt gehört, und im Französischen ist das Wort »Sonne« männlich, sie heißt le soleil (gesprochen: lö ßoläi). Das kann einen ganz schön verwirren. Um eine Sprache gut zu können, ist aber nicht nur das Sprechen wichtig, sondern auch das Lesen und Schreiben. Das mussten auch Micah und Taha richtig lernen. Taha hat an seiner Schule seit der ersten Klasse sowohl Türkisch- als auch Deutschunterricht. So hat er gelernt, dass es Unterschiede bei den beiden Schriften gibt. »Im Türkischen wird zum Beispiel ein s mit einem Strich wie sch gesprochen«, sagt Taha. Ayşe wird zu Aische.
Micah ging jahrelang auf eine französische Schule in Hamburg. Lesen, schreiben, mit Freunden quatschen: Alles lief auf Französisch. »Deutsch war nicht erlaubt«, erzählt sie, »außer im Deutschunterricht.« In diesem Jahr ist sie nach den Sommerferien auf eine deutsche Schule gewechselt und merkt nun: Obwohl sie gut Deutsch spricht, verschreibt sie sich oft. Auf der französischen Schule hatte sie weniger Deutsch- als Französischunterricht. Viel anstrengender findet Micah es allerdings, Englisch zu lernen. Seit einem Jahr plagt sie sich mit Vokabeln und Grammatik. Dass einige englische Wörter so ähnlich wie die französischen klingen, hilft ihr zwar, »aber es geht alles nicht mehr wie automatisch«, sagt sie.
In welcher Sprache sich Taha und Micah mehr zu Hause fühlen, können sie nicht sagen. »Ich denke eher auf Deutsch, träume aber, glaube ich, auf Französisch«, sagt Micah. »In Deutschland muss man Deutsch sprechen. Aber ich möchte auch, dass sich das Türkische nicht auflöst«, sagt Taha. Sonst könnte er sich mit seinen Großeltern in der Türkei nicht verständigen. »Das kommt ja auch komisch, wenn man da wochenlang nicht redet.«