Wenn Eltern sich nicht um ihre Kinder kümmern können, sucht das Jugendamt ein neues Zuhause für sie. So wie für Hugo. Wie ergeht es ihm in der Pflegefamilie?
Von Claudia Kniess
Hugo* ist acht Jahre alt, und seine Mama ist sehr krank. In ihrem Kopf herrscht ein so großes Durcheinander, dass sie Medikamente nehmen muss. Oft ist sie in einer Klinik. Hugos Papa verließ die beiden, als der Junge drei Jahre alt war. »Einmal hat er mir noch einen Kassettenrekorder geschickt«, erinnert sich Hugo, »aber der war kaputt. Danach hab ich nichts mehr von ihm gehört.«
Der Papa weg, die Mama krank: Deshalb hat Hugo inzwischen ein neues Zuhause – bei Familie Baumbach. Karin und Lennard Baumbach sind Sozialpädagogen, es ist ihr Beruf, sich um Kinder zu kümmern, bei denen die Eltern das nicht mehr schaffen. Manchmal reicht es, Familien in ihrer Wohnung zu unterstützen. Bei Hugo war das anders. Im vergangenen Frühjahr brauchte er dringend eine neue Unterkunft. »Ich hab damals schon gemerkt, dass es meiner Mama mal wieder nicht gut geht. Und dann hat sie mich einfach nicht mehr aus dem Hort abgeholt. Da kamen zwei Leute vom Jugendamt und haben mit mir gewartet, und dann kam Karin mit Paul.«
Karin ist jetzt Hugos Pflegemama, der zweijährige Paul ist sein neuer »kleiner Bruder«. Es gibt auch noch eine »große Schwester«, die 13-jährige Anneke. Und eben den Pflegepapa Lennard. Hugo darf bei den Baumbachs bleiben, solange es nötig ist. Und das wird es vermutlich viele Jahre lang sein – oder sogar für immer. Hugo ist eins von rund 57000 Kindern in Deutschland, die dauerhaft in einer Pflegefamilie leben.
Aber daran dachte an jenem Frühsommertag, als Hugo im Hort wartete, noch niemand. Karin arbeitet für das Jugendamt, dessen Mitarbeiter hatten sie angerufen: Ein Junge brauche für ein paar Wochen eine Unterkunft. Nach dieser Übergangszeit sollte er eigentlich in eine Wohngruppe ziehen. Als Karin Baumbach Hugo zum ersten Mal sah, stand er in einer viel zu weiten Hose da, die er mit einem Gürtel und gelben Hosenträgern um seinen schmalen Körper gebunden hatte. Bei seiner Mama hatte er sich immer irgendwelche Kleidung aus einer Kiste suchen müssen. Kaum ein Stück passte dem Jungen richtig. Karin Baumbach nahm Hugo mit nach Hause, zeigte ihm, wo er in den nächsten Tage wohnen und schlafen würde, und fragte, was er gerne esse. Am ersten Abend gab es ein gemeinsames Abendbrot für die ganze Familie – mit Hugos Lieblingswurst. Als er im Bett lag, sagte er zu Karin Baumbach: »Das war ein schöner Tag!«
In kaputten Familien gibt es oft keine gemeinsamen Mahlzeiten. »Manchmal habe ich früher nach der Schule im Hort das erste Mal am Tag etwas gegessen«, erzählt Hugo. »Bei Karin gibt es sogar gekochtes Essen!« – »Weißt du noch, wie du dich gewundert hast, dass unser Toastbrot kross ist?«, fragt Karin. »Ja«, sagt Hugo, »der Toaster bei meiner Mama ging nicht. Und auch nicht der Staubsauger und auch nicht die Waschmaschine.« Hugos Mama bekam es einfach nicht hin, sich selbst und ihren Sohn zu versorgen. Wie schlecht sie Hugo manchmal behandelt hat, darüber möchte er an manchen Tagen lieber gar nichts erzählen.
Hugo kümmerte sich um sich selbst und half seiner Mama, so gut er konnte. Er dachte daran, Hausaufgaben zu erledigen. Er brachte sich bei, wie man Schuhe bindet und mit Besteck isst. Aber das sah bei ihm komisch aus. Oft machten sich andere Kinder über ihn lustig. »Freunde hatte ich eigentlich keine«, sagt er.
Familie Baumbach schloss den Jungen schnell ins Herz. »Er war so ein aufgeweckter Kerl und richtig schlau, wir hatten das Gefühl, ihm viel mehr mitgeben zu können, als in einer Wohngruppe für Kinder möglich wäre«, sagt Karin. Deshalb beriet sich die Familie und entschied, Hugo bei sich zu behalten. Das Jugendamt war einverstanden und Hugos Mutter auch. Für den Jungen war das ein großes Glück. »Hier ist es wie im Kinderparadies!«, sagte Hugo nach ein paar Tagen bei den Baumbachs. Mit seinen Pflegegeschwistern versteht er sich gut. Hugo und Paul sehen sich sogar ein bisschen ähnlich. Pflegeschwester Anneke lacht oft über die witzigen Ideen, die Hugo hat: »zum Beispiel dass man sich nach dem Spielen einfach den Sand mit dem Staubsauger aus den Haaren saugen kann«.
Karin und Lennard verbringen viel Zeit mit Hugo, sie spielen mit ihm oder hören einfach nur zu, was er Schreckliches zu erzählen hat. Einmal in der Woche besuchen sie mit ihm eine Therapie, wo er mit einer Psychologin über alles sprechen kann. In den Therapiestunden hat er immer wieder seine Mama gemalt, ganz klein, und ihre Krankheit als riesiges Monster. Auch seine Mama besuchen sie alle paar Wochen. Dann fängt Hugo sofort wieder an, ihr zu helfen, erklärt ihr geduldig die Regeln eines Spiels, das sie zusammen machen, und lässt sie gewinnen, damit sie sich freut.
Natürlich gab es auch in der Pflegefamilie manchmal ein paar Probleme. Hugo hat zum Beispiel einmal Geld aus Karins Tasche geklaut. Die Pflegeeltern schimpften aber nicht mit dem Jungen. Sie erklärten ihm, warum es falsch ist zu stehlen – und wie man sich entschuldigt. Selbstverständlich hat Hugo auch Pflichten: Aufräumen, Verlässlichkeit bei Aufgaben wie Tischdecken, Pünktlichkeit… »Er muss die Familienregeln genauso beachten wie alle anderen«, sagt Pflegevater Lennard.
Hugo nennt seinen Pflegevater auch nicht »Papa«. »Es ist für uns, aber auch für das Pflegekind wichtig, dass wir es nicht zu eng an uns binden«, sagt Lennard Baumbach. »Hugo hat eine Mutter, und vielleicht geht er irgendwann doch zu ihr zurück.« Wenn Lennard Baumbach nach Hause kommt, begrüßt er deshalb auch immer zuerst seine »richtigen« Kinder Paul und Anneke. Aber Hugo kann sich fest darauf verlassen, dass er als Dritter genauso herzlich begrüßt wird.
* Wir haben alle Namen geändert, weil der Junge und die Pflegefamilie nicht erkannt werden wollen und dürfen. Deshalb ist auch »Hugos« Gesicht auf dem Foto nicht zu sehen