Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Abenteuer Untergrund

 

© Happe
© Happel

In der Tiefe unter Berlin, zwischen Bürgersteig und U-Bahn-Schacht, existiert eine eigene Welt: Unzählige Bunker, Gänge und Schächte bilden dort ein weitverzweigtes Tunnelsystem. Die KinderZEIT unternahm einen Ausflug in die Finsternis

Von Katrin Brinkmann

Dietmar Arnold ist 14 Jahre alt, als er von einem geheimnisvollen unterirdischen Gebäude hört. Mitten in Berlin soll es liegen, im Volkspark Humboldthain, der Zugang versteckt unter einem Berg Erde. Es ist ein Bunker. Darin suchten die Menschen Unterschlupf, als Berlin im Zweiten Weltkrieg bombardiert wurde. Für Dietmar Arnold ist klar: Ich muss diesen Bunker sehen! Eines Nachts begibt er sich mit seinem Bruder und fünf Freunden auf die Suche. Die Jungen graben und graben – dann liegt er plötzlich vor ihnen: der Eingang. Er ist so schmal, dass die Jungen nur bäuchlings voranrobben können. Sie zwängen sich durch Spalten, rutschen einen Schuttberg hinunter, klettern über Treppenreste immer tiefer unter die Erde. Auf einmal stehen sie in einer riesigen Halle. Neugierig schauen sich die Jungen um. Im Licht ihrer Taschenlampen tauchen seltsame Dinge auf: Wie Eiszapfen hängen fingerdicke Tropfsteine von der Decke, am Boden liegen Hunderte kleiner Fläschchen mit einer unbekannten Flüssigkeit, daneben zerfledderte Uniformen, in einer Nische stapeln sich medizinische Geräte. Damit wurden vor Jahrzehnten während der Bombenangriffe bestimmt die Verletzten versorgt! Alles ist so aufregend, erst spät merken die Jungen, dass es bereits Morgen geworden ist. Gleich wachen die Eltern auf! Schnell packen sie einige Beutestücke in ihre Rucksäcke und machen sich auf den Heimweg. Und es hätte wohl niemand je von ihrem nächtlichen Ausflug erfahren – wenn nicht einer von ihnen etwas wirklich Dummes getan hätte: Er zeigte die Fläschchen aus dem Bunker seinem Chemielehrer. »Prompt meldete sich die Polizei, und wir mussten alle unsere Kostbarkeiten wieder rausrücken«, sagt Dietmar Arnold.
Heute ist Arnold 45 Jahre alt. Und noch immer erforscht er die Unterwelten von Berlin. Er hat sogar einen Verein mit diesem Namen gegründet: »Berliner Unterwelten«. »Ich bin eben ein Abenteurer geblieben und liebe es, Orte zu erforschen, wo seit Jahrzehnten niemand mehr gewesen ist«, sagt er. Es gibt ja auch eine Menge zu entdecken: Wasserrohre, Telefonkabel, Tunnel, Gänge und Schächte schlängeln sich wie Würmer durch das Erdreich der Stadt, dunkel und geheimnisvoll.

© Arnold
© Arnold

Aber nicht nur Berlin ist unter der Erde zerlöchert wie ein Schweizer Käse. In Paris durchziehen unzählige Katakomben den Erdboden. Das sind kilometerlange unterirdische Höhlen und Gänge. So weitläufig, dass man die halbe Stadt durchqueren könnte, ohne dabei auch nur einmal Tageslicht zu sehen!

Foto: Nadar/Henry Guttmann/Getty Images
Foto: Nadar/Henry Guttmann/Getty Images

Entstanden sind sie vor über 600 Jahren, als die Pariser Steine aus der Erde für den Bau ihrer Häuser brauchten. Später beerdigte man im Untergrund die Knochen von Toten. Durch Seuchen und Hunger waren so viele Menschen gestorben, dass auf den Friedhöfen kein Platz mehr war. »Schrecklicher Keller« heißt der Pariser Untergrund darum auch. Unter den Wolkenkratzern und dem Asphalt von New York hingegen gibt es keine Katakomben. Dafür windet sich dort das zweitgrößte U-Bahn-Netz der Welt durchs Erdreich. Nur wenige Fahrgäste der U-Bahn haben davon gehört, dass in den verlassenen Schächten Menschen hausen sollen. Manche behaupten sogar, dass mehrere Tausend Obdachlose dort leben, in einer verborgenen Welt, die bislang niemand zu Gesicht bekommen hat. Mole people werden sie deshalb genannt, »Maulwurfsmenschen«.
Verständlich, dass solche Geschichten auch Buchautoren inspiriert haben. In ihrem Roman Tunnel schicken Roderick Gordon und Brian Williams den 14-jährigen Will auf der Suche nach seinem verschwundenen Vater, einem Archäologen, in die Unterwelt Londons. Dort stößt er auf eine unterirdische Stadt, die beherrscht wird von dunklen Gestalten. Und auch in Andreas Steinhöfels Beschützer der Diebe sind es geheime Gänge unter dem Pergamon-Museum in Berlin, durch die sich die Helden der Geschichte schlagen müssen, um einen Kunstraub zu verhindern.

© Happel
© Happel

Der Berliner Untergrund beherbergt neben Geheimgängen und Bunkern spektakuläre Erfindungen. Was kaum jemand weiß: Ganz in der Nähe zahlreicher Cafés an der Oranienburger Straße befindet sich unter der Erde eine alte Rohrpostzentrale. Heute ist sie nicht mehr in Betrieb. Aber vor mehr als hundert Jahren sausten hier Eisenkapseln mit Post durch lange Rohre in der Tiefe. Wer sich mit seiner Freundin zu einem Eis verabreden wollte, konnte seinen Brief zum Rohrpostamt seines Stadtteils bringen – nach circa einer Stunde hielt er die Antwort
in Händen. Das war wie eine E-Mail zum Anfassen. Die Kapseln waren so lang wie eine Banane und wurden mithilfe von Druckluft durch eine der 27 Eisenröhren gepresst, von einem Stadtteil zum anderen.
Noch immer gibt es eine Menge unentdeckter Orte unter Berlin. Oft sind Dietmar Arnold und sein Verein die Ersten, die sich in einen verlassenen Tunnel hineinwagen. Einmal wartete unter der Erde allerdings eine Überraschung auf sie: Vor einigen Jahren leitete Arnold eine Expedition in einen Bunker im Volkspark Friedrichshain. Er war – wie der Bunker aus seiner Kindheit – unter einem Hügel Schutt vergraben. Daher mussten die Abenteurer mit einem großen Bagger anrücken. Dann endlich – ein Durchschlupf! Nach wenigen Metern aber folgte die herbe Enttäuschung: Jemand war ihnen zuvorgekommen! An einer Wand erwartete die Bunkergräber das Begrüßungsschreiben eines anderen Grabungsteams: »Wir haben die Anlage wieder verschlossen und uns einem neuen Projekt zugewandt. Wir wünschen Ihnen noch viel Spaß. Mit freundlichen Grüßen, Unbekannt.«