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Der verlorene Sohn

 

John Tunguar sah seine Mutter zuletzt vor 16 Jahren. Was erwartet ihn daheim?/ Foto: Benjamin Dürr

Dies ist die Geschichte von John. Als Kind lebte der Afrikaner im Sudan, bis dort ein Bürgerkrieg ausbrach. Viele Menschen mussten fliehen. Auch John. Jetzt, im Frieden, will er endlich in seine Heimat zurückkehren

Von Benjamin Dürr

John Tunguar ist aufgeregt. Er wird bald nach Hause kommen. Seit vielen Jahren hat John seine Mutter und seine Geschwister nicht gesehen. Seine kleinste Schwester kennt er nur vom Foto.

Als er acht Jahre alt war, musste John von zu Hause fliehen. Er hatte in dem kleinen Dorf Baringa im Süden des Sudans gewohnt. Der Sudan ist ein riesiges Land in Afrika, in dem mehr als 20 Jahre lang ein Bürgerkrieg tobte. Die Menschen aus dem Norden dieses Landes kämpften gegen die aus dem Süden: um Geld. Darum, wer Präsident sein sollte. Und wer die »richtige« Religion hat – Christen oder Muslime.

Als die blutigen Kämpfe auch in Johns Gegend ausbrachen, ermutigten viele Eltern ihre Söhne zur Flucht – zum Teil, weil sie große Angst hatten, dass die Soldaten aus dem Norden besonders Jungen und Männer verfolgen würden, zum Teil, weil sie verhindern wollten, dass die Jungen auf der eigenen Seite in den Kampf hineingezogen wurden. (Die Töchter allein loszuschicken, daran dachte hier niemand.) »Wir sind immer weitergegangen«, erzählt John. »Obwohl wir sehr müde waren.« Sie wanderten zu Fuß bis zur Grenze. Und sogar noch weiter, hinein ins Nachbarland Kenia. Hunderte von Kilometern waren das. Der Weg war gefährlich. Zu essen gab es kaum etwas.

»Verlorene Jungen« nannten die Menschen in Kenia John und die anderen Kinder. So fühlte John sich auch: als hätten seine Eltern ihn verloren. Er wusste nicht, was er hier anfangen sollte. Zuerst kannte er ja niemanden. Und so wie John ging es noch vielen anderen. Man schätzt, dass während des Krieges mehr als 20000 »verlorene Jungen« aus dem Sudan flüchteten.

Die Menschen in Kenia wollten John und den anderen Kindern helfen. »Sie waren sehr freundlich«, sagt er. Mehrere Hilfsorganisationen, zum Beispiel das International Rescue Committee, kümmerten sich um die jungen Flüchtlinge. Eine Weile lebte John in einem Zelt. Später wurde er von einem Kinderheim aufgenommen. Dort hatte er nach den Wochen der anstrengenden Wanderung endlich ein bequemes Bett. Er durfte zur Schule gehen. »Das Heim wurde mein Zuhause«, sagt John.

Die anderen »verlorenen Jungen« fanden in verschiedenen Kinderheimen Platz. Manche wurden nach Amerika gebracht. Dort wuchsen sie weit weg von ihren Familien auf und gingen zur Schule. Auch John lernte jeden Tag, spielte nachmittags Fußball oder faulenzte auf seinem Bett im Kinderheim. John sagt: »Am Anfang habe ich viel an meine Familie gedacht, die immer noch zu Hause wohnte, und mir Sorgen gemacht.« Doch er war ein Kind. Er tobte mit den anderen draußen herum und vergaß nach und nach sein Heimweh. So vergingen die Tage, Wochen und Monate. John wurde älter, schließlich erwachsen. Als er fertig war mit der Schule, machte er eine Berufsausbildung. Jetzt ist er Schreiner und kann Schränke, Tische und sogar ganze Hausdächer bauen.

Landkarte des Sudan in Afrika/ Illustration: ApfelZet

Zu Hause im Sudan wurde während all dieser Zeit weiter gekämpft. Doch vor sechs Jahren, 2005, setzten sich die Menschen endlich zusammen und sprachen miteinander. Sie verabredeten, dass aus dem großen Land im Jahr 2011 zwei Länder werden sollen: der Nord- und der Südsudan. Der Streit sollte nie wieder aufflammen. Deshalb legten sie ihre Waffen nieder.

Und jetzt ist es wirklich so weit: Die Gegend im Sudan, aus der John kommt, wird ein eigener Staat. Der Krieg ist aus! Jetzt ist er auch in seinem Heimatdorf in Sicherheit. »Endlich kann ich wieder zu meiner Familie zurück«, sagt John und lacht. Er freut sich. Aber er ist auch aufgeregt, weil er seine Mutter und seine Geschwister so lange nicht gesehen hat. »Hoffentlich erkennt mich meine Mutter überhaupt«, sagt John.

Verwandte, die ihn schließlich in Kenia aufspürten, hatten John geholfen, den Kontakt zu seiner Familie wiederherzustellen. Doch in all den Jahren telefonierte er nur ganz selten mit daheim, weil es so teuer und schwierig war. Als John seine Heimat verließ, war er acht. Jetzt ist er 24 Jahre alt und hat einen Beruf gelernt. Aus dem kleinen Jungen von früher ist ein Mann geworden. Er weiß nicht, wie sein Dorf heute aussieht. Er ist gespannt, was ihn erwartet.

In der Fremde wohnte John in einem großen Haus mit Mauern aus Stein. In seinem Dorf gibt es nur kleine Lehmhütten mit einem Strohdach. Im Ausland verdiente John Geld als Schreiner. Wenn er nach Hause kommt, findet er vielleicht keinen Job. Trotzdem will er unbedingt bald zurück in seine Heimat. Er sagt: »Meine Familie ist mir jetzt wichtiger als Geld.« In seinem Dorf will er dann bleiben. Vielleicht heiratet er und baut neben der Hütte seiner Mutter ein eigenes Haus. Dann würden sie sich jeden Tag sehen: »Ich habe so viel erlebt, wir haben uns so viel zu erzählen.«

Und John will zu Hause etwas bewirken. Seine Familie freut sich auf die Unterstützung. Und Johns Heimatland braucht ihn. Die Region, aus der er kommt und in die er jetzt zurückkehrt, wird ein eigenes, unabhängiges Land. Dieses Land müssen die Menschen aber erst aufbauen. Man braucht dort Schulen, Polizisten, einen Präsidenten, neue Straßen.

John hat im Ausland gesehen, wie ein friedlicher Staat funktioniert. Er war in der Schule und hat lesen und schreiben gelernt, er hat eine Ausbildung. John sagt: »Damit kann ich helfen, unser Land aufzubauen.«