Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Dürfen wir bleiben?

 

Flüchtlinge aus Tunesien und Lybien erreichen auf kleinen Booten die italienische Insel Lampedusa/ Foto: Getty Images

Boote voller Menschen, die aus Nordafrika nach Europa fliehen – solche Bilder sieht man seit Wochen. Aber was bedeutet es eigentlich, Flüchtling zu sein?

Von Andrea Böhm

Ein Flüchtling ist jemand, dem man helfen muss, weil er sich selbst nicht mehr helfen kann. So wie die Flüchtlinge, die man oft im Fernsehen sieht: Leute, die unter Zeltplanen hocken und hoffen, dass ihnen jemand Decken und Medikamente, Essen und etwas zu trinken bringt. Flüchtlinge sind schwach. Das habe ich zumindest lange geglaubt.

Dann bin ich selbst in ein Flüchtlingslager gefahren und habe Massoud und Leyla kennengelernt. Massoud war ziemlich groß und kräftig, Leyla rannte ständig herum, um irgendetwas für ihre drei Kinder zu besorgen. Sie sahen eigentlich gar nicht hilflos aus. Nur sehr, sehr müde.

Massoud und Leyla waren Kurden aus dem Irak. Zusammen mit Tausenden anderen Kurden waren sie über die Berge in die Türkei geflohen. Denn im Irak wurden Kurden damals verfolgt, viele wurden getötet. Massoud und Leyla waren mehrere Tage zu Fuß marschiert, sie mussten sich immer wieder verstecken, weil Soldaten auf sie schossen. Massoud hatte die beiden älteren Kinder getragen, Leyla die jüngste Tochter. Zusätzlich schleppten sie Rucksäcke, Kleider, Decken. Leyla hatte außerdem ihr Hochzeitskleid eingepackt. Das fand ich damals albern. Wozu braucht man auf der Flucht ein Hochzeitskleid? »Damit ich mich an etwas Schönes erinnern kann«, hatte Leyla gesagt.

Je länger ich Massoud und Leyla damals beobachtete, desto mehr dachte ich: Flüchtlinge sind gar nicht so schwach. Wenn jemand über hundert Kilometer marschiert, dabei seine Kinder trägt und schützt, obwohl vielleicht jemand auf ihn schießt – dann muss er ziemlich stark sein.

Es ist ziemlich lange her, dass ich Massoud und Leyla getroffen habe. Inzwischen werden die Kurden im Irak nicht mehr verfolgt, und wahrscheinlich sind die beiden zurück in ihre Heimat gegangen. Aber es gibt immer noch viele Flüchtlinge: ungefähr 40 Millionen Menschen auf der ganzen Welt! Manche konnten gerade noch davonlaufen, als Soldaten oder Rebellen ihre Dörfer überfielen. Das passiert zum Beispiel immer wieder im Kongo oder im Sudan in Afrika. Diese Flüchtlinge verstecken sich manchmal wochenlang im Wald und warten, bis es wieder ruhig ist. Manche kommen eine Weile bei Verwandten in anderen Städten und Dörfern unter. Oder in einem Flüchtlingslager.

Das Leben dort ist allerdings hart. Die Menschen haben schon alles verloren, und jetzt müssen sie mit 20 anderen in einem Zelt leben. Es gibt oft zunächst kein Trinkwasser, keinen Strom, keine Schule, keine Medikamente für die Verletzten. Erst wenn Hilfsorganisationen ankommen und ein kleines Krankenzelt oder eine Trinkwasseranlage aufbauen, wird die Lage etwas besser. Oft versuchen die Flüchtlinge, sich selbst zu helfen. Manche haben, bevor sie fliehen mussten, als Ärzte oder Lehrer gearbeitet. Sie behandeln dann in einem Flüchtlingslager die Kranken oder unterrichten die Kinder – auch wenn es keine Schule, keine Tische, Bücher oder Stifte gibt.

Viele Flüchtlinge hoffen, dass sie möglichst schnell zurück nach Hause können. Für einige aber gibt es kein Zurück mehr: Sie werden daheim von der Geheimpolizei gejagt, weil sie sich für Menschenrechte eingesetzt, weil sie Demokratie gefordert oder einfach nur, weil sie kritisch über die Machthaber geredet haben. Solche Menschen nennt man »politisch Verfolgte«.

Wenn so ein Mensch nach Deutschland kommt und beweisen kann, dass ihm in seiner Heimat Tod oder Gefängnis drohen, dann erhält er »politisches Asyl«. Das Problem ist nur: Für Verfolgte ist es inzwischen schwierig, ja fast unmöglich, nach Deutschland oder nach Europa zu kommen, weil an den Flughäfen und an den Grenzen immer strenger kontrolliert wird. Menschen aus afrikanischen, arabischen oder asiatischen Ländern dürfen nur einreisen, wenn sie ein Visum (das ist eine Erlaubnis zur Einreise) haben. Wenn aber jemand in seiner Heimat verfolgt wird, kann er nicht einfach in seinem Land zur deutschen Botschaft spazieren und ein Visum beantragen.

Viele Menschen fliehen auch, weil ihre Heimatländer arm sind und sie dort keine Arbeit haben. Solche Flüchtlinge nennt man Migranten. Derzeit versuchen viele Migranten aus Tunesien, nach Europa zu kommen. In Tunesien hat es gerade eine Revolution gegeben. Aber an der Armut hat sich nichts geändert. Deswegen quetschen sie sich auf kleine Boote und wagen die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer. Wer es bis nach Europa schafft, schlägt sich durch nach Frankreich, Deutschland oder Italien und sucht Arbeit. Oft finden die Menschen sie auch. Sie arbeiten für ganz wenig Geld in Restaurantküchen, pflücken Tomaten, schuften auf Baustellen.

cbt Verlag

Wir hier in Deutschland können uns nur schwer vorstellen, warum jemand Hunderte, manchmal über tausend Kilometer zu Fuß, auf Lastwagen oder überfüllten Booten reist, nur um sich nach Europa hineinzuschmuggeln. Warum jemand so etwas tut, können die Flüchtlinge und Migranten am besten selbst erklären. Einer – er heißt Hesmat – hat seine Geschichte von einem Journalisten aufschreiben lassen (Hesmats Flucht heißt das Buch). Der Junge kommt aus Afghanistan und floh mit elf Jahren allein aus seiner Heimat. Viele Kinder und Jugendliche machen sich ohne Eltern auf den Weg. Oft sind die Eltern im Krieg gestorben. Oder die Familie hat beschlossen, wenigstens eines der Kinder für ein besseres Leben nach Europa zu schicken. Hesmat war 14 Monate unterwegs durch Turkmenistan, Kasachstan und Russland, bis er schließlich in Österreich landete. Auf der Flucht wurde er verprügelt, bestohlen, bedroht – ein elfjähriger Junge kann sich ja kaum wehren. In Österreich ist er schließlich in einem SOS-Kinderdorf gelandet, konnte zur Schule gehen und eine Lehre als Elektriker machen. Hesmats Geschichte ist gut ausgegangen, die Geschichten vieler anderer Flüchtlingskinder gehen leider nicht so gut aus. Sie werden erwischt, eingesperrt und in ihre Heimat zurückgeschickt.

Neben dem Buch „Hesmats Flucht“ haben wir noch einen weiteren Buchtipp für Euch: „Der Schrei des Löwen“ beschreibt die Geschichte des Jungen Yoba, der zusammen mit seinem kleinen Bruder aus Nigeria bis nach Europa flieht.