Lesezeichen
 

Kein Sex für Kenias Männer (und Frauen, natürlich)

Dramatische Situationen erfordern dramatische Maßnahmen – auch wenn der Effekt eher symbolisch sein mag. Weil Kenias politische Elite das Land erneut an den Rand eines Gewaltausbruchs zu manövrieren droht, haben mehrere Frauenorganisationen zu einem einwöchigen Sex-Boykott aufgerufen. Sieben Tage tote Hose oder getrennte Betten, so die Hoffnung der Gruppe G-10, eines Zusammenschlusses mehrerer Frauenverbände, soll die überwiegend männliche politische Elite zur Vernunft bringen.

Die besteht derzeit aus einer Regierungskoalition zweier Erzfeinde, des Präsidenten Mwai Kibaki und des Premierministers Raila Odinga. Ausgelöst durch massive Manipulationen Kibakis bei den Wahlen am 30. Dezember 2007 brach im Januar 2008 für mehrere Wochen ein Bürgerkrieg aus, in dessen Verlauf über 1500 Menschen starben und über 300.000 vertrieben wurden. Erst unter Vermittlung des ehemaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan kam es zu einem politischen Kompromiss: eben jener Koalitionsregierung, die aber seither nur durch Skandale auffällt.

Staatliche Korruption und Selbstbereicherung hat in Kenia legendäre Ausmaße . Kartelle mit hochrangigen Politikern treiben Nahrungsmittelpreise in die Höhe – und sahnen ab. Der Premierminister und andere Kabinettsmitglieder begeben sich mit großem Gefolge auf wochenlange Auslandsreisen. Das Parlament gönnt sich regelmäßig eine saftige Erhöhug seiner Diäten. Umso weniger bleibt übrig, um die schweren ökonomischen Folgen des Gewaltausbruchs von 2008 und der globalen Weltwirtschaftskrise zu lindern. Während in Teilen des Landes Hungersnöte drohen, streiten sich Kibaki und Odinga bis auf’s Messer – unter anderem über angeblich fehlende Toiletten während Auslandsreisen. Es reicht! erklärte Patricia Nyaundi, Vorsitzende der kenianischen Federation of Women Lawyers und Mitinitatorin des Boykotts. Seit Mittwoch, dem 29. April läuft angeblich nichts – oder nicht mehr viel in kenianischen Schlafzimmern.

Die Kenianerinnen berufen sich auf ein antikes Vorbild: In seiner Komödie Lysistrata von Aristophanes verschwören sich die Frauen Spartas und Athens zu einem Sexboykott gegen ihre kriegstreibenden Männer, um diese zum Frieden zu zwingen – eine sehr frühe und sehr andere Form des peace enforcement. Bei Aristophanes gibt’s eine Happy End. In Kenia bleibt der Ausgang dieser Aktion ungewiss. Vergewaltigung in der Ehe ist hier immer noch ein Kavaliersdelikt.

Aber die Aktivistinnen der G-10 haben einen ersten PR-Erfolg gelandet: Ida Odinga, die Ehefrau von Raila Odinga, hat sich nach Angaben der kenianischen Zeitung „The Standard“ der Kampagne angeschlossen. Und aus den männlichen Reihen des Parlaments kommen erste giftige Reaktionen: Ein solcher Boykott sei „unafrikanisch“, erklärte der Abgeordnete David Musila gegenüber „Voice of America“. „In Afrika redet man nicht öffentlich über Sex.“ Was so nun wirklich nicht mehr stimmt.

Ansonsten sind die Reaktionen in der kenianischen Öffentlichkeit gemischt. Der Sprecher der Männergruppe „Maendeleo Ya Wanaume“ sprach von einer Verletzung „fundamentaler Männerrechte“. Andere prominente männliche Vertreter der Zivilgesellschaft finden die Aktion in Anbetracht der politisch brisanten Lage durchaus angemessen. Wieder andere halten bereits zwei Tage Enthaltsamkeit für unzumutbar.

Ihr Problem ist: Sollte die Kampagne wirklich funktionieren, bleibt Männern auch die Flucht ins Bordell versperrt. Denn die Frauen von G-10 wollen allen Prostituierten Ausfallhonorare bezahlen, damit diese bis kommenden Mittwoch die Arbeit verweigern.

 

Darfur? Da war doch was!

Nicht einmal zwei Monate ist es her, da überschlugen sich die Ereignisse in Darfur – zumindest in den Medien. Der Internationale Strafgerichtshof erließ Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Omar Al-Bashir wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der warf postwendend dreizehn ausländische Hilfsorganisationen aus dem Land und mehrere sudanesische NGOs aus der Krisenregion, und kündigte an, man werde sich selbst um die Versorgung der Flüchtlinge kümmern.
Dann verschwanden Darfur und der Fall al-Bashir vom Radarschirm der westlichen Medien (auch von dem der ZEIT).
Was also ist seitdem passiert?
Zuerst zur Lage der Flüchtlinge: Ein Teil der Nothilfe, die zuvor von Organisationen wie Médecins sans frontières, CARE oder Save the Children geleistet worden war, wird nun mit denselben lokalen Mitarbeitern unter dem Schirm der UN weitergeführt. Das funktioniert nach Berichten aus Darfur einigermaßen bei der Nahrungsmittelversorgung, höchst prekär ist die Versorgung mit Trinkwasser und der Betrieb von Kliniken. Mehrere Hunderttausend Menschen sind von jeder Gesundheitsversorgung abgeschnitten, in zwei Lagern ist Meningitis ausgebrochen.
Im Juni beginnt die Regenzeit. Sind bis dahin nicht größere Vorräte an Lebensmitteln, Medikamenten und Benzin für Wasserpumpen angelegt, könnte die befürchtete Hunger-und Seuchenkatastrophe tatsächlich eintreten.
Die sudanesische Regierung ist mitnichten in der Lage und willens, ausreichend Nothilfe zu leisten. Vielmehr gibt es vereinzelt Berichte über Brandstiftungen in den Flüchtlingscamps. Nach Ansicht von darfurischen Exilanten steckt dahinter die Strategie, die Flüchtlinge aus den Lagern in die Slums der größeren Städte zu treiben – und damit aus dem Fokus der internationalen Öffentlichkeit verschwinden zu lassen.
Prekär ist auch die Lage für die verbliebenen ausländischen HelferInnen. Wer noch in Darfur ist, riskiert zunehmend, Opfer eines Überfalls oder einer Entführung zu werden.
Rund 80 der ausgewiesenen internationalen Helfer stecken seit Wochen in Khartum in einer anderen Form von Geiselhaft. Da sie nach Lesart der Regierung „wegen Verstosses gegen sudanesische Gesetze“ ihre Ausweisung selbst verschuldet haben, müssen ihre Organisationen sechs Monatsgehälter für alle lokalen Mitarbeiter überweisen. Solange diese Transaktion nicht abgewickelt ist, dürfen sie das Land nicht verlassen.
„Es ist eigentlich fast schon eine kafkaeske
Situation“, berichtet eine Nothelferin vor Ort, „wie weit die sudanesische Regierung die internationale Staatengemeinschaft vor sich hertreiben kann, ohne dass die berühmte ‚rote Linie’ übertreten wird und irgendjemand endlich laut schreit: Es reicht!“
Die Frage ist nur: Wen genau soll man anschreien? Der Sudan bietet momentan das Bild eine multiplen Krisenherds: riesige Flüchtlingslager im westlichen Darfur, neue Gewaltausbrüche im halbautonomen Süden des Landes, lähmende Verunsicherung in der Hauptstadt, wo die politische Elite zwischen Sezessionsängsten, Weltwirtschaftskrise und internem Streit über ihren mit Haftbefehl gesuchten Präsidenten hin-und her schwankt. Dessen Konfrontationskurs wird keineswegs von allen Parteigenossen und Weggefährten geteilt. Viele blicken halb ratlos, halb hoffnungsvoll auf Washington und Barack Obama, der gerade erst seinen Parteifreund John Kerry und seinen neuen Sondergesandten Scott Gratian in den Sudan geschickt hat. Die warben nach ihrer Rückkehr in Washington bei der prominent besetzten Darfur-Lobby um einen diplomatischeren Kurs. Denkbar wären Kompromiss-Lösungen wie die Rückkehr internationaler Hilfsorganisationen unter anderem Namen, eine neue Verhandlungsinitative für den Süden, ein Exil-Angebot für Präsident Bashir.
Der läßt unterdessen Koranlesungen gegen den Haager Gerichtshof abhalten und reist in die arabische Nachbarschaft, um seine „Unantastbarkeit“ zu demonstrieren. Das birgt wenig Risiken, da die meisten arabischen Staaten das Statut des internationalen Gerichtshofs nicht unterzeichnet haben und deswegen nicht verpflichtet sind, Al-Bashir festzunehmen. Anders ist die Lage in Südafrika, das zu den Vertragsstaaten des Gerichts gehört. Sollte Al-Bashir zur Inaugurationsfeier von Jacob Zuma am 9. Mai anreisen wollen, müssten die südafrikanischen Behörden ihn verhaften – oder ihm im Vorfeld dringend nahe legen, gefälligst zu Hause zu bleiben.

 

Bush, Obama und die Folter

Aus aktuellem Anlass etwas Lesestoff zum Thema „Bush, Obama und die Folter“. In der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift  „The New York Review of Books“ analysiert Mark Danner im Zusammenhang mit dem Report des Internationalen Roten Kreuz noch einmal die „Folter-Logik“ der Bush-Cheney-Administration und ihre möglichen Konsequenzen für die Amtszeit von Barack Obama:

„Torture is at the heart of the deadly politics of national security. The former vice-president, as able and ruthless a politician as the country has yet produced, appears convinced of this. For if torture really was a necessary evil in what Mr. Cheney calls the „tough, mean, dirty, nasty business“ of „keeping the country safe,“ then it follows that its abolition at the hands of the Obama administration will put the country once more at risk. It was Barack Obama, after all, who on his first full day as president issued a series of historic executive orders that closed the „black site“ secret prisons and halted the use of „enhanced interrogation techniques“ that had been practiced there, and that provided that the offshore prison at Guantánamo would be closed within a year.“

Danner, Reporter und Professor für Journalismus, hat in den vergangenen Jahren ausführlich über die „politics of fear“, die „Politik der Angst“, geschrieben, mit der die Bush-Administration ihre Methoden im „Krieg gegen den Terror“ zu legitimieren versucht hat.

Die vormals geheimen Berichte zur Rechtfertigung von Folter-Praktiken, die das US-Justizministerium nun nach einer Klage des Bürgerrechtsorganisation „Amercian Civil Liberties Union“ (ACLU) öffentlich machen musste, sind nun auf der Website der ACLU zu finden. Ein Beispiel aus einem Memo des US-Justizministeriums vom 1. August 2002, in dem es um die „Legitimität“ von Schlägen gegen den Terrorverdächtigen Abu Zubaydah geht:

„With the facial slap or insult slap, the interrogator  slaps the individual’s face with fingers
slightly spread. The hand makes contact with the area directly between the tip of the individual’s
chin and the bottom of the corresponding earlobe. The interrogator invades the individual’s
personal space. The goal of the facial slap is not to inflict physical pain that is severe or lasting.
instead, the purpose oftlle facial slap is to induce shock, surprise, and/or humiliation“.

Auf Deutsch: „Beim Schlag ins Gesicht oder Beleidigungschlag schlägt der Verhörende das Gesicht des betreffenden mit leicht gespreizten Fingern. Die Hand trifft zwischen der Spitze des Kinns und dem Rand des Ohrläppchens. (…) Ziel des Schlags ins Gesicht ist es  nicht, schweren oder lang anhaltenden physischen Schmerz zu verursachen. Ziel des Schlags ins Gesicht ist es, Schock, Überraschung und/oder Erniedrigung zu erzeugen.“

Was nach Ansicht des Justizministeriums unter George Bush ebenso wenig verwerflich war wie die Wasserfolter, Schlafentzug und andere Verhörtaktiken. Die Lektüre ist durchaus zu empfehlen. Sie gibt einen ebenso bizarren wie lehrreichen Einblick in die juristischen, moralischen und intellektuellen Verrenkungen eines Beamtenapparates, der Menschenrechtsverletzungen in „erweiterte Verhörtechniken“ umdefiniert. Und solche Verrenkungen sind  auch in anderen westlichen, demokratischen Staaten vorstellbar.

 

Staatschefs gegen Staatsanwälte

Fünfundzwanzig Jahre Gefängnis für Perus ehemaligen Staatspräsidenten Alberto Fujimori wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Erste Verfahrensschritte gegen den ehemaligen US-Justizminister Alberto Gonzales wegen Folter. Demonstrative Bruderküsse arabischer Potentaten auf die Wange ihres sudanesischen Amtskollegen Omar al-Bashir, der wegen Kriegsverbrechen mit internationalem Haftbefehl gesucht wird. Das sind die jüngsten Neuigkeiten aus der noch jungen Disziplin „Staatschef (oder Minister) gegen Staatsanwalt (oder Richter)“.

Zunächst nach Lateinamerika. Was Chile im Fall Augusto Pinochet nicht mehr geschafft hat, ist Peru im Fall Alberto Fujimori gelungen: den ranghöchsten Verantwortlichen für schwerste Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen. Fujimori, Sohn japanischer Einwanderer und Präsident Perus von 1990 bis 2000, gilt seinen immer noch zahlreichen Anhängern als Held, weil er das Land seinerzeit erfolgreich aus einer Wirtschaftskrise und durch einen blutigen Krieg gegen die maoistische Terrorgruppe „Leuchtender Pfad“ geführt hat.

Dass dabei Todesschwadronen Zivilisten massakrierten, Journalisten verschleppt und Verdächtige gefoltert wurden, tut Fujimori inzwischen leid. Aber erstens, so erklärte er während des Prozesses, habe er nichts dergleichen persönlich angeordnet und zweitens habe er damals „nicht aus dem Präsidentenpalast, sondern aus der Hölle regieren“ müssen. Soll heißen: Im Kampf gegen den Terror kann man eben nicht jeden Morgen die Genfer Konventionen lesen. Die Richter um Cesar San Martin in Lima sahen es als erwiesen, dass Fujimori für zwei Massaker verantwortlich ist.

Dieses historische Urteil wird auch in den USA auf großes Interesse stoßen. Was ist erlaubt im „Krieg gegen den Terror“? Amerikas neuer Präsident Barack Obama versucht derzeit, nicht alle, aber zumindest die schlimmsten Völkerrechtsverstöße seines Vorgängers George W. Bush im „Krieg gegen den Terror“ zu korrigieren. Das Lager Guantánamo will er schließen, die Anwendung von Folter hat er verboten. Gerade erst hat die Zeitschrift New York Review of Books einen bislang geheimen Bericht des Internationalen Roten Kreuzes im Internet veröffentlicht, in dem die Beteiligung von medizinischem Personal bei amerikanischen Folterverhören dokumentiert wird.

Doch strafrechtlich will Obama gegen Angehörige der Bush-Administration nicht vorgehen. Das übernehmen nun womöglich andere. Seit einigen Tagen prüft der spanische Untersuchungsrichter Baltasar Garzon die Klage von Menschenrechtsorganisationen gegen sechs Angehörige der Bush-Administration, darunter Ex-Justizminister Alberto Gonzales, Ex-Vizeverteidigungsminister Douglas Feith und John C. Yoo, ehemals hochrangiger Beamter im Justizministerium. Yoo hatte seinerzeit dem amerikanischen Präsidenten das Recht bescheinigt, die Genfer Konventionen und die Anti-Folterkonvention aushebeln zu dürfen.

In Spanien gilt wie auch in Belgien oder Deutschland das Prinzip der „universellen Jurisdiktion“, wonach bestimmte Verbrechen auch dann strafrechtlich verfolgt werden können, wenn sie in anderen Ländern begangen wurden, und die Tatverdächtigen keine Staatsbürger des eigenen Landes sind. Während die deutsche Justiz entsprechende Strafanzeigen bislang lieber abblockt, gelten Belgien und Spanien als Vorreiter. Garzon hatte es 1998 geschafft, Augusto Pinochet in London festnehmen zu lassen. Der stand dort zwei Jahre unter Hausarrest, bis er schließlich wegen Krankheit zurück nach Chile durfte und dort die letzten Jahre seines Lebens wiederum unter Hausarrest verbrachte.

Ein Strafverfahren gegen die „Bush 6″ wäre auch insofern sensationell, als die Beklagten nicht zur militärischen oder geheimdienstlichen Befehlskette gehören. Sie zählten zur Kaste der Rechtsexperten, die Praktiken wie Water Boarding und andere Foltermethoden in kafkaesk anmutenden Gutachten für legal und legitim erklärt hatten. Würde die Obama-Regierung die „Bush 6“ im Falle eines Haftbefehls nach Spanien ausliefern? Bestimmt nicht. Obama hat mit seiner Kritik an CIA-Folter, Irak-Krieg, Guantanamo und kapitalistischen Exzessen die amerikanische Bereitschaft zur Reue so ziemlich ausgereizt.

Ehemals hochrangige Regierungsbeamte an ein ausländisches Gericht zu überstellen, wäre innenpolitischer Selbstmord. Das heißt nicht, dass ein Ermittlungsverfahren in Madrid nur symbolischen Charakter hätte. Es würde ein deutliches Signal senden, das beschädigte Folterverbot wiederherzustellen. Und EU-Länder würden die „Bush 6“ auf ihren zukünftigen Urlaubs- und Geschäftsreisen in Zukunft meiden müssen.

Und wie steht es um den derzeit bekanntesten (und umstrittensten) Haftbefehl der Welt gegen Sudans Präsidenten Omar al Bashir? Anders als bei Fujimori ermittelt gegen al Bashir ein internationales Gericht. Und anders als im Fall des Peruaners, der bei Prozessbeginn bereits politisch entmachtet war, ist al Bashir ein amtierender Präsident mit genügend Macht, um den politischen und humanitären Preis für diesen Haftbefehl dramatisch zu erhöhen. Unter anderem, indem er als Reaktion zahlreiche Hilfsorganisationen aus Darfur ausweisen ließ. Und indem er der Welt verkündet: ‚Seht her, ich kann reisen, wohin ich will’. Nach diesem Motto sucht al Bashir Unterstützung gegen den Internationalen Strafgerichtshof (ICC), der ihn seit dem 4. März wegen schwerer Verbrechen in Darfur festnehmen lassen will. Und er findet sie bis auf weiteres – zumindest in der arabischen Welt. Kairo, Doha, Mekka standen in den letzten Tagen auf seiner Reiseroute. Überall demonstrativer Schulterschluss seiner Amtskollegen und Beifall der staatlich kontrollierten Medien gekoppelt mit dem Vorwurf der westlichen „Doppelmoral“: Al-Bashir würde man wegen der Verbrechen in Darfur verfolgen, die israelische Regierung bliebe nach den Menschenrechtsverletzungen in Gaza unbehelligt.

Wozu die Journalistin Diana Mukkaled in der konservativen pan-arabischen Zeitung Asharq Al Awsat schrieb: „Warum glauben so viele Araber, dass Widerstand gegen den Westen und gegen internationale Justiz wichtiger ist als das Leben von Hunderttausenden in Darfur? (…) Wenn wir Gerechtigkeit für Gaza wollen, müssen wir dann nicht auch Gerechtigkeit für Darfur fordern? “ Mukkaled vertritt zweifellos eine Minderheitenmeinung in der arabischen Presselandschaft.

Aber das Argument der Doppelmoral hat nun zumindest etwas an Wucht verloren: Vergangene Woche gab die UN bekannt, eine Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen während des Gaza-Krieges zu entsenden. Leiter ist der südafrikanische Jurist Richard Goldstone, ehemals Chefankläger der UN-Tribunale für Jugoslawien und Ruanda. Der Mann kennt sich aus im Minenfeld von Politik und internationaler Strafjustiz – und diese Erfahrung wird er auch dringend brauchen.

 

Sprechstunde bei Rechtsanwalt Ngongo

Der Kampf gegen die Straflosigkeit – das schreibt sich im Kongo nicht nur fast jede Hilfsorganisation sondern auch der Großteil der ausländischen Geldgeber auf die Fahne. Das Ziel: Korruption, sexuelle Gewalt, polizeiliche Willkür und Plünderungen müssen endlich geahndet werden. „Kommen Sie doch einfach mit in die Sprechstunde“, hatte Rechtsanwalt Ngongo gesagt. „Dann sehen Sie, wie es hier zugeht.“

Jean Paul Ngongo leitet das Büro von Vovolib, einer kleinen Bürgerrechtsorganisation in Bukavu. Vovolib steht für „Voix des sans voix et liberté“, Stimme derer ohne Stimme und Freiheit. Einigen Behörden ist sie zu laut und zu kühn, weshalb häufiger Polizisten in Ngongos Büro stehen und ihm die Schließung androhen, weil die „Stimme“ mal wieder öffentlich über Schmiergelder, Behördenwillkür und das marode Gerichtssystem geschimpft – oder, schlimmer noch: Anzeige erstattet und Namen genannt hat. Was lebensgefährlich sein kann.

Ich kenne Ngongo von einem Besuch im vergangenen Sommer. Damals war wenige Tage vor unserem Treffen im Juni 2008 eine Mitarbeiterin von Vovolib ermordet worden – nach Zeugenaussagen von Soldaten einer in Bukavu stationierten Brigade. Wabiwa Kabisuba hatte für Vovolib vergewaltigte Frauen betreut, darunter auch eine, die gegen den Täter, einen Offizier, Anzeige erstatten wollte. Kabisuba begleitete sie zur Polizei und zum Gericht. Das, so glaubt Jean-Paul Ngongo, sei seiner Kollegin zum Verhängnis geworden. „Wurden die Täter inzwischen verhaftet?“ frage ich. Ngongo lächelt nachsichtig und schüttelt den Kopf. „Wird ermittelt?“ „Nicht wirklich.“ Das Verfahren, so glaubt er, werde im Sande verlaufen.

Also nichts Neues aus den morschen Hallen kongolesischer Gerichte? „Na ja“, sagt Ngongo, ein paar Fortschritte gebe es schon.

Seine Organisation hat sich vergrößert, betreibt neben Rechtsberatung und Internet-Café jetzt auch ein Radio-Programm. Radio Vovolib sendet aus einem sechs Quadratmeter kleinen, muffigen Studio jeden Tag neun Stunden auf 94,0 FM. Vorausgesetzt, es gibt Strom. Hip Hop, neue Korruptionsfälle, kongolesischer Rumba, Neuigkeiten aus dem Gericht, Live-Gespräche mit Hörern, die Dampf ablassen wollen, zur Entspannung ein paar Schnulzen von Koffi Olomide, immer noch die Samtstimme der kongolesischen Musikszene.

Seit Radio Vovolib auf Sendung ist, kommen immer mehr Leute in Ngongos Sprechstunde. Noella Cinama ist die erste an diesem Tag, zum neunten Mal ist sie hier, sie will den Mann, der sie vor anderthalb Jahren vergewaltigt und geschwängert hat, vor Gericht sehen. So viel Sturheit überrascht selbst Ngongo. Seine Mandantin wohnt in Kabare, über zwanzig Kilometer entfernt. „Wenn sie kein Geld fürs Sammeltaxi hat, kommt sie sogar zu Fuß.“ Seit der Vergewaltigung, sagt sie, werde sie daheim behandelt, als hätte sie die Cholera. Sie will einen Prozess, will den Täter, einen Mann aus ihrer Nachbarschaft, ins Gefängnis bringen, zumal der sich einen Dreck um das Kind kümmere, das er ihr gemacht habe. Sie hat von ersten Urteilen gegen Vergewaltiger gehört, sogar der Bruder des ehemaligen Polizeichefs sei doch schon im Gefängnis gelandet. Warum soll in ihrem Fall nicht ähnliches gelingen.

Weil die Ermittlungsakte, die man sich hier bestenfalls als ein eng beschriebenes Stück Papier vorstellen darf, seit Monaten auf irgendeinem Schreibtisch der Staatsanwaltschaft herum liegt, schlägt Ngongo vor, direkt bei Gericht eine Vorladung des Tatverdächtigen zu beantragen. Das wird ein paar Dollar kosten, nicht für den Anwalt, sondern für diverse Bearbeitungsgebühren offizieller und inoffizieller Art. Frau Cinama bedankt sich, macht sich wieder auf den Weg nach Hause.

Der nächste bitte. Mama Massiri, eine kleine sehnige Frau mit adrettem gold grünem Turban, setzt sich auf die Stuhlkante. Aus Kamituga ist sie gekommen, 120 Kilometer südlich von Bukavu. Ihr Mann sei daheim wegen eines Streites um eine gestohlene Schlafmatte zusammen mit drei anderen festgenommen worden, habe als einziger die 50 Dollar „Freilassungsgebühr“ nicht aufbringen können, weswegen ihn der zuständige Richter in Kamituga wegen Diebstahls für zwei Jahre ins Zentralgefängnis von Bukavu geschickt hat, was seiner Tuberkulose gar nicht gut tue. Der Richter habe aber immerhin erklärt, sagt Frau Massiri, dass er das Urteil gegen Übergabe von einem Kilo Gold, aufheben könne.

Wo denn die Gerichtsakte sei, will Anwalt Ngongo wissen. Die sei verschwunden, sagt Frau Massiri. Ngongo lacht, als stehe er kurz vor einem hysterischen Anfall. „Madame, wir werden morgen einen Antrag auf Berufung vor dem Tribunal in Bukavu einreichen. Aber das wird dauern. Mindestens zwei Wochen.“ Frau Massiri nickt halb dankbar, halb resigniert, weil zwei Wochen für einen Tuberkulose-Kranken in einem Gefängnis, wo es kein sauberes Trinkwasser und nur selten Nahrung gibt, eine tödlich lange Zeit sein können.

Der Nächste bitte. Pastor Chikawanine aus Kalenge zieht den Schirm seiner Baseballmütze wie eine Gebetskette durch die Finger. Der Pastor hat eigentlich kein rechtliches, sondern ein finanzielles Problem. Kalenge liegt in einem Gebiet, das von Hutu-Milizen der FDLR kontrolliert wird. Seit einem Massaker der FDLR vor vier Jahren, so der Pastor, gebe es dort viele Waisen. Er habe ein Heim für die Kinder eröffnet, samt Schule, aber es fehle an Betten, Geschirr, Schuluniformen, Büchern, Tafeln, Kreide, Stuhlen, Tischen. Also so ziemlich an allem. Er hoffe auf eine größere Spende von Vovolib. Ich weiß nicht, ob man dem Mann glauben soll. Ngongo jedenfalls hält ihn für vertrauenswürdig.

Er und der Pastor machen eine Weile Small Talk. Dann sagt Ngongo: „Es tut mir leid, Pastor, wir haben im Moment kein Geld zu vergeben.“ Schweigen. Ngongo spielt mit seinem Handy, der Pastor mit seiner Baseballmütze. „Pastor“, sagt Ngongo in einem zweiten Versuch, das Gespräch zu beenden, „wir bleiben in Kontakt, okay?“ Schweigen. Ngongo tippt ein paar Notizen in seinen Laptop. „Wissen Sie, Herr Anwalt, wir haben nicht mal Schulhefte“, sagt der Pastor zum Abschied.

Das sei der Nachteil der Massenmedien, sagt Ngongo später. „Wenn die Leute Deine Stimme im Radio hören, denken sie sofort, Du hast viel Geld.“ Was für kongolesische Verhältnisse stimmt – und auch wieder nicht. Bislang unterstützte die Schweizer Regierung das Büro von Vovolib, doch die Förderung, sagt Ngongo, laufe in diesem Jahr aus, und er müsse neue Geldgeber suchen. Die Ausgaben werden ja nicht weniger.

Neulich hätten er und eine Kollegin eine hochschwangere Frau in einem Vergewaltigungsprozess vertreten, pro bono, also unentgeltlich. Als nach dem ersten Verhandlungstag die Wehen einsetzten, habe die Mandantin ziemlich rabiat verlangt, „dass wir die Entbindung bezahlen.“ Was Vovolib auch getan habe. Ein bisschen mehr Dankbarkeit seitens seiner Klienten wäre manchmal schön. „Aber die sind alle total traumatisiert“, sagt er. Und Traumatisierte hätte nun mal keine Zeit für Dankbarkeit.

 

Kommissar Mundibura, der Papst und die Kondome

Egal, wo ich hinkomme auf dieser Kongo-Reise – Beni, Butembo, Goma, Bukavu: Sobald die Leute wissen, dass ich Deutsche bin, kommt das Gespräch auf den Papst und seine Afrika-Reise. „Warum kommt Benedikt nicht in den Kongo?“, lautet die erste Frage, als könnte ich qua Landsmannschaft mit dem obersten Katholiken dessen Reisepläne erklären. Keine Ahnung, sage ich dann, wahrscheinlich sei ihm der Kongo zu anstrengend. Wofür meine Gesprächspartner Verständnis haben. Sie finden ihr Land auch ziemlich anstrengend.

Kommissar Paul Mundibura von der Polizei in Bukavu beschäftigt weniger das Besuchsprogramm des Papstes als dessen jüngste Äußerung, wonach Kondome die Verbreitung von HIV/AIDS erstens nicht aufhalten könnten, und, zweitens, im Zweifelsfall noch verschlimmerten. Kommissar Mundibura ist 41 Jahre alt, Vater von vier Kindern und gläubiger Katholik. Er arbeitet für die Sondereinheit „Zum Schutz der Kinder und zum Kampf gegen sexuelle Gewalt“. Die Einheit hat zwar kein Budget, keine Einsatzwagen, Computer, Schreibmaschinen, Waffen, geschweige denn ein forensisches Labor. Aber ihre Mitarbeiter besitzen erstaunlich viel Elan.

Wenn sich ausnahmsweise mal Benzingeld und ein Auto auftreiben lassen, kann man mit Kommissar Mundibura nachts auf Patrouille durch das Rotlichtviertel von Bukavu fahren, wobei es dort mangels Strom kein Rotlicht, sondern nur gelblich schimmernde Öllampen gibt. Wir rollen im Schritttempo am „Negrita“ vorbei, ein Nachtclub, der für mein ungeübtes Auge aussieht wie ein vom Einsturz bedrohter Bretterverschlag. Das „Negrita“ ist für aggressive Kundschaft bekannt. Also bleibt der Kommissar lieber im Wagen und notiert sich die Namen der minderjährigen Prostituierten, die im Halbdunkel zu erkennen sind, und die er inzwischen samt ihren trostlosen Familiengeschichten kennt. Es ist Samstag, gegen 22 Uhr, vor dem Eingang hängen junge Männer herum, die sich gegenseitig um das Eintrittsgeld für den Club anpumpen.

„Präservative können Sie hier natürlich vergessen“, sagt der Mundibura, während unser Auto über eine Schlammpiste an den Silhouetten von Erdnussverkäuferinnen, Straßenkindern und kokelnden Müllhaufen weiter ruckelt. „Nach fünf Bier oder einer halben Flasche Bananenschnaps denkt kein Mann mehr an ein Kondom.“

In nüchternem Zustand aber, so behauptet der Kommissar Mundibura, seien seine kongolesischen Geschlechtsgenossen inzwischen etwas empfänglicher für das Motto „Der echte Mann schützt sich bei jedem Mal.“ Und zu „echten Männern“ zählt er auch die Katholiken. Bei Fortbildungen für Polizisten, Lehrer oder Gefängniswärter predigt Mundibura mit – man möchte sagen: religiöser – Sturheit eine Kombination aus kongolesischem Strafgesetz, Gesundheitsschutz und Appellen gegen Aberglauben: Jawohl, Vergewaltigung und Prostitution Minderjähriger sind Verbrechen, keine Kavaliersdelikte. Nein, Sex mit jungfräulichen Mädchen bringt weder Reichtum, noch heilt er einen Mann von HIV/AIDS. Ja, Abstinenz und eheliche Treue sind männliche Tugenden, und weil nicht jeder Mann immer tugendhaft ist, soll er, bitte schön, ein Kondom benutzen.

Das würde der Heilige Vater nicht gerne hören, wende ich ein. Vielleicht, entgegnet Kommissar Mundibura mit aller gebotenen Ehrfurcht des gläubigen Katholiken, sei der Heilige Vater in Sachen HIV/AIDS nicht ganz auf dem neuesten Stand der Dinge. Wir parken den Wagen auf der Avenue Lumumba vor dem „Michopo“, ein Nachtclub der gehobenen Klasse, der zwar auch nach abgestandenem Bier und Schweiß riecht, aber mit Billard-Tisch und Hochglanzpostern weißer Models in Reizwäsche ausgestattet ist. Hinter dem Türsteher leuchtet in grellen Farben ein Wandgemälde, das ein Pärchen in einer Bar zeigt. Zwischen ihren Köpfen schwebt eine Packung Kondome der Marke „Prudence“. Eigentlich sei die Sache klar, sagt Kommissar Mundibura: „Wenn alles auf dieser Welt Gottes Wille ist, dann war auch die Erfindung des Kondoms Gottes Wille.“ Und dann müsse der Mensch, genauer gesagt: der Mann, es eben zum Guten nutzen. Also überziehen. „Jedes Mal“, sagt der Kommissar.

 

Bodybuilder Joe will nicht mehr über Krieg reden

Beni, Nord-Kivu
Joe ist Anfang zwanzig, hat einen Bizeps vom Umfang einer Kokosnuss und Brustmuskeln, die man als üppig bezeichnen darf. Joe ist der König der Bodybuilder von Beni, einer Stadt in der Provinz Nord-Kivu. Zugegeben – die Konkurrenz ist nicht groß. Bodybuilding hat noch nicht viele Fans im Kongo. Joe betreibt „Kinetic Gym“, ein Fitness-Studio im Hinterzimmer einer Kneipe, die gleichzeitig eine Boutique ist.

Joe hat den selbstbewussten Gang eines Mannes, der weiß, dass sich bestimmte Probleme beim Anblick seiner Muskelpakete von selbst erledigen. „Außerdem“, sagt er, „kann ich Judo.“ In Kriegszeiten hat ihm das nicht viel geholfen. Da war er auf der Flucht wie Millionen anderer Kongolesen auch.

Beni besteht aus mehreren Staubpisten und Ladenzeilen, an denen der Krieg und Verfall ihre Spuren hinterlassen haben. In ansehnlichem Zustand befinden sich nur die Nachtclubs. Beni besitzt außerdem einen Landeplatz für Helikopter, auf dem sich nepalesische Blauhelme langweilen, und einem Stützpunkt der kongolesischen Armee, vor dem tauchen alle paar Wochen einige zerlumpte Mai-Mai-Rebellen auf, die vom Leben in spartanischen Buschcamps die Nase voll haben und nun im Rahmen des Friedensprozesses der kongolesischen Armee beitreten wollen.

Joe hat, was solche Prozesse angeht, Übersicht und Zutrauen verloren. Und er wundert sich, dass ausländische Journalisten – in diesem Fall ich, eine deutsche Reporterin und Tim, ein amerikanischer Fotograf, immer noch hinter Geschichten über Rebellen und den flüchtigen Frieden her sind.

Der jüngste Anlauf zur Beendigung des Dauerkriegs im Ost-Kongo begann vor einigen Monaten – und zwar mit einer Militäroperation der besonderen Art. Die traditionell verfeindeten Regierungen des Kongo und Ruandas beschlossen, gemeinsam gegen die FDLR zu marschieren, jene aus Ruanda stammende Hutu-Miliz, aus deren Reihen einige der Anführer des Völkermords 1994 in Ruanda stammen. Die FDLR kontrolliert seit nunmehr fünfzehn Jahren rohstoffreiche Gebiete in den beiden Kivu-Provinzen – lange Zeit mit stillschweigender oder offener Zustimmung aus Kinshasa.

Ihre Präsenz lieferte der kongolesischen Tutsi-Miliz CNDP von Laurent Nkunda den Vorwand, ihrerseits Territorium in Nord-Kivu zu besetzen. Ende vergangenen Jahres marschierte Nkunda ohne nennenswerte Gegenwehr der kongolesischen Armee bis kurz vor die Provinzhauptstadt Goma, was eine weitere Flüchtlingskatastrophe, diverse Massaker und ein neuerliches Debakel für die UN-Friedenstruppen zur Folge hatte.

Dann kam – für fast alle internationalen Experten völlig überraschend – der Deal zwischen dem riesigen, völlig desolaten Kongo und dem kleinen, militärisch bestens organisierten Ruanda zustande: Die Regierung in Kigali nahm ihren kongolesischen Tutsi-Verbündeten Nkunda fest – er befindet sich bis heute unter Arrest – und ließ sich von Kinshasa im Gegenzug zur Militäroperation nach Nord-Kivu einladen. Was in Beni – und nicht nur dort – mit gemischten Gefühlen quittiert wurde. Die Mehrheit der Kongolesen hasst Nkunda, gleichzeitig erinnern sie die ruandischen Truppen als brutale Besatzer aus Zeiten der beiden Kongo-Kriege.

Inzwischen sind die ruandischen Truppen wieder abgezogen. Das Fazit: Sie haben die FDLR-Rebellen tiefer in den Busch gedrängt, einige Kommandanten der zweiten Garnitur gefangen genommen, ein paar hundert Milizionäre dazu gebracht, nach Ruanda zurückzukehren. In Goma herrscht wieder relative Ruhe, viele Flüchtlinge sind zurückgekehrt. Doch die Mehrheit der FDLR-Trupps ist intakt geblieben, sie rächen sich jetzt mit Überfällen auf Dörfer und versuchen nach Angaben der UN, verlorene Stützpunkte wieder einzunehmen.

Joe nimmt solche Nachrichten mit fatalistischer Gelassenheit zur Kenntnis. Er nutzt ruhige Zeiten, ohne genau zu wissen, wie lange sie dauern und wohin sie ihn tragen. Und jetzt sind ruhige Zeiten – zumindest in Beni.

Joe hat das Fitness-Studio ausgebaut. Es besteht jetzt aus zwei sehr schmalen Laufbändern, die nur mit der Schrittbreite eines Mannequins zu benutzen sind. Zur Ausstattung gehören außerdem ein halbes Dutzend Springseile, eine Gewichtbank, die aus den aktiven Zeiten Arnold Schwarzeneggers stammen dürfte, und eine imposante Lautsprecheranlage für „Fitness-Musik“. Joe mag Rapper. An den Wänden hängen Fotos von Tupac Shakur und Eminem. Außerdem Poster von Beyoncé und Britney Spears, die zwar nicht rappen können, dafür aber ein beeindruckendes Dekolleté zeigen.

Joe hat einen Assistenten, Charlie, der ihm bis zu den Brustwarzen reicht, ansonsten aber genauso gebaut ist wie sein Chef. Wenn Charlie nicht gerade einarmige Liegestütze macht, scheucht er schwer atmende Mitarbeiter der UN mit einem selbst entworfenen Aerobics-Programm.

Joe sagt, bevor ich das nächste Mal nach Beni komme, solle ich anrufen. Dann würde er ein Bodybuilding-Turnier organisieren mit Teilnehmern aus Goma, Beni, Butembo. Die Crème de la Crème der Muskelmänner von Nord-Kivu. Das wäre doch mal was anderes für die internationale Presse. „Immer nur diese Geschichten über Krieg, Kindersoldaten und Vergewaltigung. Davon müsst Ihr doch irgendwann mal genug haben.“ Absolut, sage ich, und lasse mir seine Telefonnummer geben. Wenn ich das nächste Mal in Beni bin, will ich nichts als Bodybuilder sehen.

 

Lubanga bleibt vorerst in Haft

Thomas Lubanga bleibt vorerst hinter Gittern. Nachdem die erste Kammer des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGh) am 13. Juni das Verfahren gegen den Kongolesen ausgesetzt hatte, schob sie eine Entscheidung über seine Freilassung am Dienstag erst einmal auf. Die Richter der Kammer werfen dem Büro von Chefankläger Luis Moreno-Ocampo vor, entlastendes Beweismaterial unter Verschluss zu halten. Der will gegen den Verfahrensstopp Widerspruch einlegen und hat den Opfern des ehemaligen Kriegsherrn versprochen, dass „Gerechtigkeit walten wird“. Ocampo glaubt, dass der Streit um das Beweismaterial in den nächsten Wochen beigelegt wird, und der Prozess dann endlich im September beginnen kann. Lubanga sitzt seit März 2005 in Haft.

Ocampo, der sich in den achtziger Jahren bei der Strafverfolgung von Junta-Mitgliedern in seinem Heimatland Argentinien einen Namen gemacht hat, feiert diesen Monat sein fünfjähriges Amtsjubiläum beim IStGh. Eine Zwischenbilanz seiner Arbeit zieht Nick Grono, Vize-Präsident der International Crisis Group. Die fällt durchaus kritisch aus. Grono moniert, dass der IStGh Gefahr läuft, zum „Gerichtshof für Afrika“ reduziert zu werden, weil er bislang ausschließlich in afrikanischen Ländern ermittelt (Kongo, Uganda, Sudan, Zentralafrikanische Republik)

„The prosecutor is already conducting preliminary analyses of atrocities in Colombia and Afghanistan. If the evidence warrants it, he should launch proper investigations in these countries, particularly in Afghanistan where warlords, commanders and insurgents have continued to commit systematic abuses in recent years.“

Außerdem erscheint ihm Ocampo zu zaghaft, wenn es um Anklagen gegen amtierende Machthaber geht. Mit Ausnahme des Falles Sudan richten sich die Ermittlungen des IStGh bislang ausschließlich gegen ehemalige oder noch aktive Rebellenführer.

„If the court is to have the impact its founders hoped of it, it needs convictions of government leaders who abuse human rights. Such convictions give deterrence and delegitimisation a force that prosecutions of rebels do not. Just look at how the Slobodan Milosevic and Charles Taylor prosecutions have resonated around the world.“

 

Der Paukenschlag des Gerichts – womöglich platzt der internationale Prozess gegen den kongolesischen Warlord Thomas Lubanga

Es ist ein Schlag ins Gesicht – fragt sich nur, wen er am härtesten trifft.
Am Montag hat die erste Kammer des internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (IStGh) das Verfahren gegen den ehemaligen kongolesischen Kriegsherren Thomas Lubanga ausgesetzt. Die Begründung: Die Anklage habe der Verteidigung zahlreiche Dokumente mit zum Teil entlastendem Material vorenthalten. „Wenn schon zu Beginn klar ist, dass grundlegende Voraussetzungen für einen fairen Prozess fehlen“, so die Richter in ihrer Begründung, „ist es unabdingbar, das Verfahren auszusetzen.“ Eigentlich hätte der Prozess gegen Lubanga, der wegen Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten in Ituri im Ost-Kongo angeklagt ist, am 23. Juni beginnen sollen. Nun aber will die Kammer nächste Woche darüber entscheiden, ob Thomas Lubanga auf freien Fuss gesetzt wird. Für die internationale Reputation des Gerichtshofs wäre dies verheerend.
Aber was genau ist eigentlich passiert? Haben die Ankläger unter Leitung des Argentiniers Luis Moreno- Ocampo wirklich mit unsauberen Tricks gearbeitet? Ist der erste Prozess des Internationalen Strafgerichtshofs damit bereits gescheitert? Und was heisst das für die Zukunft des Völkerstrafrechts?

Ankläger internationaler Strafgerichte stehen zweifellos unter größerem Druck als Richter und Verteidiger. In den Augen der Weltöffentlichkeit sind sie die Rächer von Verbrechen, die die internationale Staatengemeinschaft nicht verhindern konnte oder wollte: Völkermord, Massaker, Massenvergewaltigungen, Rekrutierung von Kindersoldaten, ethnische Vertreibungen. Ob Slobodan Milosevic, Charles Taylor oder Thomas Lubanga – in den internationalen Medien, in den Berichten von Menschenrechtsorganisationen und UN-Kommissionen stehen diese Angeklagten längst als Kriegsverbrecher fest. Für eine juristische Bewertung ihrer Schuld gelten aber nun mal andere kompliziertere Kriterien. Auch für die Schlimmsten der „bad guys“ gilt der Grundsatz in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Das ist der internationalen Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln.

Tatsächlich gab und gibt es bei internationalen Strafgerichtshöfen einiges zu bemängeln an der „Waffengleichheit“ zwischen Anklage und Verteidigung. Ankläger und Verteidiger suchen jeweils nach belastenden und entlastenden Beweisen und „fechten“ die Frage von Schuld oder Unschuld vor den Richtern aus. Bloß sind letztere meist deutlich schlechter ausgestattet. Beim UN-Jugoslawien-Tribunal wurden sie in den ersten Jahren recht stiefmütterlich behandelt, mussten um Ressourcen und Räume kämpfen. Im Verfahren gegen den ehemaligen liberianischen Präsidenten Charles Taylor monierte die Strafkammer des zuständigen internationalen Sondertribunals, dass dessen Anwälte bei der Ermittlungsarbeit gegenüber den Anklägern benachteiligt worden seien. Und nun also der Paukenschlag im Fall Lubanga.

Allerdings geht es hier noch um ein anderes Problem: Bei den Dokumenten, die die Ankläger des IStGh partout nicht herausrücken wollen, handelt es sich um Beweismaterial, dass ihnen von Angehörigen der UN-Mission im Kongo unter der Zusicherung absoluter Vertraulichkeit gegeben worden ist. Würden diese Unterlagen an die Verteidigung und damit auch an den Angeklagten weitergegeben, so die Befürchtung, könnte dieser die Identität der Informanten herausfinden. Und das könnte für die Betreffenden – vor allem für Zeugen aus der Zivilbevölkerung – gefährlich werden. Denn der Gerichtshof hat wie auch die anderen internationalen Tribunal keine eigene Polizei. Seine Möglichkeiten, Zeugen zu schützen, sind minimal.
Der Beschluss der ersten Kammer des IStGh vom vergangenen Montag verdeutlicht also eines der zentralen Probleme des Völkerstrafrechts. Der Strafgerichtshof ermittelt derzeit in Darfur, im Kongo, in Uganda und in der Zentralafrikanischen Republik. In Darfur herrscht Krieg, die anderen drei Länder befinden sich irgendwo zwischen Krieg und Frieden. Ermittler des Gerichtshofes können nur unter extrem schweren Bedingungen und größtem Risiko vor Ort arbeiten. Ohne die Zuarbeit von lokalen Menschenrechtsgruppen oder den jeweiligen UN-Missionen wäre wohl keine einzige Ermittlungsakte eröffnet worden.

Die Gründer des IStGh haben ja vorausgesehen, dass das Gericht im wahrsten Sinne des Wortes mitten ins Scharmützel geraten würde. Dass seine Ermittlungen nicht nur den Tatverdächtige überführen, sondern auch jenen Menschen gefährlich werden können, die es wagen, die Verbrechen zu bezeugen. Das Römische Statut, die Gründungsakte des Gerichts, erlaubt den Anklägern, in bestimmten Fällen Beweismaterial unter Verschluss zu halten, um die Quellen zu schützen. Im Fall Lubanga, so die Richter der ersten Kammer, habe die Anklage dieses Recht allerdings missbraucht.

Ist der Prozess gegen Thomas Lubanga also noch zu retten? Vielleicht. Denn die Richter haben der Anklage einen Vorschlag zur Güte gemacht. Sie wollen Einsicht in die Dokumente bekommen und dann selbst entscheiden, welche entlastenden Charakter haben und der Verteidigung zugänglich gemacht werden müssen. Jetzt muss das Büro des Chefanklägers Moreno-Ocampo die Informanten überreden, auf ihre Anonymität zu verzichten. Klappt das nicht, ist das erste Verfahren des IStGh zu Ende, bevor es richtig begonnen hat.

In Ituri, wo Lubangas Hema-Truppen im Krieg gegen Milizen der Lendu den Tod von 60.000 Menschen mitverschuldet haben, versteht man ohnehin nicht mehr, was da im fernen Europa vor sich geht. In den von Hema bewohnten Vierteln der Bezirkshauptstadt Bunia feiern Lubangas Anhänger, als wäre die Entscheidung der Den Haager Kammer ein Freispruch. In den Nachbarschaft der Lendu hingegen fühlen sich die Leute um die Rache am Erzfeind betrogen. Seit über zwei Jahren sitzt Lubanga in Den Haag in Untersuchungshaft, seit über zwei Jahren warten sie auf die Eröffnung des Prozesses. Und jetzt das. Gut möglich, dass die Entscheidung der Richter vom vergangenen Montag auf lange Sicht die Prozessführung des IStGh gestärkt hat. In Bunia aber hat das Weltgericht jede Glaubwürdigkeit verspielt.

 

ZEIT-Leser spenden für Frauenkrankenhaus im Kongo

Es hat die ganze Nacht über geregnet in Bukavu, die Straße hoch zum Panzi-Hospital ist eine Schlammfurche. Immer wieder bleiben Autos stecken, Motorräder schliddern in den Dreck. Was soll’s – man fällt ja weich.
Es ist mein zweiter Besuch in dem Hospital, das für abertausende vergewaltigter Frauen zur letzten Hoffnung und zum Zufluchtsort geworden ist. Der erste fand im Oktober 2006 statt. Damals lernte ich Mama Zawadi kennen, siebenfache Mutter aus Bunyiakiri in der Provinz Süd-Kivu, Anfang 2006 von Hutu-Rebellen entführt, monatelang vergewaltigt, bis ihr schließlich, schwer verletzt, die Flucht gelang. Im Panzi-Hospital operierten Ärzte ihren verstümmelten Unterleib, so dass sie ihren Urin und Stuhlgang wieder kontrollieren kann.
Im Oktober 2006, am Tag meines ersten Besuchs, war Mama Zawadi aus dem Panzi Hospital entlassen worden in eine ungewisse Zukunft, nicht wissend, ob ihre Kinder noch am Leben waren, ob die Dorfgemeinschaft sie, eine vergewaltigte und „beschmutzte“ Frau, wieder aufnehmen würde.

Die Geschichte von Mama Zawadi veranlasste ZEIT-Online-Leser zu einer Spendenaktion. Studierende des Abendgymnasiums Frankfurt, einer UNESCO-Projektschule, trugen über 1000 Dollar zusammen. Und weil Überweisungen in den Kongo immer noch eine höchst komplizierte Sache sind, spiele ich den Geldboten. Doktor Denis Mukwege, Leiter des Krankenhauses, und an diesem Tag hörbar vergrippt, quittiert mit Stempel, Unterschrift und einem „Merci beaucoup“ den Empfang. Er fände es doch erstaunlich, sagt er schneuzend und schniefend, dass sich Menschen ein paar tausend Kilometer entfernt, „über den Wahnsinn hier in unserem Land“ Gedanken machten.

denis-mukwege.JPG
Dr. Denis Mukwege, Leiter des Panzi-Hospital, und die Buchhalterin des Krankenhauses nehmen die Spende der ZEIT-Leser entgegen. Foto: Andrea Böhm

„Wie geht es Mama Zawadi?“ frage ich.
„Mama wer?“ Mukwege kramt in der Horrorkartei seines Gedächtnisses nach Namen, Gesichtern und den dazugehörigen Verletzungen. Aber die Behandlung von Mama Zawadi ist jetzt anderthalb Jahre her, er hat seitdem über hunderte neue Patientinnen operiert. „Es sind so viele, ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern.“

Das Panzi-Hospital ist immer noch die einzige medizinische Anlaufstelle für vergewaltigte Frauen (und Männer) in der Provinz Süd-Kivu. Ein zweites Krankenhaus gibt es in Goma, der Hauptstadt der Nachbarprovinz Nord-Kivu. Die Kivu-Provinzen sind und bleiben die Krisenherde im Kongo. Weil sie im Grenzgebiet zu Uganda, Ruanda und Burundi liegen, sind sie beliebtes Rückzugsgebiet für Rebellen aus diesen Ländern. Weil sie zu den rohstoffreichsten Regionen zählen, sind sie beliebtes Beutegebiet für alle möglichen bewaffneten Gruppen, inklusive Teile der kongolesischen Armee.

Eine gigantische Konferenz, abgehalten in Goma im Januar diesen Jahres, mitgetragen von UN, EU, den USA und der kongolesischen Regierung, versprach wieder einmal Aussicht auf Frieden. Seither lässt sich eine vorläufige Befriedung konstatieren. Doch es kommt es immer wieder zu Verletzungen des Waffenstillstandes, und das größte Problem in der Region ist noch nicht ansatzweise gelöst: die Auflösung und Entwaffnung der FDLR-Milizen. Hinter diesem Kürzel stecken die „Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas“, besser bekannt unter dem Namen „Interahamwe“. Jene Truppen also, die 1994 rund 800.000 Tutsi und moderate Hutu in Ruanda ermordeten, dann über die Grenze in den Ost-Kongo flohen und dort seither in wechselnden Allianzen die Bevölkerung terrorisieren. Zur FDLR gehören längst nicht mehr nur genocidaires aus Ruanda. Ihre Zahl wird heute auf 6000 Mann geschätzt, darunter zwangsrekrutierte kongolesische Jugendliche, aber auch Freiwillige, die den Lebensstil des plündernden Banditentums mit rassistischer Ausrottungsideologie („Tötet alle Tutsi“) dem des unbewaffneten, bedeutungslosen Dörflers vorziehen. Auch im Ost-Kongo gibt es lange und tief sitzende Ressentiments gegen die dortige Tutsi-Minderheit.
Der FDLR werden nach wie vor die Mehrzahl der Vergewaltigungen in den Kivu-Provinzen zugeschrieben. Ihre Milizionäre gelten als besonders brutal. Immer wieder entführen sie Frauen und Mädchen, weil sie in ihren Stützpunkten Haussklavinnen brauchen. Die Ärzte und Psychologinnen im Panzi-Hospital haben Fälle dokumentiert, bei denen FDLR-Mitglieder Frauen Holzscheite, heiß geschmolzenes Plastik oder Gewehrläufe in die Vagina gestoßen haben. Andere wurden zum Kannibalismus an Mitgefangenen gezwungen. Allein die Einzelheiten dieser Verbrechen aufzuschreiben, fällt schwer – vor allem, wenn man weiss, dass wahrscheinlich keiner dieser Männer für seine Taten je zur Verantwortung gezogen wird.

Zwanzig Minuten dauert das Gespräch mit Doktor Mukwege, dann muss er zurück in die Sprechstunde. Vor seinem Behandlungszimmer hat sich eine Warteschlange von zwanzig Frauen gebildet. Ihnen geht es schon wieder so gut, dass sie aus eigener Kraft laufen können.
Ich will dieses Mal keine Gespräche, keine Interviews. Die Patientinnen werden oft genug besucht und ausgefragt. Kaum eine Woche vergeht ohne die Visite einer ausländischen Delegation von Parlamentariern, UN-Funktionären oder Kirchenoberen. Einerseits zeugt das von einer zunehmend alarmierten internationalen Öffentlichkeit, was zu begrüßen ist. Andererseits stört es die Behandlung dieser schwer traumatisierten Frauen.

Und sonst? Hat sich sonst nichts verändert in den vergangenen anderthalb Jahren? Die Zahlen der Neuzugänge im Panzi-Hospital sind unverändert hoch, bis zu zehn pro Tag. Darunter befinden sich viele Frauen, deren Vergewaltigung schon länger zurück liegt, die erst jetzt vom Panzi-Hospital erfahren haben oder erst jetzt, in diesen etwas ruhigeren Zeiten, die Reise nach Bukavu wagen können. Dort erwartet sie ein für zentralafrikanische Verhältnisse gut ausgestattetes Krankenhaus. Gelder fließen – nicht nur in Form privater Spenden wie der des Abendgymnasiums Frankfurt, sondern auch in Form von Finanzhilfen europäischer Regierungen.

Die Erfolgsgeschichte des Panzi-Hospitals hat allerdings eine Schattenseite. Fast die gesamte medizinische Behandlung vergewaltigter Frauen konzentriert sich nun aus Bukavu. Viele der Patientinnen bleiben nach der Behandlung hier „hängen“. Nur wenige schaffen einen so unglaublichen Neuanfang wie Marie Louise Lunda, die nach einer Vergewaltigung vor über einem halben Jahr mit schweren Unterleibsverletzungen hier ankam und Monate lang behandelt werden musste. Nach ihrer Genesung eröffnete sie mit einem Kleinkredit einen Gebäckhandel auf dem Marktplatz gleich gegenüber dem Hospital. Inzwischen lernt sie andere Frauen an, hilft der einen mit einem kleinen Überbrückungskredit, der anderen mit einer Schnellausbildung. „Und demonstriert“ sagt sie, „habe ich auch schon.“ Im November vergangenen Jahres zogen 8000 Frauen und auch einige Männer durch die Straßen von Bukavu, forderten ein Ende der sexuellen Gewalt, mehr Hilfe für die Opfer und endlich Strafen für die Täter. Nicht mehr als ein symbolischer Akt, könnte man sagen. Aber für Bukavu war es eine Sensation.

(„Ein echter Kerl zwingt keine Frau zum Sex“ – Plakat gegen sexuelle Gewalt in Bukavu. Foto: Andrea Böhm)

Langsam, ganz langsam kommt Hilfe auch im Hinterland an, wo die Gewalt am schlimmsten ist. Oft sind es die lokalen Bäuerinnen, die sich zu einer kleinen Selbshilfegruppe zusammenschließen. Nur wenige internationale Organisationen, darunter medica mondiale, Médecins sans Frontières und Malteser International, dringen mit ihren mobilen Kliniken und Beratungsteams in die Dörfer vor. Krankenhäuser in größeren Städten wie Kamituga, die dem Panzi-Hospital einige Arbeit abnehmen könnten und für viele der betroffenen Frauen sehr viel leichter zu erreichen wären, liegen völlig danieder. Dezentralisierung der Hilfe – das ist die nächste große Aufgabe.

Zahlen – natürlich wollen die internationalen Geldgeber, die Journalisten immer wieder Zahlen. Wie viele Frauen und Männer sind Opfer sexueller Gewalt geworden? Wie viele kommen jeden Monat neu dazu?
Anderswo gibt die Polizei Statistiken über Gewaltverbrechen heraus. Im Kongo zählen Polizisten oft selbst zu den Tätern. Nur die wenigsten Frauen sind mutig oder waghalsig genug, ihre Vergewaltigung zur Anzeige zu bringen. Wer Zahlen will, bekommt sie im staubigen Büro der Organisation „Voix des sans voix ni liberté“, der „Stimme für die ohne Stimme und Freiheit“ – kurz VOVOLIB. Es liegt in einer Steinbaracke hinter einem Internet-Cafe in Bukavus Innenstadt. Hier arbeiten Catherine Masimika, Jean Paul Ngongo und ein halbes Dutzend weitere Anwälte, Ärzte und Studenten. Sie dokumentieren Polizeigewalt, willkürliche Verhaftungen, Morddrohungen gegen kritische Journalisten. Sie unterrichten das Einmaleins der Menschen-und Bürgerrechte in Schulen, an der Universität und in Kirchen, sie predigen, dass ein Bürger dieses Landes Rechte hat.
Und sie haben 32 Frauen und Männer in der ganzen Provinz darin geschult, Fälle von Vergewaltigung zu registrieren, die Opfer notfalls in Sicherheit zu bringen oder nach Bukavu ins Panzi-Hospital.

Jean-Paul Ngongo, ein kleiner dünner Jurist in viel zu großem Jackett, überschlägt die Zahlen für die vergangenen Jahre. 1999 wurde VOVOLIB gegründet, bis „2005 haben wir etwa 40.000 Fälle registriert. 2007 waren es 3216.“ Die Dunkelziffer liegt höher. Um wie viel? Ngongo zuckt die Schultern.
Sie könnten ihre Provinz-Teams verstärken, wenn sie ein wenig mehr Geld hätten. „Mit 60.000 Dollar müssen wir auskommen“, sagt Basimika, eine 25 jährige Betriebswirtin, die für VOVOLIB die Finanzen verwaltet. Das macht 5000 Dollar im Monat. Damit lassen sich gerade mal Büromiete, Benzin-und Telefonkosten abdecken.

Beide wirken, als hätten sie 48 Stunden nicht geschlafen, als halte sie ein Dauerschock im Zustand erschöpfter Wachsamkeit. Ngongo fingert die Statistiken über Gerichtsverfahren aus seinem Ordner. Vergewaltigung wird nach kongolesischem Strafrecht mit fünf bis 20 Jahren Haft bestraft. Das heißt nichts in einem Land mit einer notorisch korrupten Justiz. Für 2007 haben die Mitarbeiter von VOVOLIB 64 Vergewaltigungsprozesse gezählt – und der Klägerin mit Rat und Tat und auch Personenschutz zur Seite gestanden. In vierzehn Fällen, sagt Ngongo, seien Urteile ergangen. Neun Haftstrafen wurden verhängt. Vier Verurteilte seien im Gefängnis.
Und die anderen?
„Haben Richter, Polizisten oder Gefängniswärter bestochen.“ Er zieht sein Handy aus der Tasche, klickt Text-Nachrichten der vergangenen Wochen an. Es sind unverhohlene Morddrohungen von Männern, die wegen Vergewaltigung angezeigt worden sind. Die meisten auf Swahili, einige auf Französisch. „Klage? Das werdet Ihr mit Eurem Blut bezahlen.“ Oder: „Du kennst die Spielregeln. Jetzt gibt es keine Gnade mehr.“ Nach jeder Drohung gibt Ngongo die Nummer des Absenders an die Polizei weiter. Ein Ritual ohne Folgen. Dann sagt er so leise, dass ich ihn fast nicht verstehe: „Eine unserer Prozessbeobachterinnen ist letzte Woche ermordet worden. Sie müssen entschuldigen, wir sind etwas durcheinander.“ Wabiwa Kabisuba war 27 Jahre alt, Mutter von vier Kindern, seit Jahren bei VOVOLIB aktiv, wo sie vergewaltigte Frauen betreute und diejenigen, die ihre Täter anzeigen wollten, zu Polizei und Gericht begleitete. Am 18. Mai, so erzählt Ngongo, hätten acht Uniformierte Kabisuba gegen Mitternacht aus ihrem Haus gezerrt und erschossen.

Die anderen Mitarbeiter von VOVOLIB übernachten bis auf weiteres nicht mehr in ihren Häusern. Aber sie arbeiten weiter. Vor drei Tagen haben sie den Fall zweier Mädchen aufgenommen, die eine vier, die andere fünf Jahre alt, die von ihrem Nachbarn vergewaltigt worden seien. Auch hier, sagt Ngongo, verbreite sich wie in Südafrika der Wahn, wonach Männer meinen, sich durch Sex mit Jungfrauen von AIDS heilen zu können. Deswegen, glaubt Ngongo, steige die Anzahl kleiner Mädchen unter den Opfern.
Der Nachbar der beiden Mädchen wurde ausnahmsweise prompt verhaftet. Dann gab seine Familie offenbar einen Umschlag mit Geldscheinen bei der Polizei ab. Gestern hat Jean Paul Ngongo den Mann auf der Straße gesehen. Einen Prozess wird es vermutlich nie geben.