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Sudan: eine Korrektur und ein virtueller Ausflug in die Nuba-Berge

Kurzer Nachtrag zum vorangegangenen (und inzwischen korrigierten) Eintrag zum Einmarsch nordsudanesischer Truppen in der Grenzregion Abyei: Eine aufmerksame und versierte Leserin hat darauf hingewiesen, dass im Unterschied zu Abyei die beiden anderen potenziell abspenstigen Regionen – Gebiete in den nördlichen Bundesstaaten Süd-Kordofan und Blauer Nil – kein Referendum über eine mögliche Unabhängigkeit oder Zugehörigkeit zum neuen Südsudan abhalten durften. Stattdessen hat man ihnen popular consultations zugestanden, also Befragungen, um ihre Meinung zur Umsetzung des Friedensabkommens von 2005 kundzutun.

In beiden Regionen zieht sich der Graben des Bürgerkriegs durch die Bevölkerung. Der eine Teil ist loyal gegenüber Khartum, der andere gegenüber dem Süden. Bewaffnete Einheiten gibt es auf beiden Seiten. Die SPLA, die südsudanesische Armee unterstützt nach wie vor mehrere zehntausend Kämpfer, die ihre Uniformen tragen, und die laut Friedensabkommen eigentlich demobilisiert werden müssten. Aktuell droht vor allem die Lage in den Nuba-Bergen zu eskalieren.

Die liegen mitten im Bundesstaat Südkordofan. An dessen Südgrenze befindet sich der aktuelle Kriegsschauplatz Abyei (und damit auch die Grenze zur demnächst unabhängigen Republik Südsudan). Im Westen stößt Südkordofan an die Krisenregion Darfur. Dieser kleine geografische Exkurs mag verwirrend sein, aber er macht deutlich, dass man sich eine unruhigere Nachbarschaft derzeit kaum vorstellen kann.

Die Bevölkerung der Nuba hatte in den 70er Jahren die zweifelhafte Ehre, von Leni Riefenstahl, einst Hitlers liebster Künstlerin, in mehreren Fotobänden zum Volk der edlen, muskulösen Wilden auserkoren zu werden. Das entbehrt nicht einer verdammt bitteren Ironie, denn Anfang der 90er startete Khartum während des zweiten Bürgerkriegs eine Kampagne der Vernichtung gegen die Nuba. Die hatten sich damals auf die Seite der südsudanesischen Rebellen geschlagen, worauf das Regime in Khartum einen speziellen Dschihad gegen die Nuba ausrief und selbst  jene muslimischen Glaubens zum Abschuss frei gab. Alex de Waal, einer der besten Sudan-Experten, spricht in diesem Zusammenhang vom „Vorsatz des Völkermords“. Entsprechend gering ist die Bereitschaft der Nuba, weiterhin unter der Kuratel Khartums zu stehen – zumal Sudans Präsident Omar al Bashir im Mai 2009 einen gewissen Ahmed Harun zum Gouverneur des Bundesstaates ernannt hat.

Manchen Lesern dürfte der Name vertraut sein: Harun wird wie sein Präsident wegen des Verdachts der Kriegsverbrechen und des Völkermords in Darfur vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag mit Haftbefehl gesucht. Die jüngsten Gouverneurswahlen Anfang Mai hat er angeblich mit einem Vorsprung von 6.000 Stimmen gewonnen, was die Lage in Süd-Kordofan nicht eben entspannt hat.

Die Nuba sind übrigens kein „Volk“, sondern eine Ansammlung verschiedener ethnischer Gruppen mit verschiedenen Sprachen und verschiedenen Religionen. Was sie eint, ist eine traumatische Geschichte sowie die Opposition gegen Khartum und dessen Versuche, nun, nach der Abspaltung des Südens, den Rest des Landes umso massiver unter seine absolute Kontrolle zu zwingen. Dagegen werden sich die Nuba-Kämpfer in den Uniformen der SPLA mit aller Macht wehren. Denn sie befinden sich in einer ausweglosen Lage: sie haben keine Rückzugsoption. Die Nuba-Berge sind ihre Heimat, im Süden sind sie trotz der alten Kriegsallianz Fremde. Die Nuba sitzen buchstäblich zwischen allen Stühlen.

Und Abyei? Sudans Präsident Omar al-Bashir setzt offenbar auf Eskalation und hat angekündigt, dass seine Truppen sich nach dem Einmarsch am Samstag nicht zurück ziehen würden. Abyei gehöre dem Norden. Die internationale Staatengemeinschaft ist für’s erste ratlos und verdattert, was man niemandem zum Vorwurf machen kann. Die USA hatten al-Bashir für seine Kooperation (vulgo: Stillhalten) bei der Sezession des Südens angeboten, dem Sudan Schulden in Milliardenhöhe zu erlassen sowie das Land von der Liste der „staatlichen Unterstützer des Terrorismus“ zu streichen. Darauf pfeift al-Bashir offenbar.
Für’s erste jedenfalls.

 

Ein bißchen Krieg – zu den jüngsten Kämpfen im Sudan

Panzer rollen lassen, während eine Delegation des UN-Sicherheitsrats zu Besuch ist – so viel Dreistigkeit muss man erst einmal besitzen. Omar al Bashir hat sie offensichtlich. Für heute, Montag, hatte sich die UN-Delegation zu einem Besuch in der Grenzregion Abyei angesagt, dem brisantesten Streitpunkt zwischen Norden und Süden, deren endgültige Teilung in zwei Staaten ja unmittelbar bevorsteht. Seit Samstag aber stehen nach mehrtägigen Scharmützeln Khartums Panzer in Abyei, mehrere zehntausend Menschen sind auf der Flucht, die UN-Blauhelme vor Ort haben sich in ihrem Stützpunkt verschanzt, jüngsten Berichten zufolge haben Bewaffnete am Montag weiter Teile der Stadt Abyei ausgeplündert und in Brand gesteckt. Nach zwei Bürgerkriegen mit wahrscheinlich über zwei Millionen Toten, nach einem mühsam ausgehandelten Friedensabkommen 2005 und einer sich scheinbar friedlich anbahnenden Sezession ist das Gespenst des Krieges zwischen Norden und Süden wieder da.

Das „Jerusalem des Sudan“ – so nennt man Abyei. Der Landfleck hat zwar weder  imposante Tempel, Kirchen und sonstige Kulturschätze zu bieten, seine Sehenswürdigkeiten beschränken sich auf impsoante Rinderherden und Kalaschnikows. In Abyei verlaufen die Fronten zwischen den Bevölkerungsgruppen der Ngok Dinka und der Misseryia, und Verhandlungen über den Status der Region sind seit Jahren ähnlich vertrackt wie Verhandlungen über Jerusalem.

Was nun? In gut sechs Wochen will der Süden bekanntlich offiziell seine Unabhängigkeit und sich selbst als „Republik Südsudan“ ausrufen. Politische VIPs aus den USA, Europa und Afrika haben sich zu den Feierlichkeit angesagt. George Clooney, der den Kampf gegen (Nord)Sudans Präsidenten Omar al-Bashir und für den neuen Staat im Süden zur Chefsache Hollywoods gemacht hat, möchte vermutlich  ebenfalls mitfeiern. Stattdessen – so titeln die Medien – drohe nun ein „Krieg ums Öl in Abyei“.

„Krieg um Öl“ klingt immer gut, trifft in diesem Fall aber nicht zu. Abyei war einmal reich an Öl. 2004 –  während der Verhandlungen um  das Friedensabkommen, das dem Süden zwar noch keine Unabhängigkeit aber weit reichende Autonomie garantierte – wurde hier ein Viertel der  jährlichen Rohölproduktion des Sudans aus der Erde gepumpt. Kein Wunder also, dass sich Khartum und Juba nicht einigen wollten, zu wessen Gebiet Abyei in Zukunft gehören soll. Abyei bekam einen Sonderstatus. In einem eigenen Referendum sollten die Bewohner entscheiden, zu welcher Seite sie in Zukunft gehören wollten. Im Fall Abyei ist das bis heute nicht geschehen, weil sich Khartoum und Juba nicht darüber einigen können, ob außer den ansässigen (und Juba-loyalen) Dinka auch die Misseria mitabstimmen dürfen. Letztere sind Khartum-loyale nomadisierende Viehhirten, die in Abyei um ihre Weide-und Wasserrechte fürchten.

Abyeis Ölfluss ist jedoch nur noch ein Flüsschen. Erstens sind Sudans Quellen längst nicht so ergiebig wie saudische oder irakische. Zweitens wurde der Landteil, auf dem sich die zwei größten Ölfelder befinden, 2009 in einer Entscheidung des Ständigen Schiedshofs, einer internationalen Schlichtungsinstanz in Den Haag, dem Norden zugesprochen. Grundsätzlich sind Khartum und Juba also für Vermittlung offen. Bloß oftmals leider erst nach Blutvergießen. Bevor beide Seiten den Schiedshof anriefen, legten sie in tagelangen Kämpfen Abyei schon einmal in Schutt und Asche.

Die jüngste Eskalation allein al-Bashir in die Schuhe zu schieben, wäre zu einfach – auch wenn Khartums Besetzung Abyeis einen eklatanten Verstoß gegen bestehende Abkommen darstellt. Beide Seiten haben provoziert. In Khartum wie in Juba gibt es vernagelte Hardliner, denen die Pflege alter Feindbilder aus Bürgerkriegszeiten immer gelegen kommt und die mit einem kleinen Grenzkrieg gern eigene massive Probleme kaschieren wollen. In Bashirs regierender Nationaler Kongresspartei (NCP) geraten Moderate und Hardliner immer heftiger aneinander, wobei letztere ihr Heil in der harten Hand der Zentralisierung von Macht und Ressourcen suchen: keine Zugeständnisse an die Peripherie. Auch deshalb lässt Khartum Darfur derzeit wieder aus der Luft bombardieren, auch deshalb will es bei  Grenzfragen wie in Abyei kompromisslos erscheinen. Die Moderaten wiederum haben begriffen, dass diese Politik des Knüppels gegen die Peripherie dem Regime nicht mehr Macht, sondern mehr Zerfall bescheren wird.

Die Machthaber in der zukünftigen „Republik Südsudan“ haben ihrerseits seit dem Referendum für die Unabhängigkeit im Januar wenig Fortschritte in Sachen Staatwerdung zu vermelden. In den vergangenen Monaten ist der Süden von dem heim gesucht worden, was ich das „Kongo-Syndrom“ nenne. Ranghohe Offiziere, Kriegsherren und Regionalfürsten, die sich bei der Verteilung der Pfründe in Friedenszeiten nicht ausreichend berücksichtigt sehen, starten eine Meuterei, verüben ein Massaker, beschießen die südsudanesische Armee (SPLA) – und warten dann darauf, dass ihnen Juba ein Angebot macht. Die Zahl der Toten solcher Attacken geht seit Januar in die Hunderte. Die SPLA wiederum, dominiert von der mächtigsten Ethnie der Dinka, wird im Vielvölkerstaat Südsudan von den Bewohnern oft nicht als Schutzmacht, sondern als Bedrohung wahrgenommen.

Hinter den Rebellengruppen (derzeit sind es angeblich sieben) steckt allerdings nicht purer Eigennutz, sondern die berechtigte Angst, dass der neue Staat die Geißel des alten Sudans übernimmt: Alle Macht und Geld dem Zentrum, ein paar Krümmel für die Peripherie.

Dementsprechend wütend reagierte die Opposition im Südsudan auf den Entwurf einer nationalen Verfassung,  die unmittelbar nach der Ausrufung der Unabhängigkeit in Kraft treten soll. Sie bereitet mitnichten den Weg für baldige Neuwahlen, sondern zementiert zunächst einmal die Macht der dominierenden „Sudanesischen Volksbefreiungsbewegung“ (SPLM) und ihres Präsidenten Salva Kiir Mayardit.

Der muss, genau wie sein Counterpart Omar al Bashir, seine Position  auch durch das Verteilen von Posten und Geldern sichern. Und genau darin liegt, so paradox es klingt, die Wahrscheinlichkeit, dass der Konflikt in Abyei nicht weiter eskaliert. Beide Seiten können sich, schon um der eigenen Machtsicherung willen, eine dritte Kriegsrunde eigentlich nicht leisten. Denn in Abyei mag zwar nicht mehr viel Öl gefördert werden. Aber durch Abyei läuft die Pipeline, die das Rohöl aus südsudanesischen Quellen zu den Raffinerien im Norden transportiert – und dem Norden so einen Anteil am südsudanesischen Ölgeschäft sichert. Im Fall Abyei dürfte der Faktor Öl eher Konflikt mindernd als verschärfend wirken. Aber das ist eine Vermutung. Keine Vorhersage.

 

Kritik an Kongo-Studie

Ein interessanter Nachtrag zum vorletzten Blog-Eintrag „Die Männer sind zu Frauen geworden“. Darin geht es unter anderem um die Ergebnisse einer jüngst veröffentlichten Studie über sexuelle Gewalt im Kongo, in der, basierend auf einer auf einer landesweiten Umfrage, die Zahl der Vergewaltigungen für das Jahr 2006/2007 mit 400.000 angegeben wird. Entsprechend dramatisch fielen die Schlagzeilen in der aktuellen Berichterstattung aus: „Jede Stunde 48  Vergewaltigungen“ – und ähnliches.

Gegenüber der BBC hat nun die schwedische Konfliktforscherin Maria Eriksson Baaz die Seriösität der Studie angezweifelt. In einem Land wie dem Kongo mit einer dermaßen zerstörten Infrastruktur und einer hoch traumatisierten Bevölkerung sei es unmöglich, aus einer Umfrage solche Hochrechnungen abzuleiten. Man wisse zu wenig über die psychologischen Zwänge, unter denen Frauen Fragen nach sexueller Gewalt beantworteten. Viele würde erlittene Gewalt aus Angst vor Stigmatisierung leugnen, andere würden sie vortäuschen aus dem einfachen Grund, um medizinische Behandlung zu erhalten. Die wird im Kongo Vergewaltigungsopfern in der Regel umsonst gewährt. Frauen und Männer mit anderen Kriegsverletzungen oder Krankheiten müssen zahlen.

Eriksson Baaz, die selbst ausführlich zum Thema Kriegsgewalt im Kongo forscht (und im Gegensatz zu vielen anderen ausländischen Experten Lingala, einer der Hauptsprachen, beherrscht), hat wiederholt die „Obsession“ der internationalen Presse mit dem Thema „Vergewaltigungen“ kritisiert. Nicht, weil sie die Bedeutung des Problems geringer schätzt, sondern weil sie sie es für kontraproduktiv hält, die komplexe Geschichte der Gewalt im Kongo auf das Schema bewaffnete vergewaltigende Männer und unbewaffnete vergewaltigte Frauen zu reduzieren. Das habe auch zur Folge, dass Hilfsangebote für Opfer anderer schwerer Menschenrechtsverletzungen vernachlässigt würden.

P.S.: Zu weiteren Lektüre sei das Heft „Wie Frauen und Männer gemeinsam Frieden schaffen“ der Böll-Stiftung empfohlen. Klingt ein bisschen nach ‚Stricken gegen Gewalt‘, enthält aber Beiträge, die über die üblichen Täter-Opfer-Klischees hinausgehen. Darunter auch einer (schamlose Eigenwerbung) über die nicht immer produktiven Folgen von gut gemeinten Kampagnen für vergewaltigte Frauen im Kongo.

 

Gadhafi und der lange Weg nach Den Haag

Womöglich hatte er ja eine Vorahnung gehabt, damals im Frühjahr 2006. „Das ist ein ernster Präzedenzfall“, warnte Muammar al-Gadhafi. „Jeden afrikanischen Staatschef könnte ein ähnliches Schicksal ereilen.“ Im Fernsehen hatte Gadhafi gesehen, wie sein ehemaliger Amtskollege und Kriegspartner, Liberias Ex-Präsident Charles Taylor, in Handschellen einem internationalen Sondertribunal überstellt wurde.

Jetzt, fünf Jahre später, kreuzen sich die (Verfahrens-)Wege der beiden wieder, und zwar in Den Haag. Am Montag hat dort Luis Moreno-Ocampo, Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGh), Haftbefehle gegen Gadhafi, seinen Sohn Saif al-Islam und seinen Geheimdienstchef Abdullah al-Sanousi beantragt. Wegen Verdachts auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen durch libysche Sicherheitskräfte, die Proteste gegen das Regime niederschlagen sollten.

Charles Taylor dürfte dieses Ereignis wenige Kilometer entfernt in seiner Zelle in Den Haag verfolgt haben, wo der Liberianer auf das Urteil in seinem Prozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen wartet, begangen durch Rebellen, die er während des Bürgerkriegs im Nachbarland Sierra Leone unterstützt haben soll.
Mit Gadhafis tatkräftiger Hilfe.

Zusammen hatten die beiden die „Revolutionary United Front“ (RUF) mit Waffen, Geld und Munition versorgt, jene Rebellen, die in Sierra Leone als Terrortruppe gegen die eigene Bevölkerung Furore machten – spezialisiert auf die Ausbeutung der Diamantenfelder und das Abhacken von Händen bei „Strafaktionen“. Anführer der RUF hatten seinerzeit Gadhafis internationales Ausbildungslager für Befreiungskämpfer und Terroristen (die Trennlinie ist bekanntlich schwammig) in der libyschen Wüste durchlaufen.

Und nun? Endet der Libyer jetzt doch noch neben Taylor im Haager Untersuchungsgefängnis, wo die Häftlinge mehrerer internationaler Gerichte untergebracht sind?
Die Vorstellung ist verlockend, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich.

Ein paar prozedurale Formalitäten vorweg: Ob der IStGh tatsächlich Haftbefehle gegen Gadhafi und Co. erlässt, entscheidet nicht der Ankläger, sondern ein Richtergremium. Dieses wird in einigen Monaten vermutlich Ocampos Antrag stattgeben. Beweismaterial für Gräueltaten von Gadhafis Kämpfern gibt es reichlich, unter anderem Handyvideos, die unverhohlenen Drohungen des Diktators gegen Regimegegner im Staatsfernsehen.

Ob und wie schnell „Bruder Führer“ festgenommen und dem IStGh überstellt wird, ist eine andere Frage. Der Gerichtshof hat bekanntlich keine Polizei. Der andere amtierende Staatschef auf der Liste der Gesuchten, Sudans Omal al-Baschir, ist immer noch auf freiem Fuß und im Amt und erfreut sich darüber hinaus des mehr oder weniger verhohlenen Zuspruchs anderer afrikanischer Staatsoberhäupter.

Das lädt natürlich ein, wieder einmal an der Sinnhaftigkeit des Strafgerichtshofs zu zweifeln. Schließlich, so die Kritiker, habe die Ankündigungen von Ermittlungen Gadhafi keineswegs von weiteren Gräueltaten abgeschreckt. Und womöglich verbaue ein Haftbefehl dem Diktator den Weg ins Exil und ziehe damit den Krieg in die Länge.
Alles richtig und möglich. Bloß: Käme irgendjemand auf die Idee, die Strafverfolgung von Mafiabossen einzustellen, weil deren Organisation weiter mordet, raubt und erpresst? Und was die Frage des Exils betrifft: Natürlich kann ein Haftbefehl die Betroffenen veranlassen, sich erst recht im Krieg einzubunkern. Er kann aber auch den Machtzirkel um einen Diktator veranlassen, diesen zu verraten und „abzustoßen“. Völlig ausgeschlossen ist es also nicht, dass sich Charles Taylor und Muammar al-Gadhafi doch noch im Haager Untersuchungsgefängnis begegnen.

Nach Ansicht mehrerer Juristen gehört Gadhafi dort längst hin  – und zwar zusammen mit Taylor als Angeklagter im selben Verfahren. In der Anklageschrift des Sondergerichts zu Sierra Leone (SCSL) wird der Libyer ausdrücklich als Strippenzieher der westafrikanischen Bürgerkriege mit ihren Abertausenden von Toten aufgeführt. Haftbefehl wurde nie erlassen. Es habe mehrere Hindernisse gegeben, erklärte unlängst in einem Interview der amerikanischer Völkerstrafrechtler David Crane, von 2002 bis 2005 Chefankläger des Tribunals. „Eines davon war politisch.“ Auf Nachfrage bestritt Crane allerdings, dass westliche Länder Druck auf ihn ausgeübt hätten, Gadhafi zu schonen. Der hatte 2003 mit dem Verzicht auf den Bau von Massenvernichtungswaffen seinen Pariah-Staat weitgehend von Sanktionen befreit. Europäische Regierungschefs gaben Gadhafi wieder die Hand, libysches Erdöl floss wieder nach Europa, die EU hofierte den Diktator als Türsteher gegen afrikanische Migranten, bis Gadhafi im Februar 2011 friedliche Demonstranten in Bengasi niederschießen ließ und dem arabischen Frühling eine blutiges Ende zu machen drohte. Daraufhin fiel der internationalen Staatengemeinschaft, allen voran Frankreich und Großbritannien, auf, dass Gadhafi mitsamt seiner bizarren Skrupellosigkeit verzichtbarer ist, als er selbst meinte. Im Februar verhängte der UN-Sicherheitsrat Sanktionen und verwies den Fall Libyen an den IStGh. Wenige Wochen später folgte Resolution 1973 – und damit die internationalen Bombenangriffe auf Gadhafis Panzer.

Für den Haager Gerichtshof kann die vermeintliche Aufwertung durch den Sicherheitsrat durchaus zum Bumerang werden. Erstens ist die Anklagebehörde, die in der Vergangenheit häufig eine unglückliche Figur abgegeben hat, überlastet. Zweitens gerät der Gerichtshof im Fall Libyen massiv unter Druck, mit den politischen Ereignissen Schritt halten zu müssen. Das hat noch keinem Verfahren gut getan hat. Justiz ist nun mal langsamer als Politik und Krieg.

Womöglich wird also ein Prozess gegen Muammar al-Gadhafi, so er denn nach Den Haag ausgeliefert wird, erst in zwei oder drei Jahren beginnen, wenn sich kaum ein Fernsehsender oder Krisenstab mehr für Libyen interessiert. Was nichts daran ändert, dass Gadhafi au die Anklagebank gehört. Seit Jahren schon.

 

„Die Männer sind zu Frauen geworden“ – oder: warum so viele Kampagnen gegen sexuelle Kriegsgewalt zu kurz greifen

„Vergewaltigungen im Minutentakt“ titelte am Freitag die Süddeutsche Zeitung. „Kongo: jede Stunde 48 Vergewaltigungen“ meldete die BBC. Die dritte Rechnung machte der Onlinedienst mediacongo.net auf: „Täglich über 1.100 Frauen im Kongo vergewaltigt“.

„Kongo“ und „Vergewaltigung“ sind inzwischen fast zu einem Synonym geworden, und es müssen schon horrende Schlagzeilen her, um dem Thema neue Aufmerksamkeit zu verschaffen. „Jede Stunde 48 Vergewaltigungen“. Die Überschrift hat noch keiner geliefert. Sie ist dramatisch, sie stimmt – und ist in dieser Verkürzung gleichzeitig falsch.

Was ist die Grundlage der Berichte? Eine Studie von amerikanischen Wissenschaftlern, so eben veröffentlicht im „American Journal of Public Health“. Demnach sind im Kongo allein in einem Jahr über 400.000 Frauen vergewaltigt worden. Bisherige Zahlen – meist basierend auf den Angaben betroffener Frauen aus den vom Krieg zerrütteten Kivu-Provinzen– schwankten bislang von 15.000 bis 17.ooo Vergewaltigungsopfer pro Jahr. Dabei war allerdings immer klar, dass die Dunkelziffer weitaus höher liegt. Ist Vergewaltigung also die ultimative,  tagtägliche Waffe von Soldaten und Rebellen, viel schlimmer als man je anzunehmen wagte?

Nein. Erstens geht es in der Studie nicht um aktuelle Zahlen. Die amerikanischen Wissenschaftler haben eine repräsentative Erhebung (unter anderem finanziert von der Weltbank) zu Demografie und Gesundheit im Kongo im Zeitraum 2006/2007 ausgewertet. Rund 3500 Haushalte (nicht nur im Osten, sondern im ganzen Land) wurden zu mehreren Themen, darunter auch sexueller Gewalt befragt. Auf dieser Basis kamen Ergebnisse zustande, die ebenso schockierend wie lehrreich sind. Denn sie stellen viele der gängigen Wahrheiten über sexuelle Gewalt in Frage.

Fast fünf Millionen Kongolesinnen sind demnach im Lauf ihres Lebens mindestens einmal vergewaltigt worden. Soldaten und Rebellen bilden die brutalste Gruppe der Täter. Die zahlenmäßig größte Gruppe aber sind Zivilisten. Über drei Millionen Frauen, so die Studie, sind Opfer einer Vergewaltigung durch ihre Ehemänner geworden. Das zeigt einerseits eine horrende Alltagsgewalt, die in anderen (Nach)Kriegsländern mit einer sehr frauenfeindlichen Vorkriegskultur wie Afghanistan ähnlich horrend sein dürfte. Andererseits zeigt es eine wachsende Bereitschaft, diese Verletzugn von Körper und Würde nicht länger hinzunehmen. Vor nicht allzu langer Zeit hätten die wenigsten Kongolesinnen sexuelle Gewalt in der Ehe als solche bezeichnet.

Vergewaltigung ist im Kongo immer noch Bestandteil des Krieges und des Terrors gegen die Zivilbevölkerung. Zum Beispiel dann, wenn bewaffnete Gruppen – allen voran die Hutu-Milizen der FDLR oder Einheiten der kongolesischen Armee – Massenvergewaltigungen als „Bestrafung“ gegen „illoyale“ Dörfer einsetzen.

Aber man unterschätzt die Dimension des Problems, wenn man es auf das Schlagwort „Kriegswaffe“ reduziert und entsprechende Gegenmaßnahmen auf der Annahme aufbaut, wonach Opfer ausschließlich Frauen und Täter ausschließlich bewaffnete Männer sind. Genau das ist bis heute bei den meisten internationalen Hilfsprogrammen der Fall. Sie konzentrieren sich fast ausschließlich auf die medizinische Hilfe für weibliche Opfer und auf rituelle Kritik an den UN-Blauhelmen, weil sie die Frauen nicht besser schützen. Natürlich ist Hilfe für die Opfer lebenswichtig. Und sie ist internationalen Spendern am leichtesten zu vermitteln. Aber sie ist rein reaktiv und berührt nicht die Ursachen des Problems.

Was also tun außer schockiert und ratlos zu sein? Zunächst zuhören und Stimmen sammeln, so schwer es bei diesem Thema auch sein mag. In den Kivu-Provinzen beschreiben die Leute die Täter mit einer Redewendung: „Männer, die sich nicht mehr um die Gemeinschaft scheren.“ Was Mitleid heischend klingt, beschreibt ein typisches Kriegs– und Nachkriegsphänomen: Die, die zerstören, sind meist selbst zerstört. Viele Vergewaltiger (unter den Tätern gibt es übrigens auch Frauen) haben  (sexuelle) Gewalt am eigenen Leib erfahren. Und sie agieren in einer Gesellschaft, die keineswegs Frieden gefunden hat.

In ihrem lesenwerten Report  „War Is Not Yet Over“ hat die britische NGO „International Alert“ BewohnerInnen von vier Gemeinden in Nord-und Südkivu ausführlich zum Problem sexueller Gewalt befragt. Fazit: Die meisten sehen Vergewaltigung nicht als Kriegsstrategie, sondern als Gradmesser dafür, wie weit ihre Gesellschaft noch von Frieden entfernt ist. Dass der Krieg nunmehr ein „low intensity conflict“ geworden ist, nehmen die Menschen natürlich wahr. Aber sehr viel schärfer als ausländische Helfer und Journalisten erfahren sie, dass  Konfliktursachen wie Landknappheit, das Verdrängen vergangener Gräueltaten, die Mafiotisierung von politischer Macht und ökonomischem Reichtum weiter existieren oder gar schlimmer werden. Dazu zählt auch die Zerstörung maskuliner Identitäten: „Die Männer sind zu Frauen geworden“, sagt einer der Befragten, und meint die Machtlosigkeit der Männer, in einer solchen Gesellschaft soziale oder wirtschaftliche Bedeutung zu finden. Vergewaltigung aber ermöglicht den Anschein von Macht und sozialer Kontrolle.

Die Schlussfolgerung?

Erstens: Ohne Männer geht gar nichts. Jedes Hilfsprojekt, das Frauen zu den ausschließlichen Opfern und damit Hilfsberechtigten erklärt, verringert seinen eigenen Spielraum und schafft im Zweifelsfall Ressentiments.

Zweitens: Je lauter sich internationale Hilfsorganisationen als Avantgarde im Kampf gegen sexuelle Gewalt präsentieren, desto größer die Gefahr, dass dieser Kampf als „ausländische Einmischung “ denunziert wird. Soll heißen: kongolesische Akteure fördern, wo es nur geht – und sich im Hintergrund halten.

Drittens: All das ist leichter gesagt und geschrieben als getan.

 

Der Grenzverletzer – zum Mord an Juliano Mer Khamis

In diesem arabischen Aufbruch, der ja schon seit Jahren gärt, werden Dogmen zerstört, Ketten gesprengt, Grenzen übertreten. Auf die Kunst, Unvorstellbares und Unerhörtes möglich zu machen, hat sich kaum einer so gut verstanden wie Juliano Mer Khamis, israelischer Schauspieler, Regisseur, Leiter des „Freedom Theatre“ in Jenin in der Westbank. Wenn Theater in diesen Zeiten eine subversive Sprengkraft besitzt, dann in diesem palästinensischen Flüchtlingslager, wo schon allein der Umstand Grenzen verletzte, dass  Mädchen und Jungen, Frauen und Männer, ein israelischer Regisseur mit palästinensischen Schauspielschülern gemeinsam probten. Wo jede Aufführung, egal ob Orwells „Farm der Tiere“ oder „Fragments of Palestine“ eine Kampfansage an ideologische Hardliner ist – egal ob auf israelischer oder palästinensischer Seite.  Juliano Mer Khamis wurde am Montag vor seinem Theater von Attentätern erschossen. Bedroht hatte man ihn, den Sohn einer jüdischen Mutter und eines palästinensischen Vaters, schon lange. Doch die Täter werden wohl gewusst haben, warum sie jetzt zuschlugen: In diesen Zeiten, da in den arabischen Ländern die Generation der Jungen ihre  Angst verliert, hätte die Stimme von Mer Khamis in der Westbank noch mehr bewirken können als sie ohnehin schon bewirkt hat. Er wurde 53 Jahre alt.

Es war seine Mutter Arna, die in den 80er Jahren ein Theaterprojekt mit Flüchtlingskindern in Jenin auf die Beine stellte. Jahre später sprengten sich einige von ihnen als Selbstmordattentäter in die Luft und rissen andere mit in den Tod. Einige wurden während der zweiten Intifada von der israelischen Armee erschossen. Solche Lebensläufe porträtierte Mer Khamis 2004 in seinem Dokumentarfilm „Arnas Kinder“. Da hatte er bereits ein Leben radikaler Identitätsbrüche hinter sich: als Elitesoldat der israelischen Armee; als Gefängnisinsasse, zu anderthalb Jahren verurteilt, weil er einen Offizier niedergeschlagen hatte; als gefeierter Schauspieler in Israel, der sich eines Abends weigert, vor einem Publikum voller Soldaten aufzutreten. 2006 geht er nach Jenin und baut das „Freedom Theatre“ auf. Zu seinen Mitstreitern gehört schließlich sogar der ehemaliger Führer der Al-Aksa-Brigaden im Flüchtlingslager. Für die Hüter des palästinensischen Märtyrerkults konnte es kaum einen gefährlicheren Mann geben als diesen Theaterregisseur.

Das „Freedom Theatre“ hat langjährige Partner in Deutschland – unter anderem medico international und die Berliner Schaubühne. In Gedenken an Juliano Mer Khamis wird die Schaubühne am 8. und 10. April in Berlin unter anderem seinen Dokumentarfilm „Arnas Kinder“ zeigen.

 

Kairo in Kinshasa – Gespräche mit Alphonse (II)

Mein Freund Alphonse aus Kinshasa hat wieder angerufen. Seine Stimme klang aufgeregt.

„Glaubst Du, dass es auch bei uns klappen könnte?“

„Was?“ fragte ich.

„Na, ein Volksaufstand! Die Revolution! Der Sturz der Regierung!“

„Eher nicht“, sagte ich.

Journalisten sind notorische Skeptiker. Das ist eine Berufskrankheit. In diesem Moment hasste ich sie mehr als sonst, weil ich mir vor kam wie eine Spielverderberin. Pessimistische Ansichten kann Alphonse jeden Tag in Kinshasa selbst einsammeln. Dazu braucht er mich nicht.

„Ich glaub’s auch nicht wirklich“, sagte Alphonse. „Aber lass uns durchgehen, was dafür und was dagegen spricht. Was hat die Revolutionen in den arabischen Ländern ausgelöst?“

„Jahrzehntelange Korruption und schamlose Selbstbereicherung der Mächtigen“, sagte ich, „außerdem Armut, hohe Arbeitslosigkeit, staatliche Repression…“

„Haben wir im Kongo alles im Überfluss“, unterbrach Alphonse.

„Stimmt. Aber die Armut ist so groß, dass die Leute mehr mit dem täglichen Überleben beschäftigt sind als mit der Organisation von Revolutionen.“

„Falsch. 1992 sind in Kinshasa Hunderttausende gegen Mobutu auf die Straßen gegangen. Und damals gab’s noch kein Facebook. Nützt ja eh nichts, wenn’s keinen Strom gibt.“

„Aber Mobutu blieb an der Macht“, wandte ich ein.

„Weil der Westen ihn noch nicht ganz fallen lassen wollte“, schoss Alphonse zurück. „So wie anfangs bei Ben Ali, Mubarak und Gaddafi!“

Mobutus Langlebigkeit hatte auch inner-kongolesische Gründe, aber dem zweiten Teil von Alphonses Argument ließ sich schlecht widersprechen.  Wer denn bei uns in Europa gerade am Stürzen sei, fragte Alphonse. Ich konnte ihm immerhin den Rücktritt der französischen Außenministerin und Tunesien-Expertin, Michèle Alliot-Marie, melden.

„Außerdem“, sagte ich, „wackelt der deutsche Verteidigungsminister.“

„Hat er geputscht?“ fragte Alphonse (Aus kongolesischer Sicht liegt die Frage nahe: In Kinshasa sind am Wochenende sechs angebliche Putschisten nahe der Residenz des Präsidenten Joseph Kabila erschossen worden)

„Nein. Er hat bei seiner Doktorarbeit von anderen abgeschrieben.“

Alphonse schwieg. Seine Bereitschaft, sich in die Probleme der deutschen Innenpolitik hinein zu denken, kennt ebenso Grenzen wie meine Fähigkeit, den politischen Intrigen in Kinshasa zu folgen.

„Bei uns nennt man so etwas Diebstahl geistigen Eigentums. Oder: Betrug“, fügte ich hinzu.

„Bei uns auch“, sagt Alphonse hörbar beleidigt, weil ich mangelndes Unrechtsbewusstsein unterstellt hatte. „Aber bei uns würde sich ein Minister gar nicht erst die Mühe machen, selbst abzuschreiben. Er würde jemanden anders dafür bezahlen.“

„Bei uns nennt man so jemanden ghost writer„, erklärte ich.

„Bei uns auch“, sagte Alphonse. „Auf französisch heißt ghost writer nämlich nègre. Und wer will schon der nègre eines Ministers sein.“ Er gluckste vor Lachen. „Na, was sagst Du jetzt?“

Gar nichts. Ich hielt endlich mal die Klappe.

„Euer Minister“, sagte Alphonse, „sollte irgendetwas tun, um seine Ehre wieder herzustellen.“

„Zum Beispiel?“

„In Libyen eingreifen und die Menschen vor Gaddafi schützen.“

Ich stellte mir unseren Karl-Theodor auf der Titelseite der BILD-Zeitung vor, wie er in schneidigen Cargo-Hosen im Kampfhubschrauber sitzend die deutsche Bevölkerung auf den Einsatz in Libyen einstimmt. Es reicht! Unser Gutti jagt irren Diktator!

„Alphonse, sagte ich, „das wird nicht passieren. Die Revolution werden die Libyer allein erledigen müssen.“

„Und wir im Kongo auch…“ hörte ich ihn noch sagen, aber dann war die Leitung wieder mal unterbrochen.

Hinweis zur Lektüre der Reihe „Gespräche mit Alphonse“: Im Gegensatz zu allen anderen Personen, die in diesem Blog zu Wort kommen, handelt es sich bei Alphonse um eine fiktive Person. Die Dialoge basieren auf Gesprächen mit Kongolesen und Kongolesinnen, die aus guten Gründen nicht zitiert werden wollen – und auf meiner freien Bearbeitung, Verfremdung und Zuspitzung.Hey, it’s my blog!

 

Die arabische Revolution: next stop Khartum?

Die Angst vor der Allmacht des Staates – sie ist verschwunden in Tunesien, sie verschwindet in Ägypten, in Jordanien, im Jemen. Und offensichtlich auch im Sudan. Wie wackelig ist das Regime von Omar al-Baschir in Khartum? Ist auch im Norden des Sudan eine „Jasmin-Revolution“ möglich? Wie werden Polizei und Militär reagieren? Was würde das für den Südsudan bedeuten?

Seit Montag weiß man immerhin so viel: Al-Baschir ist angreifbar – vielleicht so angreifbar wie noch nie in seiner Amtszeit. Und: die Sicherheitskräfte versuchen, jeden Aufruhr im Keim zu ersticken. Ihr erstes Todesopfer ist ein Student namens Mohammed Abdurrahman.

Am Sonntag hatten Oppositionsgruppen im Sudan, inspiriert von den Ereignissen im benachbarten Ägypten, über Facebook und Twitter landesweit zu Protesten gegen Omar al-Baschir aufgerufen – also just zu dem Zeitpunkt, da aus Juba, der Hauptstadt des Südsudan, ein vorläufiges Ergebnis des Referendums gemeldet wurde. 99 Prozent haben für die  Unabhängigkeit gestimmt. Dieses sozialistisch anmutende Votum ist zweifellos garniert mit kleinen Manipulationen, derer es aber gar nicht bedurft hätte. Die große Mehrheit im Süden will einen eigenen Staat. Der Süden braucht aber auch – so paradox es klingt – das Regime im Norden, um die zahlreichen Konfliktpunkte im Rahmen der Sezession zu regeln. Das letzte, was die Machthaber in Juba jetzt sehen wollen, sind tunesische Verhältnisse in Khartum.

Bloß trägt al-Bashir selbst dazu bei, solche Verhältnisse zu schaffen. Schon vor einigen Wochen hatte sein Regime drastische Preiserhöhungen mit der bevorstehenden Abspaltung des Südens begründet. Dass Bashir außerdem eine neue Welle der Islamisierung und damit einer Verschärfung der Scharia ankündigte, dürfte gerade unter jungen Städtern den Unmut zusätzlich gesteigert haben. Der wiederum wurzelt, so schreibt der sudanesische Blogger Magdi El Gizouli, in einer tiefen Unzufriedenheit über ein korruptes parteipolitisches Klientelsystem und eine erbärmliche parteipolitische Opposition.
„So wütend alle Demonstranten über die NCP sind, so frustriert sind sie auch von den Unzulänglichkeiten der Oppositionsparteien. Genau das drückt ihr Slogan shabab la ahzab aus. Jugend statt (politische) Parteien.“

Nicht, dass es am Sonntag in sudanesischen Städten Szenen wie in Kairo oder Tunis gegeben hätte. Aber in Khartum, im benachbarten Omdurman sowie in El Obeid und Kassala versammelten sich immer wieder Gruppen von mehreren Hundert junger Demonstranten. In Khartum setzte die Polizei Schlagstöcke ein, in Omdurman wurde offenbar geschossen.

Anders als die Ägypter oder die Tunesier haben die Sudanesen historische Erfahrung mit Volksaufständen: 1964 stürzten sie das Militärregime des damaligen Machthaber General Abboud, 1985 jagten sie, dieses Mal mit Unterstützung der Armee, den Diktator Jaafar Numeiri aus dem Amt. Keine schlechte Bilanz, nur führte leider keiner dieser Aufstände das Land dauerhaft in Richtung Frieden und Demokratie.

Und nun? Manches spricht dafür, dass al-Bashir auch diese Krise politisch überlebt. Seine „Nationale Kongresspartei“ (NCP) kontrolliert vom Wohnblockkomitee bis zur Armeeführung so ziemlich alle Machtstrukturen. Die oppositionellen Parteien sind sklerotisch und lassen sich nach Belieben gegeneinander ausspielen. Al-Bashir selbst genießt durchaus Rückhalt in einem großen Teil der Bevölkerung. Die internationale Gemeinschaft, derzeit vollauf mit dem fraglien Süden beschäftigt, hat derzeit kein Interesse an einem Machtwechsel oder einer größeren politischen Erschütterung in Khartum.

Bloß: All das hat man bis vor ein paar Tagen auch über Ägypten gesagt.

 

Nachruf auf einen Furchtlosen: zum Mord an David Kato

Wahrscheinlich ist es vermessen, zu sagen, David Kato habe keine Angst gehabt. In den vergangenen Monaten fühlte er sich nicht mehr sicher, das hat er Freunden gesagt. Vielleicht fühlte er sich Zeit seines Lebens nicht sicher als schwuler Mann in Uganda.

Kato, einer der prominentesten Bürgerrechtler Ugandas, wurde in den frühen Morgenstunden des 26. Januar von einem Eindringling durch Hammerschläge auf den Kopf so schwer verletzt, dass er auf dem Weg ins Krankenhaus starb. Ein Tatverdächtiger soll inzwischen verhaftet worden sein. Das klingt nach einem Einbruch, doch Katos Lebensgeschichte legt den Verdacht nahe, dass dies ein hate crime war. Ein Mord aus Hass gegen Homosexuelle.

„Hängt sie auf!“ Mit dieser Schlagzeile überschrieb die ugandische Boulevardzeitung „Rolling Stone“ (die nichts, aber auch gar nichts mit dem gleichnamigen Magazin in den USA zu tun hat) vor wenigen Monaten die Fotos mehrerer Männer und Frauen aus der lesbisch-schwulen Community, die mit ihren Namen und Wohnadressen abgedruckt wurden. Es war der vorläufige Höhepunkt einer  Hetzjagd gegen Homosexuelle, die von Kirchen, Politikern und Medien angetrieben wird. Homosexualität ist in Uganda wie in vielen anderen afrikanischen Ländern mit drakonischen Haftstrafen belegt. Im Oktober 2009 löste eine Gesetzesvorlage, welche die Todesstrafe für homosexuelle „Wiederholungstäter“ vorsieht, einen internationalen Sturm der Empörung aus. Prominenteste Stimme des Protests in Uganda war David Kato.

Der ehemalige Grundschullehrer hatte sein politisches Coming-Out Ende der 90er, nachdem er sich während eines Aufenthalts in Südafrika dort in der lesbisch-schwulen Community engagiert hatte. Südafrika weist, was den Kampf gegen Diskriminierung von Homosexuellen betrifft, eine sehr fortschrittliche Gesetzgebung vor. Gleichzeitig ist gewalttätige Homophobie weit verbreitet. Von der Courage und dem Organisationsgrad der Lesben und Schwulen in Südafrika war Kato so beeindruckt, dass er in Uganda zu einem Vorkämpfer der Homosexuellen – und damit zur Zielscheibe der Schwulenhasser. Wobei in Uganda die evangelikalen Kirchen (mit tatkräftiger Unterstützung ihrer amerikanischen Glaubensgenossen) zu den schlimmsten Antreibern gehören.

Kato musste aufgrund von Drohungen seinen Job als Lehrer aufgeben und widmete sich von da an ganz seiner Arbeit bei der Organisation „Sexual Minorities Uganda“ (SMUG). Nachdem Rolling Stone Ende vergangenen Jahres die infame Foto-Kampagne gestartet hatte, wurden mehrere AktivistInnen auf offener Straße angegriffen, eine lesbische Bürgerrechtlerin fast gesteinigt. Kato, dessen Bild auf Titelseite abgedruckt worden war, erhielt Todesdrohungen.

Er tauchte nicht etwa ab, sondern zog vor Gericht, ein scheinbar aussichtsloses Unterfangen. Doch am 3. Januar entschied der zuständige Richter, dass Rolling Stone die Grundrechte Katos und der anderen Betroffenen verletzt habe und ordnete Schadensersatz an.  Vor dem Gericht warteten wie an fast allen Verhandlungstagen Demonstranten, die Kato verhöhnten und beleidigten. Es war ein bitter erkämpfter Sieg. David Kato hatte kaum mehr Zeit, ihn zu feiern.

 

Europas Werte – oder: was so alles passieren kann, wenn arabische Massen auf die Barrikaden gehen

Massen junger Araber (und Araberinnen) in Aufruhr. Wie oft diente uns dieses Bild als  Schreckensszenario: „Vorsicht! Demografische Zeitbombe“. Oder: „Hilfe! Die nächste Flüchtlingsflut“. Oder: „Achtung! Allahs Mob auf der Straße!“

Seit Wochen marschieren und rebellieren Tausende von TunesierInnen, bauen Barrikaden, stürzen ihren Diktator – und halten jene Werte hoch, die Europa als Fundament seiner politisch-kulturellen Identität reklamiert.

Egal, welchen Ausgang die Jasminrevolution nehmen wird: Zu den Momentaufnahmen dieser Januartage zählt nicht nur die Euphorie über den Sturz eines Autokraten, sondern auch die Beschämung Europas. Der Westen – vulgo: wir – hat beredt geschwiegen, wenn es um den Polizei- und Spitzelterror des Autokraten Ben Ali ging. Lieber autoritäre Stabilität mit vollen Gefängnissen und vollen Touristenstränden als politische Liberalisierung, die sich womöglich „destabilisierend“ auswirkt. So lautet das amerikanische Kalkül (nur kurz unterbrochen durch das Desaster namens „Operation Iraqi Freedom“). So lautet das europäische Kalkül. Und es ist wieder einmal nicht aufgegangen.

Europa hat es nicht nur unterlassen, vom alten Regime in Tunis Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten einzufordern. Es hat einem diktatorischen Regime bei der Niederschlagung von Demonstrationen auch noch Hilfe angeboten. „Das in aller Welt geschätzte Können unserer Sicherheitskräfte erlaubt es, Situationen dieser Art zu regeln“, erklärte  die französische Außenministerin Michèle Alliot-Marie, als die tunesische Polizei Demonstranten zusammenschoss. Hätte Hillary Clinton einen solchen Satz von sich gegeben, wären Europas Politiker und Kommentatoren wochenlang im Gestus der moralischen Empörung verharrt. Im Fall Alliot-Marie lag der Protestpegel der europäischen Amtskollegen bei Null. Denn Frankreichs Maghreb-Politik wurde bislang von der gesamten EU mitgetragen. Auch von Deutschland.

Es regte sich auch kein Unmut dagegen, dass Europa zum x-ten Mal seine Türen und Banken für einen Klan von Kleptokraten geöffnet hat. Konten in der Schweiz und Frankreich zwecks sicherer Anlage veruntreuter Gelder, ein Chalet in Courchevel, Appartements in Paris, Immobilien an der Côte d’Azur. Dies ist eine vorläufige und wohl unvollständige Liste der schmutzigen Geldanlagen der Familie Ben Ali.

Mag ja sein, dass Finanzströme und Immobilienkäufe nicht einfach zu durchleuchten sind. Aber wir leben in einem Zeitalter, da jede mickrige Geldüberweisung auf Terrorismusverdacht geprüft werden kann und selbst das Schweizer Bankengeheimnis nicht mehr heilig zeigt. Warum also fällt den Schweizer Behörden erst jetzt ein, Ben Alis gut gefüllte Konten einzufrieren? Und welche Art von Glaubwürdigkeit meinen EU-Regierungen (allen voran Frankreich) zu demonstrieren, wenn sie Millionen Euro zur Abschottung gegen illegale Einwanderer ausgeben, während deren Herrscher die Beute aus der heimischen Staatskasse ungestört in den Pariser Luxusvierteln investieren?

„Pain, liberté, dignité! Brot, Freiheit und Würde!“ So lautet eine der Parolen des tunesischen Volksaufstandes. Das ist eine interessante Variation von liberté, égalité, fraternité (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), der Parole der französischen Revolution. In den tunesischen Alltag übersetzt, heißt das: erschwingliche Nahrungsmittelpreise, Ende der Repression und politische und soziale Rechte für alle. Denn zu einem Leben in Würde gehört nicht nur der Schutz vor Verfolgung. Dazu gehört auch, sich nicht entwürdigen zu müssen, um Nahrung, Wohnraum, Gesundheit und Bildung für sich und die eigene Familie zu gewährleisten.

Mohamed Bouazizi, der 26 jährige Tunesier, der mit seiner Selbstverbrennung das Fanal für den Aufstand setzte, hat, nach allem, was man über ihn weiß, eben diese Entwürdigung nicht mehr ausgehalten. Seine Arbeitslosigkeit. Das Wissen, als Straßenhändler seine Familie nicht versorgen zu können. Die täglichen Schikanen der korrupten Behörden.
Es wird dieser Tage immer wieder auf den vergleichsweise hohen Bildungsgrad der Tunesier und ihr vergleichsweise hohes Durchschnittseinkommen hingewiesen. Weil das Land eine Mittelschicht hervorgebracht habe, so das Argument, habe es die gesellschaftliche Kraft für eine demokratische Revolution entwickelt. Das Problem ist: In den Familien dieser Mittelschicht leben Söhne und Töchter mit Hochschulabschlüssen, die genau wissen, dass ihre angeblich so stabile Ökonomie keine Perspektive, keine „Verwendung“ für sie hat. Schon ein paar Zuckungen und Spekulationen an den globalen Getreidebörsen können eine solche Mittelschicht ins Wanken bringen. Von der Unterschicht ganz schweigen.

Die rasant steigenden Brotpreise waren einer der Auslöser der tunesischen Jasmin-Revolution. Aus Angst vor „Ansteckung“ haben all die anderen „pro-westlichen“ Potentaten im Nahen und Mittleren Osten nun begonnen, Preise für Nahrungsmittel zu senken. Das ist keine Antwort auf den Reformdruck, sondern ein staatlich finanziertes Beruhigungsmittel.

Und was macht Europa jetzt? Was machen wir jetzt? Nun, ein klares offizielles Bekenntnis zur tunesischen Demokratiebewegung und eine deutliche Warnung an potenzielle Saboteure in Tunesiens Nachbarschaft wären ein ordentlicher Anfang. Die schnelle Bestandsaufname und Blockierung des illegitimen Vermögens der Ben Alis und ihrer Getreuen wäre ein zweiter Schritt. Den könnte man auch auf amtierende Potentaten ausdehnen.

Und dann? All die Expertise gewähren, die das Land braucht und will: für die Ausrichtung und Beobachtung von Wahlen, für die Auflösung des Repressionsapparat (da haben osteuropäische Länder einiges Know-How zu bieten). Wirtschaftshilfe und Schutz vor weiteren Preisexplosionen bei Grundnahrungsmitteln. Und irgendwann wird sich Europa der Debatte um eine andere Einwanderungspolitik stellen müssen. Eine, die nicht auf Abschottung setzt, sondern jungen Menschen aus dem Maghreb Chancen auf dem europäischen Arbeitsmarkt bietet. Klingt verwegen in diesen Zeiten. Aber die TunesierInnen sind dieser Tage noch viel verwegener.