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Naomis „schmutzige Steine“ – Supermodel Campbell sagt im Taylor-Prozess aus

Madame erschien mit Verspätung und indigniertem Gesichtsausdruck im Gerichtssaal, aber solches Gehabe ist Naomi Campbell ihrem Ruf als Diva schuldig. Davon einmal abgesehen, verlieh das Supermodel heute Morgen in Den Haag dem Sondertribunal für Sierra Leone (SCSL) gehörig Auftrieb. Man hatte ja fast vergessen, dass hier der zweite internationale Strafprozess überhaupt gegen einen ehemaligen Staatschef läuft – und zwar recht zügig und geordnet. Nach dem chaotischen Marathonverfahren gegen Serbiens Ex-Präsidenten Slobodan Milošević vor dem UN-Jugoslawien-Tribunal, das 2006 bekanntlich nicht mit einem Urteil, sondern dem Herzversagen des Angeklagten endete, geht es im Prozess gegen den ehemaligen liberianischen Staatschef Charles Taylor nach Startschwierigkeiten recht straff zu. Ein Urteil könnte noch in diesem Jahr fallen.

Hat Naomi Campbell nun eine entscheidende Aussage gegen den Angeklagten geliefert? Sagen wir es so: Sie hat sich alle Mühe gegeben, möglichst vage zu bleiben.

Taylor ist der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. In seiner Amtszeit als Präsident Liberias (die sich durch horrende Menschenrechtsverletzungen auszeichnete) soll er Rebellen der Revolutionary United Front (RUF) im Nachbarland Sierra Leone mit Waffen versorgt und diese wiederum mit „Blutdiamanten“ bezahlt haben. Die Gräueltaten der RUF, darunter das Abhacken von Händen und Armen, ist ebenso ausführlich dokumentiert wie ihre Ausbeutung der Diamantenminen des Landes. Die Allianz zwischen Taylor und der RUF gilt als Fakt.

Das Problem ist: Was in Zeitungen oder Berichten von Menschenrechtsorganisationen steht, reicht als Beweismittel für einen Schuldspruch nicht aus. Taylors Verteidigungsstrategie ist denkbar einfach. Er streitet alles ab und hat sich vom Kriegstreiber zum Konfliktvermittler in Westafrika umgeformt. Von dieser Fassade konnten die Ankläger einiges abkratzen. Aber den Zeugen, der Taylor und Rohdiamanten direkt in Verbindung bringen konnte, hatten sie bislang nicht.

Bis Naomi Campbell kam. Nicht ganz freiwillig.

Campbell hatte 1997 an einem Celebrity-Dinner im Hause von Nelson Mandela teilgenommen. Mit dabei unter anderem der Musikproduzent Quincy Jones, die Schauspielerin Mia Farrow und Charles Taylor – damals bereits ein berüchtigter Kriegsherr, aber auch frisch gewählter Präsident Liberias und in Mandelas Augen womöglich gerade mitten in der Transformation vom Warlord zum Staatsmann.

Die Ankläger im Taylor-Prozess argumentieren, dass er 1997 mit Rohdiamanten aus Sierra Leone auf Waffenkauf in Südafrika gewesen sei. Taylor behauptet, er sei zur medizinischen Behandlung nach Südafrika gereist und habe nie irgendetwas mit Rohdiamanten zu tun gehabt. Am Morgen nach dem Dinner soll Campbell nun brühwarm Mia Farrow berichtet haben, nachts hätten Männer an ihre Hotelzimmertür geklopft und ihr mit besten Grüßen von Charles Taylor Rohdiamanten geschenkt. Was Farrow wiederum gegenüber dem Tribunal 2009 (reichlich spät, könnte man sagen) zu Protokoll gab.

Worauf Campbell die ganze Geschichte erst einmal abstritt und in der ihr eigenen Selbstbeherrschung einem Kameramann des US-Senders ABC wegen allzu hartnäckiger Nachfrage das Gerät aus der Hand schlug. Die Medien hatten ihre „Zicken-Story“ – und Chefanklägerin Brenda Hollis eine wichtige Zeugin, die allerdings erst mit Vorladung und Androhung von Zwangsmaßnahmen zum Erscheinen in Den Haag bewegt werden konnte.

Dort hat Naomi Campbell nun heute morgen ausgesagt, sie habe in jener Nacht von Männern einen „Beutel“ überreicht bekommen, diesen erst am folgenden Morgen geöffnet und darin „schmutzig aussehende Steine“ entdeckt. Von wem das Geschenk stammte, wollte sie nun nicht mehr wissen. Farrow habe beim Frühstück die Vermutung ausgesprochen, der großzügige Verehrer müsse wohl Taylor gewesen sein. Diese Aussage beißt sich mit der Darstellung von Farrow, wonach Naomi Campbell sehr wohl gewusst haben soll, wer der Gönner war. Und sie erlaubt nun Taylors Verteidigern die These, dass die dirty stones auch von einem unbekannten Verehrer geschickt worden sein können.

Im Übrigen wurde Frau Campbell nicht müde zu betonen, dass sie um die Sicherheit ihrer Familie fürchte. Sie habe irgendwann im Internet herausgefunden, dass Taylor ein gefährlicher Mann sei, der „Tausende von Menschen umgebracht haben soll.“ Ihre Zeugenaussage sei also eine „Unannehmlichkeit“, die sie schnell hinter sich bringen wolle.

Nun machte Frau Campbell keinen sehr gefährdeten Eindruck. Sie hat in der Vergangenheit bewiesen, dass sie ziemlich unvermittelt zuschlagen kann (nicht nur gegen Kameraleute, auch gegen Angestellte, die nicht spuren). Aber ihre Rehaugen-Show hatte den unbeabsichtigten Effekt, an all die anderen Zeugen zu erinnern. An die Überlebenden von Massakern, die vergewaltigten Frauen, die Verstümmelten, die bislang den Mut hatten, in Den Haag auszusagen. Und die dann in die bittere Armut ihres Nachkriegslandes heimgekehrt sind, wo sie im Zweifelsfall den Fußtruppen der RUF, den ehemaligen Kindersoldaten und Jungmännern jeden Tag auf der Straße begegnen, die damals im Auftrag ihrer Hintermänner mordeten. Denn das Sondertribunal, das nach dem Taylor-Prozess seine Tore schließen wird, verhandelt nur gegen die Hauptverantwortlichen des Bürgerkriegs, in dem Zehntausende Zivilisten getötet oder verstümmelt wurden.

Und wo sind die „schmutzigen Steine“ geblieben, die Naomi Campbell damals so lässig neben ihrem Bett deponierte? Sie behauptet, den Beutel an den Nelson Mandela Children’s Fund weitergegeben haben. Die Stiftung bestreitet das. Womöglich liegen die Diamanten ja noch in irgendeinem Supermodel-Schminkbeutel.

 

Paukenschlag in Den Haag: Warum der Prozess gegen Thomas Lubanga ausgesetzt wurde

Wenn es bei Gericht so etwas wie Donnerhall gibt, dann hat es gestern in Den Haag mächtig geknallt. Seit anderthalb Jahren zieht sich der Prozess des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGh) gegen den ehemaligen kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga hin. Nun haben die drei Richter unter Vorsitz des Briten Adrian Fulford das Verfahren ausgesetzt – und die Freilassung Lubangas angeordnet. Die Anklagebehörde hatte Fulfords Anweisung ignoriert, die Identität eines kongolesischen Zeugen offen zu legen, der seinerseits Zeugen der Anklage für ihre Aussage bezahlt und deren Inhalt manipuliert haben soll.

Bis auf weiteres bleibt Lubanga, dem Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten vorgeworfen wird, hinter Gittern. Fulford gab den Anklägern fünf Tage Zeit, gegen seine Entscheidung Widerspruch einzulegen, was diese mit Sicherheit tun werden. Ob Lubanga während der Verhandlung des Widerspruchs in Haft bleibt, muss dann die Berufungskammer des IStGh entscheiden.

Der  Beginn des ersten Prozesses des IStGh im Januar 2009 wurde noch als historischer Auftakt einer „Weltstrafjustiz“ gefeiert. Nun sind ausgerechnet bei dieser Premiere so ziemlich alle denkbaren Probleme zu einer Zerreißprobe zwischen Richtern und Anklägern eskaliert. Es geht um elementare, scheinbar unvereinbare Prinzipien: den Schutz von Zeugen und das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren. Es geht um die enormen Hindernisse bei den Ermittlungen in einem völlig zerstörten Land wie dem Kongo. Es geht um das Dilemma zwischen weltweiter Empörung über Kriegsgräuel einerseits und deren so mühsam und ineffektiv erscheinender juristischer Aufarbeitung andererseits. Und es geht ganz konkret um „intermediary 143“.

So wird in den Gerichtsakten jener vermutlich kongolesische Mittelsmann genannt, der am Schauplatz der Kriegsverbrechen im nordöstlichen Bezirk Ituri der Haager Anklagebehörde geholfen hat, Kontakte zu Zeugen herzustellen und deren Aussage aufzunehmen. Mit solchen einheimischen Mittelsmännern zu kooperieren, ist eine übliche Vorgehensweise. Bei ihren Ermittlungen sind die Ankläger maßgeblich auf die Informationen und Kontakte kongolesischer Menschenrechtler und Dolmetscher sowie auf die Nachforschungen dort stationierter UN-Mitarbeiter angewiesen. Vor allem erstere erwarten dafür Wahrung ihrer Anonymität und Schutz vor Repressalien, so weit dieser in einem Land wie dem Kongo überhaupt möglich ist.

Nachdem inzwischen zwei Zeugen, die von Lubangas Miliz rekrutiert worden sein sollen, ihre Aussagen gegen den Angeklagten  zurückgezogen haben, werfen die Verteidiger eben jenen Mittelsmännern vor, Aussagen manipuliert zu haben.  Lubangas Anwältin Catherine Mabille und ihre Kollegen fordern, die Identität von „intermediary 143“ zu erfahren und diesen selbst vorzuladen. Richter Fulford hielt das für ein vertretbares Ansinnen, das Büro von Chefankläger Luis Moreno-Ocampo nicht. Letzterer will den Namen von „intermediary 143“ nicht herauszurücken, auch nicht an den kleinen Kreis der Verteidiger, solange der Mittelsmann nicht ausreichend geschützt ist.

Sich der Anordnung eines Richters so demonstrativ zu widersetzen, geht  – zunächst – für keinen Ankläger gut aus. Fulford ist das, was man im Englischen als „no-nonsense-guy“ bezeichnet. Also jemand, der sich von keiner Streitpartei vorführen lässt. Schon vor Prozessbeginn rasselten er und seine beiden Kollegen, der Bolivianer René Blattman und die Costaricanerin Elisabeth Odio Benito, mit Ocampos Abteilung aneinander. Damals ging es um potenziell entlastendes Beweismaterial, dass die Anklagebehörde unter Verweis auf Schutz ihrer Quellen nicht an Lubangas Verteidiger weitergeben wollte. Diese Runde gewann Ocampo. Die Berufungskammer entschied in seinem Sinne. Offensichtlich hofft er auch bei diesem Konflikt auf die nächst höhere Instanz.

Soviel zum juristischen Innenleben auf dem Planeten Den Haag. Nach außen, vor allem nach Ituri, sind diese Ereignisse sehr viel schwerer zu vermitteln. Dort starben 1999 und 2003 in einem Krieg zwischen ethnischen Milizen über 50.000 Menschen, unter anderem von Hand jener Kindersoldaten, deren Rekrutierung Lubanga vorgeworfen wird. Unter anderem eine EU-Militärmission führte schließlich einen fragilen Frieden herbei.

Dass inzwischen auch ehemalige Kriegsgegner von Lubanga auf der Anklagebank des IStGh sitzen, hat im Kongo das Gerücht entschärft, hier würden nur die Täter einer ethnischen Gruppe verfolgt. Dass vier Jahre nach der Überstellung von Lubanga aus einem kongolesischen Gefängnis nach Den Haag immer noch kein Urteil ergangen ist, finden die Bewohner Ituris kaum nachvollziehbar. Eigens eingerichtete Radioprogramme erlauben ihnen durchaus, die Ereignisse in Den Haag genau zu verfolgen.

Die neuerliche Krise des Lubanga-Prozesses erwischt den Gerichtshof zu einem prekären Zeitpunkt. Der Prozessauftakt gegen den bislang prominentesten Untersuchungshäftling, den ehemaligen kongolesischen Vize-Präsidenten Jean-Pierre Bemba, ist gerade wieder verschoben wurden. So mancher Experte hält die Anklage-Konstruktion in diesem Fall für ziemlich wackelig.

Gleichzeitig hat der Gerichtshof gerade seine erste Überprüfungskonferenz hinter sich. Bei der haben sich die Vertragsstaaten darauf geeinigt, in Zukunft dem IStGh auch eine (allerdings eingeschränkte) Jurisdiktion über den Tatbestand des Angriffskriegs zu übergeben.

Simpel formuliert: die Erwartung an den einzigen permanenten internationalen Strafgerichtshof, die schlimmsten Verbrechen und ihre Haupttäter zu bestrafen, sind noch größer geworden. Gleiches gilt nicht unbedingt für die Ausstattung des Gerichts. Es gilt auch nicht für die Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft, den politischen Druck auf Angeklagte wie den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir zu erhöhen.

Sollte jetzt ausgerechnet die juristische Premiere des IStGh, der Lubanga-Prozess, platzen, hätte das Gericht einen bitteren Erfolg zu verbuchen: Es hätte das Prinzip des fairen Verfahrens hoch gehalten, aber gleichzeitig den eigenen Ruf nachhaltig ramponiert.

 

Srebrenica: Lebenslänglich für Völkermord

Im Gerichtssaal wirkten sie oft wie eine gut gelaunte Seniorentruppe im Sonntagsanzug – allen voran die beiden Hauptangeklagten Ljubisa Beara und Vujodin Popovic. „Nicht schuldig“ erklärten sie selbstsicher vor drei Jahren bei der Eröffnung ihres Prozesses vor dem UN-Jugoslawien-Tribunal in Den Haag. „Schuldig“, antworteten an diesem Donnerstag die Richter und verhängten gegen die beiden lebenslang wegen Völkermords in Srebrenica und weiterer Verbrechen im Bosnienkrieg. Fünf weitere Angeklagte erhielten Haftstrafen zwischen 35 und fünf Jahren – unter anderem wegen Beihilfe zum Genozid.

Nachrichten aus dem Haager UN-Tribunal erhalten nicht mehr viel Aufmerksamkeit, wenn die Namen Karadzic und Mladic nicht darin vorkommen. Doch dieser Prozess markiert einen Meilenstein in der juristischen Aufarbeitung des Bosnien-Krieges. Sollte die Berufungskammer den Richterspruch bestätigen, wären Beara und Popovic die ersten Angeklagten des UN-Tribunals, die des Genozids überführt worden sind.

Die beiden, wie auch ihre Mitangeklagten, bildeten die zweite Reihe der Täter hinter Radovan Karadzic, dessen Prozess vor dem Tribunal im Oktober 2009 begonnen hat, und Ratko Mladic, dem Oberbefehlshaber der bosnisch-serbischen Armee, der immer noch flüchtig ist.

Beara, den einstigen Sicherheitschef der bosnisch-serbischen Armee, bezeichneten die Richter in ihrer Urteilsbegründung als eine „treibende Kraft“ hinter dem Massaker von Srebrenica, bei dem im Juli 1995 rund 8000 muslimische Männer und Jungen ermordet wurden. Der heute 70- jährige ehemalige Oberst hatte Orte für die Massenexekutionen ausgesucht, Hinrichtungskommandos und das Ausheben von Massengräbern organisiert und war bei den Massakern teilweise anwesend.

Popovic, ehemals Oberstleutnant, war Sicherheitschef des Drina-Korps, das im März 1995 von Mladic den Auftrag erhalten hatte, in den UN-Schutzzonen Srebrenica und Zepa, „eine unerträgliche Situation der totalen Unsicherheit zu schaffen, ohne Hoffnung auf Überleben oder Leben für seine Bewohner“.

Das Urteil im bislang umfangreichsten Prozess erfolgt fast genau 15 Jahre nach dem Völkermord von Srebrenica. Spät, zu spät, finden viele – vor allem Überlebende und Angehörige der Opfer. „Wer könnte es ihnen verübeln“, schreibt die kroatische Publizistin Slavenka Drakulic, Autorin des preisgekrönten Buches „Keiner war dabei“ über die Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht. Genugtuung und Seelenfrieden für die Überlebenden zu schaffen, können solche Prozesse kaum leisten.

Aber – abgesehen von der Bestrafung der Täter – dokumentieren sie mühsam und langsam die Wahrheit über Menschheitsverbrechen. Im Verfahren gegen Beara und seine Mitangeklagten hieß das: 425 Verhandlungstage, 315 Zeugen, über 80.000 Seiten an Gerichtsakten.
Das sei die Leistung des Tribunals, schreibt Drakulic. „Es ist für die Serben nicht länger möglich, das Geschehene zu leugnen.“ Es wird zumindest schwerer.

Und Mladic? Neben dem kroatischen Serbenführer Goran Hadzic ist er der letzte flüchtige Angeklagte des UN-Tribunals und hält sich offenbar weiterhin in Serbien versteckt. Am Dienstag hatte die serbische Polizei Mladic’s Frau Bosiljka in Belgrad festgenommen. Anlass waren illegale Schusswaffen, die vor zwei Jahren bei einer Hausdurchsuchung gefunden worden waren. Die Polizeiaktion jetzt soll, so die optimistische Interpretation, offenbar den Druck auf Mladic erhöhen, sich zu stellen.

Die Kooperation Belgrads mit dem ICTY – und dazu gehört die Fahndung nach Mladic – ist bekanntlich eine Bedingung für die Integration Serbiens in die EU. An dieser Bedingung halten ernsthaft nur noch die Niederlande fest. Und die werden zunehmend von anderen EU-Mitgliedsstaaten bedrängt, den Weg für Serbien in die Union auch dann frei zu machen, wenn Mladic nicht gefasst ist.

Am Montag wird in Brüssel wieder über das EU-Stabilisierungs -und Assoziierungsabkommen (SAA) mit Serbien verhandelt. Zahlreiche Menschenrechtsaktivisten und Völkerrechtler, darunter der ehemalige Chefankläger des ICTY, Richard Goldstone, haben nun die EU-Mitgliedsländer aufgefordert, diesen politischen Druck auf Serbien aufrechtzuerhalten. Andernfalls würde sich Mladic Recht und Gerechtigkeit entziehen.

Mladic’s Familie hatte übrigens im Mai beantragt, den Serbengeneral offiziell für tot erklären zu lassen – um die Auszahlung seiner Pension zu ermöglichen.

 

Der Auftritt des Angeklagten Karadzic

Es ist eine Tortur, die sich die Frauen von Srebrenica immer wieder zumuten. Sie beantragen ein Visum für die Niederlande, fahren zwanzig Stunden im Bus von Sarajewo nach Den Haag, falten vor dem Gerichtsgebäude des UN-Jugoslawien-Tribunals die Transparente mit den Namen ihrer ermordeten Angehörigen auf, erleben, wie die Hauptangeklagten theatralische Monologe halten, sich selbst zu Opfern und die Opfer zu Tätern erklären oder einfach gar nicht erst erscheinen. So geschah es im Prozess gegen Slobodan Milosevic. So geschieht es jetzt im Prozess gegen Radovan Karadzic.

Internationale Strafprozesse gegen Kriegsverbrecher können vieles leisten: sie können eine Kultur der Straflosigkeit eindämmen. Sie können nicht nur die unmittelbaren Täter, sondern auch die Drahtzieher zur Verantwortung ziehen. Sie können durch ihre Ermittlungen zur historischen Aufarbeitung beitragen, das Lügen und Leugnen erschweren.

Eines können sie nicht: die Opfer, die Überlebenden, die Zeugen der Anklage  zum geschützten Mittelpunkt des Verfahrens machen. Mittelpunkt eines  Strafverfahrens ist nun mal der Angeklagte. Und der hat, unter anderem, das Recht, die dreistesten Lügen im Beisein der Opfer von sich zu geben. Das erklärt, warum die Frauen von Srebrenica sich Anfang der Woche aus dem Munde des angeklagten Radovan Karadzic anhören mussten, dass der Bosnienkrieg die Schuld der Muslime und der Genozid von Srebrenica ein „Mythos“ sei. Es erklärt allerdings nicht, warum die Frauen nach der Verhaftung von Karadzic im Juli 2008 noch einmal über anderthalb Jahre auf die Eröffnung des Prozesses warten mussten.

Das Recht des Angeklagten, sich selbst zu verteidigen, wurde bei der Entstehung des UN-Tribunals in die Prozessordnung geschrieben.
Es hat sich inzwischen als eine der schlimmsten Fußangeln erwiesen. Slobodan Milosevic hat dieses Recht genutzt, seinen Prozess mit politischen Monologen und oft absurden Dialogen mit den Richtern in die Länge zu ziehen. Nach viereinhalb Jahren raffte ihn ein Herzinfarkt dahin, und die Opfer seiner Kriege mussten sich nicht nur jahrelang verhöhnt, sondern auch um ein Urteil betrogen fühlen.

Ein anderer „Selbstverteidiger“, der das Gericht seit Jahren als Bühne für eine Schlammschlacht missbraucht, ist Vojislav Seselj, der serbische Ultranationalist, gelernte Anwalt und Führer serbischer Paramilitärs. Seselj ist der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Morde Massenvergewaltigungen und Plünderungen angeklagt. Im Gerichtssaal fällt er vor allem durch obszöne Tiraden und wüste Drohungen gegen Zeugen auf.

Dagegen gibt es eigentlich ein Mittel: Einem Angeklagten, der das Verfahren obstruiert, kann man einen Pflichtverteidiger beiordnen, was die Richter auch mehrfach versucht haben. Allerdings hat die Berufungskammer des Tribunals jeden Anlauf abgeschmettert. Sie ist offenbar der Meinung, dass ein Angeklagter das Recht, sein eigener Anwalt zu sein, erst dann verwirkt, wenn er einem Richter buchstäblich an die Gurgel geht.

Diese Präzedenzfälle machte und macht sich Karadzic zunutze, um Zeit zu schinden. Das tut er, anderes als Seselj, in formvollendeter Höflichkeit, aber nicht weniger effektiv. Weil Englisch und Französisch die Gerichtssprachen sind, kann Karadzic auf der Übersetzung aller Dokumente in Serbische bestehen. Allein das dauert. Er kann, was er im Herbst vergangenen Jahres immer wieder getan hat, reklamieren, nicht genügend Zeit zur Vorbereitung zu haben und die Eröffnung des Verfahrens boykottieren. Prozessbeobachter und Experten debattieren heftig, ob das Gericht ihn nicht längst hätte in die Schranken weisen können und sollen.

Die Mütter von Srebrenica haben sich unterdessen in Den Haag andere juristische Wege eröffnet. Im Juni 2007 reichten sie vor einem niederländischen Gericht Zivilklage gegen den niederländischen Staat und die Vereinten Nationen ein – wegen, vereinfacht ausgedrückt, Vertragsbruch.

Ihre Anwälte, darunter der deutsche Jurist Axel Hagedorn, argumentieren, dass die UN im Sommer 1995 den bosnischen Muslimen in Srebrenica Schutz quasi vertraglich garantiert hatten: durch entsprechende Zusicherungen hoher UN-Offiziere, durch UN-Resolutionen und die Einrichtung einer so genannten „Schutzzone“, aber auch durch die Entwaffnung muslimischer Kämpfer, die damit selbst keine Möglichkeit mehr hatten, sich und bosnische Zivilisten zu verteidigen. Wenige Wochen später überrollten Truppen unter dem Kommando von Ratko Mladic die Enklave und ermordeten 8000 bosnische Männer und Jungen. Die niederländischen Blauhelme leisteten nicht nur keinen Widerstand. Aus Angst vor den Serben unterstützten sie, so die Kläger, den Genozid, indem sie Männer von Frauen trennten und selbst Verwundete an die Serben übergaben, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt wissen mussten, was Mladic mit den Gefangenen vor hatte.

Die niederländische Regierung wiederum verhinderte mehrfach den Einsatz von NATO-Luftstreitkräften gegen serbische Stellungen aus Angst um das Leben ihrer Soldaten. Und die UN konstatierte sich unmittelbar nach dem Genozid selbst, eklatant bei der Ausführung ihres Mandats versagt zu haben. Im Klartext: Die Staatengemeinschaft hatte einen Völkermord nicht verhindert, hatte es nicht einmal ernsthaft versucht.

Aber kann man eine Regierung und die UN deswegen verklagen? Letztere berufen sich auf ihre Immunität, festgelegt in der UN-Charta, und warnen davor, dass Peacekeeping-Missionen unmöglich gemacht würden, sollte die Klage zugelassen werden. Erstere versteckt sich gewissermaßen dahinter. Falsch, sagen Hagedorn und seine MandantInnen. Im Fall von Nichtverhinderung eines Genozids kann niemand, auch nicht die größte internationale Organisation, Immunität reklamieren.

Auch dieses Verfahren zieht sich nun schon seit drei Jahren vor den niederländischen Instanzen hin. Dass die Überlebenden und Angehörigen von Srebrenica es gewinnen, glaubt kaum jemand. Aber sie haben eine zentrale Frage aufgeworfen, die so schnell nicht mehr aus der Debatte verschwinden wird: Wem sind die Vereinten Nationen eigentlich Rechenschaft schuldig, wenn sie ihre ureigenste Aufgabe, den Schutz der Menschenrechte und die Verhinderung eines Genozids, so dramatisch missachten wie es in Srebrenica der Fall war?

 

Zwei Erfolge für das UN-Ruanda-Tribunal

Ein paar Tage noch, dann soll am 19. Oktober  in Den Haag der Prozess gegen Radovan Karadzic eröffnet werden. Bevor die Scheinwerfer mal wieder auf das UN-Jugoslawien-Tribunal (ICTY) fallen, ein kurzer Blick auf den anderen UN-Strafgerichtshof, über den kaum einer redet:  Das Tribunal für Ruanda (ICTR).

Eigentlich sollte das ICTR, dessen Sitz sich im tansanischen Arusha befindet, bis 2010 seine Türen schließen. Doch noch laufen über 20 Verfahren – und gerade sind dem Gericht zwei große Fische ins Netz gegangen: Ende September lieferten die kongolesischen Behörden Grégoire Ndahimana nach Arusha aus. Ndahimana, ein Hutu,  war während des Völkermordes 1994 in Ruanda Bürgermeister der Stadt Kivumu und wird beschuldigt, dort ein Massaker an mehreren tausend Tutsi mit organisiert zu haben.

Wenige Tage wurde in Ugandas Hauptstadt Kampala Idelphonse Nizeyimana verhaftet. Nizeyiamana, ein ruandischer Berufsoffizier, stand auf der Fahndungsliste des ICTR ganz oben. Ermittlungen zufolge war er schon von 1990 an mit Plänen für einen Genozid an Ruandas Tutsi befasst und soll Sondereinheiten des Militärs für das Massenmorden im April 1994 befehligt haben. Am Dienstag wurde auch Nizeyimana nach Arusha ausgeliefert. Damit ist die Liste der flüchtigen Angeklagten des ICTR auf elf Namen geschrumpft.

Ruandas Nachbarländer, vor allem der Kongo, nehmen ihre Verpflichtung zur Strafverfolgung jetzt offenbar weitaus ernster. Ndahimana war im August in der kongolesischen Provinz Nordkivu während eines Militäreinsatzes gegen die Hutu-Miliz der FDLR festgenommen worden. In deren Reihen befinden sich bekanntlich mehrere Haupttäter des Genozids von 1994. Auch Nizeyimana, der ehemalige Offizier, war nach 1994 in den Ostkongo geflogen und hatte dort jahrelang für den politischen Flügel der FDLR gearbeitet. Deren Präsident, Ignace Murwanahsyaka, wiederum lebt seit Jahren als politisch anerkannter Flüchtling in Deutschland.

Für das UN-Ruanda-Tribunal sind das zwei bedeutende Fahndungserfolge. Und sie vergrößern das aktuelle Dilemma des Gerichts: Es muss – ähnlich wie das UN-Jugoslawien-Tribunal – seine eigene Abwicklung planen und hat gleichzeitig soviel Arbeit wie selten zuvor.

Für das Gericht in Arusha ist die Verhaftung von Nizeyimana ähnlich bedeutsam wie für das ICTY die Festnahme von Radovan Karadzic. Allerdings kann sie den einen großen Makel des ICTR nicht wett machen: Alle Versuche der Anklagebehörde, auch die Kriegsverbrechen der Tutsi-Rebellengruppe Ruandische Patriotische Front (RPF) zu untersuchen, wurden unterbunden. Die RPF hatte unter ihrem Führer Paul Kagame im Sommer 1994 den Genozid  gestoppt, die Täter mitsamt mehreren hunderttausend ruandischen Hutu in die Flucht geschlagen – und dabei nach Angaben von UN-Ermittlern und Menschenrechtsorganisationen selbst Massaker an mehreren zehntausend Hutu begangen. Kagame selbst hatte massiven Druck auf das ICTR und auf den damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan ausgeübt, jegliche Ermittlungen in Richtung RPF zu unterbinden – und dabei auch seine exzellenten Verbindungen zu den USA ausgespielt. Mit Erfolg, wie man sieht.

Kagame ist heute Ruandas Präsident und fährt unter internationalem Beifall einen erfolgreichen Kurs, den man als „autoritäre Politik der Versöhnung und des Wiederaufbaus“ bezeichnen kann. Ruanda gilt heute als  afrikanisches Musterländle mit Demokratie-Defizit. Eine Aufklärung der Verbrechen seiner RPF ist in weite Ferne gerückt. Was nicht ausschließt, dass ihn diese Vergangenheit irgendwann doch einholt.

 

Staatschefs gegen Staatsanwälte

Fünfundzwanzig Jahre Gefängnis für Perus ehemaligen Staatspräsidenten Alberto Fujimori wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Erste Verfahrensschritte gegen den ehemaligen US-Justizminister Alberto Gonzales wegen Folter. Demonstrative Bruderküsse arabischer Potentaten auf die Wange ihres sudanesischen Amtskollegen Omar al-Bashir, der wegen Kriegsverbrechen mit internationalem Haftbefehl gesucht wird. Das sind die jüngsten Neuigkeiten aus der noch jungen Disziplin „Staatschef (oder Minister) gegen Staatsanwalt (oder Richter)“.

Zunächst nach Lateinamerika. Was Chile im Fall Augusto Pinochet nicht mehr geschafft hat, ist Peru im Fall Alberto Fujimori gelungen: den ranghöchsten Verantwortlichen für schwerste Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen. Fujimori, Sohn japanischer Einwanderer und Präsident Perus von 1990 bis 2000, gilt seinen immer noch zahlreichen Anhängern als Held, weil er das Land seinerzeit erfolgreich aus einer Wirtschaftskrise und durch einen blutigen Krieg gegen die maoistische Terrorgruppe „Leuchtender Pfad“ geführt hat.

Dass dabei Todesschwadronen Zivilisten massakrierten, Journalisten verschleppt und Verdächtige gefoltert wurden, tut Fujimori inzwischen leid. Aber erstens, so erklärte er während des Prozesses, habe er nichts dergleichen persönlich angeordnet und zweitens habe er damals „nicht aus dem Präsidentenpalast, sondern aus der Hölle regieren“ müssen. Soll heißen: Im Kampf gegen den Terror kann man eben nicht jeden Morgen die Genfer Konventionen lesen. Die Richter um Cesar San Martin in Lima sahen es als erwiesen, dass Fujimori für zwei Massaker verantwortlich ist.

Dieses historische Urteil wird auch in den USA auf großes Interesse stoßen. Was ist erlaubt im „Krieg gegen den Terror“? Amerikas neuer Präsident Barack Obama versucht derzeit, nicht alle, aber zumindest die schlimmsten Völkerrechtsverstöße seines Vorgängers George W. Bush im „Krieg gegen den Terror“ zu korrigieren. Das Lager Guantánamo will er schließen, die Anwendung von Folter hat er verboten. Gerade erst hat die Zeitschrift New York Review of Books einen bislang geheimen Bericht des Internationalen Roten Kreuzes im Internet veröffentlicht, in dem die Beteiligung von medizinischem Personal bei amerikanischen Folterverhören dokumentiert wird.

Doch strafrechtlich will Obama gegen Angehörige der Bush-Administration nicht vorgehen. Das übernehmen nun womöglich andere. Seit einigen Tagen prüft der spanische Untersuchungsrichter Baltasar Garzon die Klage von Menschenrechtsorganisationen gegen sechs Angehörige der Bush-Administration, darunter Ex-Justizminister Alberto Gonzales, Ex-Vizeverteidigungsminister Douglas Feith und John C. Yoo, ehemals hochrangiger Beamter im Justizministerium. Yoo hatte seinerzeit dem amerikanischen Präsidenten das Recht bescheinigt, die Genfer Konventionen und die Anti-Folterkonvention aushebeln zu dürfen.

In Spanien gilt wie auch in Belgien oder Deutschland das Prinzip der „universellen Jurisdiktion“, wonach bestimmte Verbrechen auch dann strafrechtlich verfolgt werden können, wenn sie in anderen Ländern begangen wurden, und die Tatverdächtigen keine Staatsbürger des eigenen Landes sind. Während die deutsche Justiz entsprechende Strafanzeigen bislang lieber abblockt, gelten Belgien und Spanien als Vorreiter. Garzon hatte es 1998 geschafft, Augusto Pinochet in London festnehmen zu lassen. Der stand dort zwei Jahre unter Hausarrest, bis er schließlich wegen Krankheit zurück nach Chile durfte und dort die letzten Jahre seines Lebens wiederum unter Hausarrest verbrachte.

Ein Strafverfahren gegen die „Bush 6″ wäre auch insofern sensationell, als die Beklagten nicht zur militärischen oder geheimdienstlichen Befehlskette gehören. Sie zählten zur Kaste der Rechtsexperten, die Praktiken wie Water Boarding und andere Foltermethoden in kafkaesk anmutenden Gutachten für legal und legitim erklärt hatten. Würde die Obama-Regierung die „Bush 6“ im Falle eines Haftbefehls nach Spanien ausliefern? Bestimmt nicht. Obama hat mit seiner Kritik an CIA-Folter, Irak-Krieg, Guantanamo und kapitalistischen Exzessen die amerikanische Bereitschaft zur Reue so ziemlich ausgereizt.

Ehemals hochrangige Regierungsbeamte an ein ausländisches Gericht zu überstellen, wäre innenpolitischer Selbstmord. Das heißt nicht, dass ein Ermittlungsverfahren in Madrid nur symbolischen Charakter hätte. Es würde ein deutliches Signal senden, das beschädigte Folterverbot wiederherzustellen. Und EU-Länder würden die „Bush 6“ auf ihren zukünftigen Urlaubs- und Geschäftsreisen in Zukunft meiden müssen.

Und wie steht es um den derzeit bekanntesten (und umstrittensten) Haftbefehl der Welt gegen Sudans Präsidenten Omar al Bashir? Anders als bei Fujimori ermittelt gegen al Bashir ein internationales Gericht. Und anders als im Fall des Peruaners, der bei Prozessbeginn bereits politisch entmachtet war, ist al Bashir ein amtierender Präsident mit genügend Macht, um den politischen und humanitären Preis für diesen Haftbefehl dramatisch zu erhöhen. Unter anderem, indem er als Reaktion zahlreiche Hilfsorganisationen aus Darfur ausweisen ließ. Und indem er der Welt verkündet: ‚Seht her, ich kann reisen, wohin ich will’. Nach diesem Motto sucht al Bashir Unterstützung gegen den Internationalen Strafgerichtshof (ICC), der ihn seit dem 4. März wegen schwerer Verbrechen in Darfur festnehmen lassen will. Und er findet sie bis auf weiteres – zumindest in der arabischen Welt. Kairo, Doha, Mekka standen in den letzten Tagen auf seiner Reiseroute. Überall demonstrativer Schulterschluss seiner Amtskollegen und Beifall der staatlich kontrollierten Medien gekoppelt mit dem Vorwurf der westlichen „Doppelmoral“: Al-Bashir würde man wegen der Verbrechen in Darfur verfolgen, die israelische Regierung bliebe nach den Menschenrechtsverletzungen in Gaza unbehelligt.

Wozu die Journalistin Diana Mukkaled in der konservativen pan-arabischen Zeitung Asharq Al Awsat schrieb: „Warum glauben so viele Araber, dass Widerstand gegen den Westen und gegen internationale Justiz wichtiger ist als das Leben von Hunderttausenden in Darfur? (…) Wenn wir Gerechtigkeit für Gaza wollen, müssen wir dann nicht auch Gerechtigkeit für Darfur fordern? “ Mukkaled vertritt zweifellos eine Minderheitenmeinung in der arabischen Presselandschaft.

Aber das Argument der Doppelmoral hat nun zumindest etwas an Wucht verloren: Vergangene Woche gab die UN bekannt, eine Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen während des Gaza-Krieges zu entsenden. Leiter ist der südafrikanische Jurist Richard Goldstone, ehemals Chefankläger der UN-Tribunale für Jugoslawien und Ruanda. Der Mann kennt sich aus im Minenfeld von Politik und internationaler Strafjustiz – und diese Erfahrung wird er auch dringend brauchen.

 

Lubanga bleibt vorerst in Haft

Thomas Lubanga bleibt vorerst hinter Gittern. Nachdem die erste Kammer des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGh) am 13. Juni das Verfahren gegen den Kongolesen ausgesetzt hatte, schob sie eine Entscheidung über seine Freilassung am Dienstag erst einmal auf. Die Richter der Kammer werfen dem Büro von Chefankläger Luis Moreno-Ocampo vor, entlastendes Beweismaterial unter Verschluss zu halten. Der will gegen den Verfahrensstopp Widerspruch einlegen und hat den Opfern des ehemaligen Kriegsherrn versprochen, dass „Gerechtigkeit walten wird“. Ocampo glaubt, dass der Streit um das Beweismaterial in den nächsten Wochen beigelegt wird, und der Prozess dann endlich im September beginnen kann. Lubanga sitzt seit März 2005 in Haft.

Ocampo, der sich in den achtziger Jahren bei der Strafverfolgung von Junta-Mitgliedern in seinem Heimatland Argentinien einen Namen gemacht hat, feiert diesen Monat sein fünfjähriges Amtsjubiläum beim IStGh. Eine Zwischenbilanz seiner Arbeit zieht Nick Grono, Vize-Präsident der International Crisis Group. Die fällt durchaus kritisch aus. Grono moniert, dass der IStGh Gefahr läuft, zum „Gerichtshof für Afrika“ reduziert zu werden, weil er bislang ausschließlich in afrikanischen Ländern ermittelt (Kongo, Uganda, Sudan, Zentralafrikanische Republik)

„The prosecutor is already conducting preliminary analyses of atrocities in Colombia and Afghanistan. If the evidence warrants it, he should launch proper investigations in these countries, particularly in Afghanistan where warlords, commanders and insurgents have continued to commit systematic abuses in recent years.“

Außerdem erscheint ihm Ocampo zu zaghaft, wenn es um Anklagen gegen amtierende Machthaber geht. Mit Ausnahme des Falles Sudan richten sich die Ermittlungen des IStGh bislang ausschließlich gegen ehemalige oder noch aktive Rebellenführer.

„If the court is to have the impact its founders hoped of it, it needs convictions of government leaders who abuse human rights. Such convictions give deterrence and delegitimisation a force that prosecutions of rebels do not. Just look at how the Slobodan Milosevic and Charles Taylor prosecutions have resonated around the world.“

 

Der Paukenschlag des Gerichts – womöglich platzt der internationale Prozess gegen den kongolesischen Warlord Thomas Lubanga

Es ist ein Schlag ins Gesicht – fragt sich nur, wen er am härtesten trifft.
Am Montag hat die erste Kammer des internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (IStGh) das Verfahren gegen den ehemaligen kongolesischen Kriegsherren Thomas Lubanga ausgesetzt. Die Begründung: Die Anklage habe der Verteidigung zahlreiche Dokumente mit zum Teil entlastendem Material vorenthalten. „Wenn schon zu Beginn klar ist, dass grundlegende Voraussetzungen für einen fairen Prozess fehlen“, so die Richter in ihrer Begründung, „ist es unabdingbar, das Verfahren auszusetzen.“ Eigentlich hätte der Prozess gegen Lubanga, der wegen Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten in Ituri im Ost-Kongo angeklagt ist, am 23. Juni beginnen sollen. Nun aber will die Kammer nächste Woche darüber entscheiden, ob Thomas Lubanga auf freien Fuss gesetzt wird. Für die internationale Reputation des Gerichtshofs wäre dies verheerend.
Aber was genau ist eigentlich passiert? Haben die Ankläger unter Leitung des Argentiniers Luis Moreno- Ocampo wirklich mit unsauberen Tricks gearbeitet? Ist der erste Prozess des Internationalen Strafgerichtshofs damit bereits gescheitert? Und was heisst das für die Zukunft des Völkerstrafrechts?

Ankläger internationaler Strafgerichte stehen zweifellos unter größerem Druck als Richter und Verteidiger. In den Augen der Weltöffentlichkeit sind sie die Rächer von Verbrechen, die die internationale Staatengemeinschaft nicht verhindern konnte oder wollte: Völkermord, Massaker, Massenvergewaltigungen, Rekrutierung von Kindersoldaten, ethnische Vertreibungen. Ob Slobodan Milosevic, Charles Taylor oder Thomas Lubanga – in den internationalen Medien, in den Berichten von Menschenrechtsorganisationen und UN-Kommissionen stehen diese Angeklagten längst als Kriegsverbrecher fest. Für eine juristische Bewertung ihrer Schuld gelten aber nun mal andere kompliziertere Kriterien. Auch für die Schlimmsten der „bad guys“ gilt der Grundsatz in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Das ist der internationalen Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln.

Tatsächlich gab und gibt es bei internationalen Strafgerichtshöfen einiges zu bemängeln an der „Waffengleichheit“ zwischen Anklage und Verteidigung. Ankläger und Verteidiger suchen jeweils nach belastenden und entlastenden Beweisen und „fechten“ die Frage von Schuld oder Unschuld vor den Richtern aus. Bloß sind letztere meist deutlich schlechter ausgestattet. Beim UN-Jugoslawien-Tribunal wurden sie in den ersten Jahren recht stiefmütterlich behandelt, mussten um Ressourcen und Räume kämpfen. Im Verfahren gegen den ehemaligen liberianischen Präsidenten Charles Taylor monierte die Strafkammer des zuständigen internationalen Sondertribunals, dass dessen Anwälte bei der Ermittlungsarbeit gegenüber den Anklägern benachteiligt worden seien. Und nun also der Paukenschlag im Fall Lubanga.

Allerdings geht es hier noch um ein anderes Problem: Bei den Dokumenten, die die Ankläger des IStGh partout nicht herausrücken wollen, handelt es sich um Beweismaterial, dass ihnen von Angehörigen der UN-Mission im Kongo unter der Zusicherung absoluter Vertraulichkeit gegeben worden ist. Würden diese Unterlagen an die Verteidigung und damit auch an den Angeklagten weitergegeben, so die Befürchtung, könnte dieser die Identität der Informanten herausfinden. Und das könnte für die Betreffenden – vor allem für Zeugen aus der Zivilbevölkerung – gefährlich werden. Denn der Gerichtshof hat wie auch die anderen internationalen Tribunal keine eigene Polizei. Seine Möglichkeiten, Zeugen zu schützen, sind minimal.
Der Beschluss der ersten Kammer des IStGh vom vergangenen Montag verdeutlicht also eines der zentralen Probleme des Völkerstrafrechts. Der Strafgerichtshof ermittelt derzeit in Darfur, im Kongo, in Uganda und in der Zentralafrikanischen Republik. In Darfur herrscht Krieg, die anderen drei Länder befinden sich irgendwo zwischen Krieg und Frieden. Ermittler des Gerichtshofes können nur unter extrem schweren Bedingungen und größtem Risiko vor Ort arbeiten. Ohne die Zuarbeit von lokalen Menschenrechtsgruppen oder den jeweiligen UN-Missionen wäre wohl keine einzige Ermittlungsakte eröffnet worden.

Die Gründer des IStGh haben ja vorausgesehen, dass das Gericht im wahrsten Sinne des Wortes mitten ins Scharmützel geraten würde. Dass seine Ermittlungen nicht nur den Tatverdächtige überführen, sondern auch jenen Menschen gefährlich werden können, die es wagen, die Verbrechen zu bezeugen. Das Römische Statut, die Gründungsakte des Gerichts, erlaubt den Anklägern, in bestimmten Fällen Beweismaterial unter Verschluss zu halten, um die Quellen zu schützen. Im Fall Lubanga, so die Richter der ersten Kammer, habe die Anklage dieses Recht allerdings missbraucht.

Ist der Prozess gegen Thomas Lubanga also noch zu retten? Vielleicht. Denn die Richter haben der Anklage einen Vorschlag zur Güte gemacht. Sie wollen Einsicht in die Dokumente bekommen und dann selbst entscheiden, welche entlastenden Charakter haben und der Verteidigung zugänglich gemacht werden müssen. Jetzt muss das Büro des Chefanklägers Moreno-Ocampo die Informanten überreden, auf ihre Anonymität zu verzichten. Klappt das nicht, ist das erste Verfahren des IStGh zu Ende, bevor es richtig begonnen hat.

In Ituri, wo Lubangas Hema-Truppen im Krieg gegen Milizen der Lendu den Tod von 60.000 Menschen mitverschuldet haben, versteht man ohnehin nicht mehr, was da im fernen Europa vor sich geht. In den von Hema bewohnten Vierteln der Bezirkshauptstadt Bunia feiern Lubangas Anhänger, als wäre die Entscheidung der Den Haager Kammer ein Freispruch. In den Nachbarschaft der Lendu hingegen fühlen sich die Leute um die Rache am Erzfeind betrogen. Seit über zwei Jahren sitzt Lubanga in Den Haag in Untersuchungshaft, seit über zwei Jahren warten sie auf die Eröffnung des Prozesses. Und jetzt das. Gut möglich, dass die Entscheidung der Richter vom vergangenen Montag auf lange Sicht die Prozessführung des IStGh gestärkt hat. In Bunia aber hat das Weltgericht jede Glaubwürdigkeit verspielt.

 

Kinshasa nach der Verhaftung von Jean Pierre Bemba

Man soll es nicht beschreien, aber es ist erstaunlich ruhig in Kinshasa. Viel Polizei auf den Straßen, die Märkte sind geöffnet – ein gutes Zeichen, denn die Markthänderlerinnen sind die ersten, die Unruhen riechen.

Seit sieben Tagen befindet sich Jean-Paul Bemba, Kongos exilierter Oppositionsführer, in einem belgischen Gefängnis, festgenommen am vergangenen Samstag aufgrund eines Haftbefehls des internationalen Strafgerichtshofs (IStGh) in Den Haag. Die Nachricht traf seine Anhänger in Kinshasa wie ein Hammerschlag. Tage zuvor war in der Hauptstadt noch über Bembas Rückkehr in den Kongo spekuliert worden.

Im Stadtteil Gombe sieht man an den Hauswänden immer noch die Einschusslöcher des Mini-Krieges, den sich Bembas Miliz mit der Armee und der Präsidentengarde seines Erzfeindes, Staatspräsident Joseph Kabila, vor über einem Jahr geliefert hatte. Die Kämpfe hatten sich mitten im Diplomatenviertel der Hauptstadt abgespielt. Opfer in der Zivilbevölkerung waren den Kontrahenten immer schon egal, mögliche Tote und Verletzte beim ausländischen Botschaftspersonal offenbar auch. Zeitweise setzte Kabila sogar frisch aus der Ukraine importierte Panzer ein, deren mit schwerem Gerät völlig unvertraute Besatzungen in alle Himmelsrichtungen ballerten.

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2006, die Bemba trotz erstaunlich guten Abschneidens verloren hatte, sah sich Kinshasa in einem andauernden Zustand der Belauerung gefangen – bis Bemba schließlich nach seiner zweiten, dieses Mal blutigen Niederlage im März 2007 nach Portugal ins Exil ging. Das MLC, größte Oppositionspartei im Parlament, blieb ohne seinen charismatischen (und steinreichen) Führer weitgehend wirkungslos. Für den 27. Mai hatten Zeitungen in Kinshasa nun Bembas triumphale Heimkehr angekündigt. Doch drei Tage vorher zerstörte der Strafgerichtshof diese Träume.

Amtshilfe leisteten die belgischen Behörden, die Bemba in Brüssel festnahmen, wo er nun auf seine Auslieferung nach Den Haag wartet. Dort wird er eine Zelle im Scheveninger Gefängnis beziehen, der Haftanstalt mit der weltweit größten Dichte mutmaßlicher Kriegsverbrecher: hier sitzen die Untersuchungshäftlinge des UN-Jugoslawientribunals; der von einem internationalen Sondergericht angeklagte Ex-Präsident Liberias, Charles Taylor; sowie die drei kongolesischen Häftlinge des Internationalen Strafgerichtshofs, Thomas Lubanga, Germaine Katange und Mathieu Ngujolo. Bei letzteren handelt es sich um kleinere Kriegsherren aus dem ostkongolesischen Bezirk Ituri, gegen die unter anderem wegen Rekrutierung von Kindersoldaten und ethnischen Massakern ermittelt wird.

„Zu wenige und zu keine Fische“. So lautete lange die Kritik von Menschenrechtsorganisationen am IStGh. Mit Bemba hat sich das Gericht nun zweifellos einen „großen Fisch“ vorgenommen: Der 45-jährige Multi-Millionär, Sohn eines mächtigen Vaters aus der Machtclique Mobutus, mischte während der verheerenden Plünderkriegs im Kongo mit seiner eigenen Miliz mit, war Vize-Präsident der Übergangsregierung, und nach den Wahlen 2006 Senator des Parlaments. Allerdings bezieht sich der Haftbefehl nicht auf Kriegsverbrechen seiner Miliz im Kongo. Die wurden vor dem 1.Juli 2002 begangen und damit vor dem Inkrafttreten des Statuts des Gerichtshofs. Doch zwischen Oktober 2002 und März 2003 schickte Bemba seine Rebellenarmee über die Grenze nach Zentralafrika, um dem dortigen Präsidenten Ange-Felixe Patasse gegen einen Putschversuch zur Seite zu stehen. Es handelte sich dabei um einen grenzüberschreitenden Freundschaftsdienst eines Kriegsherren für einen Despoten. In dessen Verlauf verübten Bembas Truppen Massaker an Zivilisten, plünderten und vergewaltigten. Die Ankläger beim IStGh wollen sich vor allem auf die Vorwürfe sexueller Kriegsgewalt konzentrieren. Bembas Kämpfer sollen auf öffentlichen Plätzen Mädchen und Frauen vergewaltigt haben – zwecks Demonstration der eigenen Allmacht.

Patasse wurde wenig später trotz Bembas Militärhilfe gestürzt. Es war denn auch die neue Regierung Zentralafrikas, die 2004 den IStGh bat, Ermittlungen aufzunehmen. Dass Bemba irgendwann in einer Den Haager Zelle landen könnte, war in-und außerhalb Kinshasas seit langem Gegenstand von Spekulationen. Doch Bemba selbst muss sich zunehmend sicher gefühlt haben, als er 2006 seinen Wahlkampf führen konnte, von Ministern der EU und der USA empfangen wurde und sich im europäischen Exil ungehindert bewegen durfte.
Und nun?
Nun hat der IStGh zweifellos seinen ersten wirklich großen Fall, der Kongo deswegen aber noch kein Problem weniger. Nicht, dass es mit Bemba den Falschen getroffen hätte. Aber nach Lesart der Kongolesen war seine Verhaftung natürlich ein politischer Akt. Für Bembas Anhänger handelt es sich dabei um einen Deal zwischen internationaler Gemeinschaft und Präsident Kabila, um dessen Hauptrivalen endgültig aus dem Weg zu räumen. Kabila-Fans, von denen es in der Hauptstadt nicht allzu viele gibt, sehen darin einen Versuch Belgiens, seine zerrütteten Beziehungen zur einstigen Kolonie wieder zu reparieren. Denn der belgische Außenminister Karel de Gucht hat in den vergangenen Wochen durch öffentliche Kritik an korrupten kongolesischen Politikern eine diplomatische Eiszeit heraufbeschworen. Seiner Strafpredigt gegen Parlamentarier, die sich Dienstautos zum Stückpreis von 40.000 Dollar leisten, anstatt endlich für eine menschenwürdige Bezahlung streikender Lehrer zu sorgen, mag man wirklich nicht widersprechen. Aber erstens war die Tonlage war nicht besonders klug gewählt. Zweitens hat Belgien hat aufgrund seiner horrenden Kolonialgeschichte wenig Grund, den moralischen Zeigefinger zu erheben. Und drittens glauben die kongolesischen Medien, dass de Gucht einfach nur seinem Ärger über die blühenden Geschäfte zwischen dem Kongo und China Luft machen wollte.

Ob Präsident Joseph Kabila die belgischen Handschellen für Jean Pierre Bemba als Geste der Versöhnung interpretiert, ist bislang nicht bekannt. Kabila hat sich seit seiner Wahl ohnehin selten zu irgendetwas geäußert, geschweige denn, irgendein nennenswertes Projekt zum Aufbau seines Landes initiiert.
Womöglich wird ihn Bembas Festnahme noch teuer zu stehen kommen. In dessen regionaler Hochburg, der Provinz Equateur, ist die Lage gespannt. Dort kam es in den vergangenen Tagen immer wieder zu gewalttätigen Protesten.
In Kinshasa ist die Lage, wie gesagt, ruhig. Eine Demonstration von Bembas Partei MLC am vergangenen Dienstag verlief erstaunlich friedlich und diszipliniert. Ein weiterer Protest, angekündigt für diesen Samstag, wurde vom Gouverneur von Kinshasa verboten – und bislang halten sich Bembas Anhänger daran. Aber in der Hauptstadt stauen sich Frust und Wut auf die Regierung, die seit ihrem Amtsantritt so gut wie nichts zur Verbesserung der Lebenssituation beigetragen hat. Streikende Studenten haben vor kurzem erst Büros des Bildungsministeriums mit Steinen angegriffen. Lebensmittel sind teurer geworden. Die Preisexplosion für Reis und Getreide auf dem Weltmarkt merkt man natürlich auch hier. Die Inflationsrate steigt. Am härtesten trifft die Menschen der rasant steigende Benzinpreis. Was in Kinshasa gegessen wird, muss größtenteils aus dem Hinterland eingeflogen oder über den Kongo-Fluss per Boot herbeigeschafft werden. Ein Weltmarktpreis von 130 Dollar pro Barrel Rohöl zwingt die Bewohner der Slums von Massina, Ndjili oder Kimbanseke, ihre ohnehin schon kargen Maniok-, Mais- oder Gemüserationen zu verkleinern. Oder auf das morgendliche Sammeltaxi zu verzichten und die zehn, fünfzehn Kilometer vom Außenbezirk ins Zentrum zu den Märkten und Straßengeschäften zu Fuss zu laufen. Selbst die unendlich geduldigen Einwohner Kinshasas spüren irgendwann nur noch die Wut im Bauch – wenn sie nicht vorher die Erschöpfung übermannt.

 

…und da waren es schon drei – wieder ein Rebellenführer aus dem Kongo nach Den Haag überstellt

Langsam, ganz langsam füllt sich der Zellenblock des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGh) in Den Haag. Gestern traf der dritte Untersuchungshäftling ein: Mathieu Ngudjolo Chui, ein ehemaliger Kriegsherr aus dem Bezirk Ituri im Nordosten des Kongo. In der Anklageschrift, die vom Gericht noch bestätigt werden muss, werden Ngudjolo Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen – darunter Rekrutierung von Kindersoldaten, sexuelle Versklavung und Angriffe gegen die Zivilbevölkerung. Ngudjolo war  Stabschef  der „Front für Nationale Integration“ (FNI), einer überwiegend aus Angehörigen der Lendu bestehenden Miliz. Deren Krieg gegen bewaffnete Gruppen der Hema fielen zwischen 1999 und 2003 mindestens 50.000 Menschen zum Opfer.

Beim Hofgang im Den Haager Gefängnis kann sich Ngudjolo nun mit einem ehemaligen Erzfeind unterhalten. Thomas Lubanga, ehemals Chef der gegnerischen Hema-Milizen, sitzt seit März 2006 in Den Haag, angeklagt der Rekrutierung von Kindersoldaten. Sein Prozess, der erste des IStGh überhaupt, soll am 31. März beginnen. Beobachter rechnen allerdings mit weiteren Verzögerungen.

Im Fall Ngudjolo sind vor allem seine Biografie und die Umstände seiner Auslieferung ungewöhnlich. Im Oktober 2003, als der Krieg zwischen Hema und Lendu beendet war, wurde Ngudjolo von UN-Blauhelmen verhaftet, von der Regierung in Kinshasa der Kriegsverbrechen beschuldigt und ins berüchtigte Makala Gefängnis von Kinshasa verlegt. Dort brach er aus, tauchte 2005 wieder in Ituri auf, um prompt eine neue Rebellentruppe zu gründen – dieses Mal mit dem klangvollen Namen „Kongolesische Revolutionäre Bewegung“ (MRC).

Offiziell war der Krieg in Ituri zu diesem Zeitpunkt längst beendet, und die immer wieder auftauchenden neuen Milizen durfte man eher unter der Rubrik „Karrieresprung für Banditen“ verbuchen. Denn nur wer schießt, plündert und raubt, so die traurige Lehre aus den Kongo-Kriegen, hat Aussicht, sich in „Friedensverhandlungen“ einen hohen Regierungs- oder Armeeposten zu ergattern. Und tatsächlich ging die Regierung in Kinshasa mit diversen Anführern im Dezember 2006 einen Deal ein: Schluss mit den Raubzügen, als Gegenleistung sollte das Fußvolk der Rebellen entweder demobilisiert oder in die nationale Armee integriert, die Rebellenführer selbst mit hohen Offiziersrängen ausgestattet werden. So wurde aus dem Kriegsherrn und Gangster Mathieu Ngudjolo Choi ein Oberst der kongolesischen Armee. Es hatte, so schien es, genau das bekommen, was er wollte.

Im November 2007 rückte Ngudjolo zusammen mit zwei anderen ehemaligen Warlords, Cobra Matata und Peter Karim, in Kinshasa zur militärischen Fortbildung ein. Was er zu diesem Zeitung noch nicht wusste: Seit Juli 2007 lag in Den Haag ein versiegelter Haftbefehl gegen ihn. Man kann vermuten, dass der Ankläger beim IStGh, der Argentinier Luis Moreno-Ocampo, den Haftbefehl auf Wunsch der Regierung in Kinshasa und der UN-Mission im Kongo einige Monate ruhen ließ, um die Entwaffnung der Milizen nicht zu gefährden. Am 7. Februar machte der IStGh den Haftbefehl öffentlich. Wenige Stunden später saß Ngudjolo in Handschellen in einem Flugzeug nach Den Haag.

Seine Kollegen Matata und Karim dürften derzeit also ziemlich nervös in ihren Kasernen in Kinshasa sitzen – obwohl bislang nichts daraufhin deutet, dass auch gegen sie Haftbefehle vorliegen. Kongolesische Menschenrechtsaktivisten haben Ngudjolos Festnahme natürlich begrüßt. Und Human Rights Watch, deren Kongo-Berichte einiges zu den Gerichtsermittlungen beigetragen haben, fordert nun die kongolesische Regierung auf, Matata und Karim wegen Kriegsverbrechen vor ein nationales Gericht zu stellen. Da allerdings tauchen zwei Probleme auch: Kongos Strafjustiz ist nur punktuell funktionstüchtig. Und wenn Matata und Karim tatsächlich auf der Anklagebank landen sollten, könnte das auch Folgen für hohe Regierungsmitglieder im In-und Ausland haben. Einer der ehemaligen Unterstützer der FNI in Ituri, Mbusa Nyamwisi, ist heute Außenminister des Kongo. Und zu ihren wichtigsten militärischen Komplizen zählte seinerzeit die ugandische Armee, deren höchste Offiziere den Krieg nach Kräften nutzten, um Rohstoffe in Ituri zu plündern. Womit man dann schon nahe an der Familie des ugandischen Präsidenten Museveni ist.

Einen solchen Drang zur Aufklärung werden vermutlich kein kongolesischer Staatsanwalt und kein Gericht verspüren. Aber Moreno-Ocampo, der Chefankläger des IStGh, hat erneut versprochen, sich endlich den Hintermännern und Finanziers dieses Krieges zu widmen. Man darf gespannt sein, ob in seinen Kongo- Akten irgendwann auch ein Haftbefehl gegen einen amtierenden Minister auftaucht. Dann wird die Frage der Festnahme wirklich spannend.