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Naomis „schmutzige Steine“ – Supermodel Campbell sagt im Taylor-Prozess aus

Madame erschien mit Verspätung und indigniertem Gesichtsausdruck im Gerichtssaal, aber solches Gehabe ist Naomi Campbell ihrem Ruf als Diva schuldig. Davon einmal abgesehen, verlieh das Supermodel heute Morgen in Den Haag dem Sondertribunal für Sierra Leone (SCSL) gehörig Auftrieb. Man hatte ja fast vergessen, dass hier der zweite internationale Strafprozess überhaupt gegen einen ehemaligen Staatschef läuft – und zwar recht zügig und geordnet. Nach dem chaotischen Marathonverfahren gegen Serbiens Ex-Präsidenten Slobodan Milošević vor dem UN-Jugoslawien-Tribunal, das 2006 bekanntlich nicht mit einem Urteil, sondern dem Herzversagen des Angeklagten endete, geht es im Prozess gegen den ehemaligen liberianischen Staatschef Charles Taylor nach Startschwierigkeiten recht straff zu. Ein Urteil könnte noch in diesem Jahr fallen.

Hat Naomi Campbell nun eine entscheidende Aussage gegen den Angeklagten geliefert? Sagen wir es so: Sie hat sich alle Mühe gegeben, möglichst vage zu bleiben.

Taylor ist der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. In seiner Amtszeit als Präsident Liberias (die sich durch horrende Menschenrechtsverletzungen auszeichnete) soll er Rebellen der Revolutionary United Front (RUF) im Nachbarland Sierra Leone mit Waffen versorgt und diese wiederum mit „Blutdiamanten“ bezahlt haben. Die Gräueltaten der RUF, darunter das Abhacken von Händen und Armen, ist ebenso ausführlich dokumentiert wie ihre Ausbeutung der Diamantenminen des Landes. Die Allianz zwischen Taylor und der RUF gilt als Fakt.

Das Problem ist: Was in Zeitungen oder Berichten von Menschenrechtsorganisationen steht, reicht als Beweismittel für einen Schuldspruch nicht aus. Taylors Verteidigungsstrategie ist denkbar einfach. Er streitet alles ab und hat sich vom Kriegstreiber zum Konfliktvermittler in Westafrika umgeformt. Von dieser Fassade konnten die Ankläger einiges abkratzen. Aber den Zeugen, der Taylor und Rohdiamanten direkt in Verbindung bringen konnte, hatten sie bislang nicht.

Bis Naomi Campbell kam. Nicht ganz freiwillig.

Campbell hatte 1997 an einem Celebrity-Dinner im Hause von Nelson Mandela teilgenommen. Mit dabei unter anderem der Musikproduzent Quincy Jones, die Schauspielerin Mia Farrow und Charles Taylor – damals bereits ein berüchtigter Kriegsherr, aber auch frisch gewählter Präsident Liberias und in Mandelas Augen womöglich gerade mitten in der Transformation vom Warlord zum Staatsmann.

Die Ankläger im Taylor-Prozess argumentieren, dass er 1997 mit Rohdiamanten aus Sierra Leone auf Waffenkauf in Südafrika gewesen sei. Taylor behauptet, er sei zur medizinischen Behandlung nach Südafrika gereist und habe nie irgendetwas mit Rohdiamanten zu tun gehabt. Am Morgen nach dem Dinner soll Campbell nun brühwarm Mia Farrow berichtet haben, nachts hätten Männer an ihre Hotelzimmertür geklopft und ihr mit besten Grüßen von Charles Taylor Rohdiamanten geschenkt. Was Farrow wiederum gegenüber dem Tribunal 2009 (reichlich spät, könnte man sagen) zu Protokoll gab.

Worauf Campbell die ganze Geschichte erst einmal abstritt und in der ihr eigenen Selbstbeherrschung einem Kameramann des US-Senders ABC wegen allzu hartnäckiger Nachfrage das Gerät aus der Hand schlug. Die Medien hatten ihre „Zicken-Story“ – und Chefanklägerin Brenda Hollis eine wichtige Zeugin, die allerdings erst mit Vorladung und Androhung von Zwangsmaßnahmen zum Erscheinen in Den Haag bewegt werden konnte.

Dort hat Naomi Campbell nun heute morgen ausgesagt, sie habe in jener Nacht von Männern einen „Beutel“ überreicht bekommen, diesen erst am folgenden Morgen geöffnet und darin „schmutzig aussehende Steine“ entdeckt. Von wem das Geschenk stammte, wollte sie nun nicht mehr wissen. Farrow habe beim Frühstück die Vermutung ausgesprochen, der großzügige Verehrer müsse wohl Taylor gewesen sein. Diese Aussage beißt sich mit der Darstellung von Farrow, wonach Naomi Campbell sehr wohl gewusst haben soll, wer der Gönner war. Und sie erlaubt nun Taylors Verteidigern die These, dass die dirty stones auch von einem unbekannten Verehrer geschickt worden sein können.

Im Übrigen wurde Frau Campbell nicht müde zu betonen, dass sie um die Sicherheit ihrer Familie fürchte. Sie habe irgendwann im Internet herausgefunden, dass Taylor ein gefährlicher Mann sei, der „Tausende von Menschen umgebracht haben soll.“ Ihre Zeugenaussage sei also eine „Unannehmlichkeit“, die sie schnell hinter sich bringen wolle.

Nun machte Frau Campbell keinen sehr gefährdeten Eindruck. Sie hat in der Vergangenheit bewiesen, dass sie ziemlich unvermittelt zuschlagen kann (nicht nur gegen Kameraleute, auch gegen Angestellte, die nicht spuren). Aber ihre Rehaugen-Show hatte den unbeabsichtigten Effekt, an all die anderen Zeugen zu erinnern. An die Überlebenden von Massakern, die vergewaltigten Frauen, die Verstümmelten, die bislang den Mut hatten, in Den Haag auszusagen. Und die dann in die bittere Armut ihres Nachkriegslandes heimgekehrt sind, wo sie im Zweifelsfall den Fußtruppen der RUF, den ehemaligen Kindersoldaten und Jungmännern jeden Tag auf der Straße begegnen, die damals im Auftrag ihrer Hintermänner mordeten. Denn das Sondertribunal, das nach dem Taylor-Prozess seine Tore schließen wird, verhandelt nur gegen die Hauptverantwortlichen des Bürgerkriegs, in dem Zehntausende Zivilisten getötet oder verstümmelt wurden.

Und wo sind die „schmutzigen Steine“ geblieben, die Naomi Campbell damals so lässig neben ihrem Bett deponierte? Sie behauptet, den Beutel an den Nelson Mandela Children’s Fund weitergegeben haben. Die Stiftung bestreitet das. Womöglich liegen die Diamanten ja noch in irgendeinem Supermodel-Schminkbeutel.

 

Die Gelassenheit des Charles Taylor

Erst boykottierte der Angeklagte sein Verfahren, dann entließ er seine Anwälte und beschuldigte die Richter, einen „Schauprozess“ durchzuführen. Charles Taylor, ehemals liberianischer Staatspräsident und derzeit prominentester Häftling der internationalen Strafjustiz, hatte alle Register gezogen, um den Prozess gegen ihn aufzuhalten. Seit Montag sitzt er nun endlich auf der Anklagebank, ausgestattet mit neuen Strafverteidigern und demonstrativ zur Schau getragenem Vertrauen in einen Freispruch. Politisch erscheint das undenkbar, juristisch ausgeschlossen ist es nicht.  

Zur Erinnerung: Elf Punkte umfasst die Anklage gegen den 59-jährigen – darunter Massenmord, sexuelle Versklavung, Einsatz von Kindersoldaten, Plünderung. Taten, die im internationalen Völkerstrafrecht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen definiert werden. Allerdings geht es dabei nicht um Gräuel, die während des Bürgerkriegs in Taylors Heimat Liberia begangen worden sind, sondern im Nachbarland Sierra Leone. Dort kämpften zwischen 1991 und 2002 die von Taylor unterstützten Rebellen der „Revolutionären Einheitsfront“ (RUF) gegen die Regierungsarmee, wobei die Fronten im Verlauf dieses Krieges zunehmend verworrener wurden. Am härtesten umkämpft waren die Diamantengebiete des Landes, deren Ausbeutung der RUF jahrelang ungebremsten Waffennachschub garantierte – und Taylor, so die Anklage, Zugriff auf die Edelsteine.

 

Die Brutalität des Krieges mit Zehntausenden Toten machte weltweit Schlagzeilen – nicht zuletzt, weil RUF-Rebellen unzähligen Zivilisten in „Strafaktionen“ Arme und Beine abhackten. Hollywood ließ die Erinnerung an diesen Horror im vergangenen Jahr noch einmal mit dem Film „Blood Diamond“  aufleben. Zu diesem Zeitpunkt saßen führende Kriegsherren bereits auf der Anklagebank des internationalen Sondergerichts für Sierre Leone (SCSL), das mit Unterstützung der Vereinten Nationen in der Hauptstadt Freetown eingerichtet worden war. Taylor allerdings wurde nach seiner Festnahme im März 2006 nach Den Haag überstellt, wo das SCSL nun in den Räumen des Internationalen Strafgerichtshofs gegen ihn verhandelt. Ein Prozess in Freetown schien dem Gericht zu gefährlich: zu groß das Risiko, dass Anhänger des immer noch einflußreichen Ex-Präsidenten in der Region Unruhe stiften könnten.

 

Seit dem 7. Januar ruft nun also die Anklage ihre Zeugen in Saal 2 des hermetisch gesicherten Den Haager Gerichtsgebäude auf: UN-Experten schildern den Zusammenhang zwischen Diamantenschmuggel und Krieg; Überlebende beschreiben horrende Massaker der RUF. Das Problem: diese Aussagen werden Taylor nicht gefährlich. Weder er noch seine Verteidiger leugnen, dass die RUF Diamanten gegen Waffen gehandelt und grausame Verbrechen begangen hat. Taylor bestreitet schlicht, die RUF unterstützt, angestiftet, ermutigt oder auch nur von ihren Gräueltaten gewusst zu haben. Überhaupt habe er nie einen Fuss nach Sierra Leone gesetzt. Ihm „über jeden Zweifel erhaben“ das Gegenteil zu beweisen, ist gar nicht so einfach.

 

Die Argumentation der Anklage beruht auf dem juristischen Konstrukt eines „joint criminal enterprise“, einer „kriminellen Vereinigung“. Demnach hatten Taylor und die Führer der RUF einen „gemeinsamen Plan“, um in Sierra Leone eine Rebellion anzustiften und Zugriff auf die Diamantenfelder zu bekommen. In Folge dieses Plans seien dann zahlreiche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt worden. Das Konstrukt des „joint criminal enterprise“ wurde auch von den Anklägern des UN-Jugoslawien-Tribunals häufig angewandt, ist unter Völkerrechtlern aber umstritten.

 

Um im Prozess gegen Taylor eine solche „kriminelle Vereinigung“ zu beweisen, wollen die Ankläger mehrere ehemalige Weggefährten des Liberianers in den Zeugenstand rufen. Sie sollen bezeugen, dass Taylor von der liberianischen Hauptstadt Monrovia aus in regelmäßigem Telefonkontakt mit RUF-Kommandanten gestanden, ihnen Anweisungen gegeben, sie mit Waffen, Munition und Kämpfern versorgt haben soll. Ob die Glaubwürdigkeit dieser Zeugen den Kreuzverhören der Verteidiger standhalten wird, bleibt abzuwarten.

 

Ein viel größeres Problem – und hier geht es jetzt in die juristischen Feinheiten des Völkerstrafrechts – haben ausgerechnet die Richter des SCSL den Vertretern der Anklage beschert. Im Verfahren des Sondergerichts gegen drei sierra leonische Rebellenführer erklärte das Gericht im Juni 2007 die Angeklagten zwar der Kriegsverbrechen schuldig. Schließlich hatten sie nachweislich Massaker und Plünderungen angeordnet. Die Kammer sprach sie aber vom Vorwurf der „kriminellen Vereinigung zur Anstiftung einer Rebellion“ frei. Begründung: eine Rebellion anzustiften, sei nach internationalem Recht nun mal nicht strafbar und falle somit nicht unter das Mandat des Sondergerichts. Dieser Richterspruch habe potenziell „verheerende Folgen für die Anklage im Taylor-Prozess“, sagt William Schabas, einer der führenden Experten des Völkerstrafrechts. Bei den Anklageschriften des UN-Jugoslawien-Tribunals stelle sich die Lage anders dar, sagt Schabas. Dort hätten die Ankläger Slobodan Milosevic und anderen führenden Kriegsplanern ein „joint criminal enterprise“ zur Durchführung ethnischer Säuberungen vorgeworfen. Letztere sind als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert und liegen somit klar innerhalb des juristischen Mandats des Tribunals.

 

Behält Schabas Recht, so steht das Anklägerteam im Fall Taylor – geführt von dem Amerikaner Stephen Rapp – unter erhöhtem Druck. Denn ein Schuldspruch hängt nun umso mehr davon ab, dem liberianischen Kriegsherrn und selbst ernannten Prediger nachzuweisen, dass er im sierraleonischen Bürgerkrieg konkrete Gräueltaten angeordnet, angestiftet oder dazu ermutigt hat.

 

18 Monate, so schätzen Beobachter, wird der Prozess in Den Haag dauern, über 140 Zeugen sollen gehört werden. Videobänder von den Verhandlungstagen werden täglich auch in Monrovia und Freetown gezeigt, wo in Straßenkneipen ehemalige Kindersoldaten neben Kriegsopfern am Fernseher beobachten, wie die internationale Staatengemeinschaft im fernen Den Haag Gerechtigkeit walten lassen möchte. Keinem von ihnen ist entgangen, dass der Untersuchungshäftling Charles Taylor in seiner niederländischen Zelle derzeit einen Lebensstandard weit über dem westafrikanischen Durchschnitt geniesst. Aber die Vorstellung vergleichsweise luxuriöser Haftbedingungen für den Diktator finden die meisten immer noch erträglicher als den Gedanken, er könnte in anderthalb Jahren als freier Mann nach Liberia zurückkehren. 

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Dort hat übrigens gerade die „Wahrheits-und Versöhnungskommission“ damit begonnen, Täter und Opfer des liberianischen Bürgerkriegs anzuhören. Der dauerte von 1989 bis 2003, forderte über 200.000 Tote und verwüstete die gesamte Infrastruktur des Landes. Die Kommission hat kein Mandat zur Strafverfolgung, und Liberias Justizsystem ist noch Jahre davon entfernt, rechtsstaatliche Verfahren durchzuführen. Soll heißen: den Tätern droht keine Verurteilung. Einige Menschenrechtsaktivisten in Liberia fordern deswegen ein internationales Sondergericht wie in Sierra Leone. Und wie in Sierra Leone würde auch in Liberia einer der Hauptangeklagten Charles Taylor heißen.

 

Doch Liberias demokratisch gewählte Präsidentin Ellen Johnson-Sirleaf fürchtet aus gutem Grund all die ehemaligen Kriegsherren und Weggefährten Taylors, die im Fall drohender Prozesse wieder Heerscharen von demobilisierten, arbeitslosen Kämpfern auf die Barrikaden bringen könnten. „No Peace Without Justice“ heisst die Parole der internationalen Strafjustiz – „kein Friede ohne Gerechtigkeit“. In Liberia gilt bis auf weiteres: Für Gerechtigkeit ist der Frieden noch zu fragil.

 

P.S.: Wer den Prozess gegen Charles Taylor en detail verfolgen möchte: das „Open Society Institute“ von George Soros dokumentiert die Zeugenvernehmungen in einem täglich Blog.  Weitere Informationen sind auch über die Website des Sondergerichts für Sierra Leone zu erhalten.

 

 

 

 

 

 

Keine Milde für Sierra Leones Kriegsverbrecher

Zur Milde sahen die Richter keinen Grund. 50 Jahre Haft – so lautet die Strafe des internationalen Sondergerichts für Sierra Leone für Alex Tamba Brima und Santigie Borbor Kanu, der dritte Angeklagte Brima Bazzy Kamara erhielt 45 Jahre. Die drei gehören zu den Anführern des „Armed Forces Revolutionary Council“ (AFRC), einer Gruppe von Putschisten, die 1997 in der sierraleonischen Hauptstadt Freetown die Regierung stürzte und dann mit den Rebellen der „Revolutionary United Front“ (RUF) ein Duo des Terrors gegen die Zivilbevölkerung bildete.

Wie in diesem Blog berichtet, hatte das Sondergericht die drei bereits im Juni wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen in die Menschlichkeit in elf Fällen schuldig gesprochen – darunter Massenvergewaltigung, Sklaverei und, zum ersten Mal in der Geschichte der internationalen Strafjustiz, Rekrutierung von Kindersoldaten. Die vorsitzende Richterin Julia Sebutinde, die auch den Prozess gegen Charles Taylor leitet, konnte bei der Strafzumessung keine mildernden Umstände finden. Keiner der Angeklagten, heisst es in der Begründung, habe auch nur die geringste Reue gezeigt.
Dass die drei Berufung einlegen werden, gilt als höchstwahrscheinlich, und solange bleiben sie weiter im Gerichtsgefängnis in Freetown inhaftiert.

Sollten die Urteile bestätigt werden, beginnt die Suche nach einem Haftplatz im Ausland. Die nationalen Gefängnisse in Sierra Leone befinden sich in einem katastrophalen Zustand, sowohl in Bezug auf die Sicherheitsvorkehrungen, als auch auf die Versorgung der Gefangenen. Die drei in einer überfüllten Zelle ohne angemessene Nahrung dahinsiechen zu lassen, wäre zwar durchaus im Sinne der tausenden von Opfern, die die AFRC und die RUF hinterlassen haben. Aber Rachsucht, und sei sie noch so verständlich, lässt sich nun einmal nicht mit dem Völkerstrafrecht vereinbaren. Also werden Brima, Kanu und Kamara ihre Strafe womöglich in Schweden oder Österreich absitzen. Mit beiden Ländern hat das Sondergericht in Sierra Leone Abkommen zur Übernahme von rechtskräftig Verurteilten abgeschlossen. (Genauso verfahren auch die UN-Tribunale für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien mit ihren Verurteilten).
In Freetown wird unterdessen weiterverhandelt und beraten. Der Prozess gegen drei Anführer der RUF dauert noch an. Im Verfahren gegen führende Mitglieder regierungstreuer Bürgermilizen wird wohl in den nächsten Wochen ein Urteil ergehen.

Bleibt natürlich noch der Prozess gegen Charles Taylor, den ehemaligen Präsidenten Liberias und mutmasslichen Finanzier, Ausrüster und Mitbegründer der RUF. Taylor hat inzwischen einen neuen Anwalt. Das Mandat hat der britische Anwalt Courtenay Griffiths übernommen. Der in Jamaica geborene Jurist hat sich in Großbritannien unter anderem in Prozessen gegen die IRA einen Namen gemacht. Als erste Amtshandlung will Griffiths einen erneuten Verhandlungsaufschub durchsetzen.
Der Prozess, der aus Sicherheitsgründen nach Den Haag verlegt worden ist, sollte eigentlich am 20. August fortgesetzt werden. Aber bis dahin, sagt Griffiths, könnten er und sein Team sich unmöglich in die Gerichtsakten eingearbeitet haben. Vor Herbstbeginn dürfte also im Fall Taylor nichts vorangehen.
Sollte der Ex-Präsident übrigens verurteilt werden, würde er seine Haftstrafe in Großbritannien absitzen.

 

Charles Taylor führt weiter Regie

Nur kurz nachgetragen: auch gestern, am zweiten Verhandlungstag im Prozess, gegen den ehemaligen liberianischen Präsidenten Charles Taylor blieb die Anklagebank leer. Bereits bei der Eröffnung des Verfahrens am 4. Juni in Den Haag war Taylor in seiner Zelle geblieben. Aus Protest gegen die vermeintlich schlechte Ausstattung seines Rechtsbeistands hatte Taylor seinen Wahlverteidiger, den britischen Juristen Karim Khan, entlassen und erklärt, seinem Prozess so lange fern zu bleiben, bis der Sondergerichtshof für Sierra Leone ihm eine angemessene Verteidigung ermögliche. Taylor ist der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in elf Fällen angeklagt, weil er während des Bürgerkriegs im Nachbarland Sierra Leone die brutalste Rebellengruppe angestiftet und ausgerüstet haben soll.

Gestern nun ließ Taylor im Gerichtssaal ausrichten, was er sich unter angemessenem Rechtsbeistand vorstellt: mindestens einen, wenn nicht zwei Top-Juristen aus Großbritannien, sowie zwei weitere Rechtsanwälte – zu bezahlen durch das Gericht, da sich der Angeklagte als mittellos ausgibt. Das klingt zwar wie der pure Hohn in Anbetracht der Millionen von Dollars, die Taylor im Geschäft mit Blutdiamanten, Tropenhölzern und Kautschuk beiseite geschafft haben soll. Aber es ist schwer nachzuweisen, ob und wie er angesichts seiner international gesperrten Konten derzeit über sein Geld verfügt.
(Wer zum gestrigen Tag im Gericht mehr lesen möchte, dem sei der Bericht des Institute for War&Peace Reporting (IWPR) empfohlen. Überhaupt ist die Website des IWPR eine Fundgrube für alle, die sich für internationale Strafjustiz interessieren)

Inzwischen sind offenbar auch die Richter zu der Überzeugung gelangt, dass es mit Taylors Verteidigung gegen ein vergleichweise üppig ausgestattetes Team von Anklägern nicht zum Besten stand. Richterin Julia Sebutinde kritisierte die Gerichtsverwaltung, die sich schon vor Monaten um Taylors Beschwerden hätte kümmern sollen.

In einem Telefongespräch hat auch Karim Khan nachdrücklich gegen seine Arbeitsbedingungen protestiert. „Zehn Leute im Team des Anklägers gegen zwei im Team der Verteidigung … ich habe ja nie absolute Waffengleichtheit erwartet. Aber das hier war wirklich schlimm.“ Wochenlang hätten er und sein Assistent in Den Haag in Cafes arbeiten müssen, weil ihnen das Gericht kein Büro zur Verfügung gestellt habe.
Khan ist ein 37 jähriger, durchaus erfahrener Jurist, der bereits an den UN-Tribunalen für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda gearbeitet hat. Am Taylor-Prozess habe ihn unter anderem „die Herausforderung gereizt“. Und die besteht nach seiner Darstellung auch darin, selbst für die „berüchtigsten Angeklagten“ ein faires Verfahren nach höchsten rechtsstaatlichen Ansprüchen zu garantieren.

Um diese Herausforderung muss sich jetzt jemand anderes kümmern. Bis 31. Juli, so Richterin Sebutinde, müsse ein neues Verteidiger-Team angeheuert sein. Dann soll der Prozess fortgesetzt und Taylor womöglich auch unter Zwang vorgeführt werden. Ob dieser Zeitplan realistisch ist, darf bezweifelt werden. Kein seriöser Jurist kann sich innerhalb von fünf Wochen in diesen Berg an Ermittlungsakten einarbeiten.

Charles Taylor wird es recht sein. Bislang führt er Regie in diesem Drama. Nicht Richterin Sebutinde .

 

Schuldig! Das Sondergericht für Sierra Leone hat die ersten Urteile gefällt

Julia Sebutinde heißt die Frau, die gestern Rechtsgeschichte geschrieben hat. „Schuldig“, verkündete die Richterin am Mittwoch im Saal des internationalen Sondergerichts für Sierra Leone den drei Angeklagten – schuldig der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Kriegsverbrechen und anderer schwerer Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in elf Fällen, darunter Einsatz von Kindersoldaten, Versklavung, Vergewaltigung und Mord. Fünf Jahre nach Ende des sierraleonischen Bürgerkriegs sind damit die ersten Urteile gegen Kriegsverbrecher ergangen. Und zum ersten Mal wurden ehemalige Kriegsherren dafür verurteilt, Kinder als Soldaten missbraucht zu haben. Man soll mit dem Adjektiv „historisch“ sparsam umgehen, aber dieses Urteil darf man durchaus als historisch bezeichnen. Das Strafmaß soll am 16. Juli verkündet werden. Die Angeklagten werden mit aller Wahrscheinlichkeit in die Berufung gehen.

Um selbige angemessen vorzustellen, muss man noch einmal die Buchstabensuppe der verschiedenen Kriegsfraktionen sortieren. Alex Tamba Brima, Santigie Borbor Kanu und Brima Bazzy Kamara zählten während des Kriegs zum Führungskader des „Armed Forces Revolutionary Council“, des „Revolutionsrates der Streitkräfte“ – kurz AFRC genannt. Dahinter steckten Angehörige der Armee um den Offizier Johnny Paul Koroma, die 1997 die gewählte Regierung von Sierra Leone gestürzt und sich dann mit den Rebellen der „Revolutionary United Front“ (RUF) verbündet hatten. (Zur Erinnerung: bei der RUF handelt es sich um jene Rebellentruppe, die vom ehemaligen Kriegsherrn und Präsidenten Liberias, Charles Taylor, mit Kämpfern, Waffen und Logistik unterstützt worden ist)

Auf dem medialen Gradmesser der Grausamkeiten rangierten die AFRC-Kämpfer etwas unterhalb der RUF-Rebellen – nicht unbedingt, weil sie weniger brutal waren, sondern weil der AFRC erst sechs Jahre nach Beginn des Krieges in Erscheinung trat. Doch die Anklageschrift ist in weiten Teilen identisch mit der gegen die Führer der RUF. Sie bezieht sich auf einen Tatzeitraum, in der beide Gruppen eine Allianz bildeten. Gegen die RUF-Führer wird in einem getrennten Prozess in Freetown verhandelt, der vermutlich erst Ende des Jahres abgeschlossen sein wird. In einem dritten Verfahren gegen die Anführer regierungsfreundlicher Milizen ist in den nächsten Wochen mit einem Urteil zu rechnen. Im Vergleich zu anderen internationalen Strafgerichten haben Julia Sebutinde und ihre Kollegen, aber vor allem auch die Ankläger ein flottes Tempo vorgelegt.

Der Besucherraum des Gerichtssaals war am Mittwoch bis auf den letzten Platz besetzt. Zwei Stunden lang lauschten die Zuschauer der Urteilsverkündung durch Richterin Sebutinde – darunter auch zahlreiche Überlebende jener Gewaltorgie, die die RUF zusammen mit dem AFRC 1999 in Freetown anrichtete. Damals wurden in einer „Strafaktion“ tausende von Menschen getötet oder verstümmelt, Frauen vergewaltigt, Kinder verbrannt. Gut möglich, dass auch Jussu Jarka und andere Mitglieder der Vereinigung der Zwangsamputierten im Saal waren, die zuletzt in diesem Blog zu Wort kamen. Wenn nicht, verfolgten sie in ihrer Siedlung den Radionachrichten, und man darf annehmen, dass ihnen bei der Meldung über den Schuldspruch wenigstens ein kurzes Gefühl der Genugtuung vergönnt war.

Was bleibt noch nachzutragen?

Johnny Paul Koroma, der Rädelsführer des AFRC, gilt bis heute als verschollen und ist wahrscheinlich tot. Seine Anhänger, von denen man noch einige auf Freetowns Straßen treffen kann, sind allerdings überzeugt, dass er irgendwann wieder auftauchen wird. Da es für sein Ableben keine Beweise gibt, wird die Anklage des Sondergerichts gegen ihn aufrecht erhalten.

Die ugandische Richterin Julia Sebutinde wird zusammen mit ihren Beisitzern für die die nächsten Monate nach Den Haag umziehen. Dort geht in wenigen Tagen der Prozess gegen Charles Taylor weiter. Ob der Angeklagte dieses Mal im Gerichtssaal erscheinen wird, weiß keiner.

Die marode Armee von Sierra Leone wird seit Kriegsende von britischen Militärs ausgebildet, wobei nicht nur der Umgang mit Maschinengewehr und Raketenwerfer, sondern auch die Genfer Konventionen auf dem Lehrplan stehen. Wie nachhaltig dieser Unterricht ist, bleibt abzuwarten. In Freetown tut die Militärführung jedenfalls etwas, um ihren ramponierten Ruf aufzubessern. „Die Armee hat kein Interesse mehr an Putschversuchen“, steht in großen Lettern auf Werbetafeln.

 

Die Macht der Beschneiderinnen

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Die Menschen in Sierra Leone haben vergangene Woche gleich zwei denkwürdige Ereignisse erlebt. Zuerst den –etwas missglückten – Prozessauftakt gegen Charles Taylor. Dann eine historische Sitzung im nationalen Parlament, an dessen Ende ein Gesetz gegen Kinderheirat verabschiedet wurde. Ab sofort gibt es ein Mindestalter: Die Braut muss mindestens 18 Jahre alt sein – der Bräutigam natürlich auch, aber um die Männer geht es hier nicht.
Mädchen im Alter von elf, zwölf oder dreizehn Jahren an 50 oder 60jährige Männer zu verheiraten, ist nicht nur in Afghanistan, sondern auch in einigen afrikanischen Ländern üblich. Bislang nannte man das in Sierra Leone „Tradition“, nun ist es zumindest laut Gesetz eine Straftat. Dabei dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass die „Tradition“ während des Krieges in Sierra Leone zum kollektiven Trauma geworden war: die Rebellen der „Revolutionary United Front“ (RUF) waren nicht nur berüchtigt für ihre Praxis, Zivilisten Arme und Beine abzuschlagen. Sie verschleppten auch tausende von jungen Mädchen als „bush wives“, als Kriegsbeute.
Das Bittere an dieser Erfolgsmeldung aus dem Parlament ist: im Entwurf des Gesetzes war auch das Verbot des Genitalverstümmelung vorgesehen – euphemistisch „Klitorisbeschneidung“ genannt. Dieser Absatz löste im Parlament heftige Diskussionen aus, in deren Verlauf sogar die Presse des Saales verwiesen wurde. Als die Journalisten wieder Einlass fanden, war die entsprechende Passage aus dem Entwurf gestrichen. „Für viele Politiker wäre es das Ende ihrer Karriere“, erklärte ein Abgeordneter dem britischen Nachrichtensender BBC, „wenn sie in der Öffentlichkeit einen Bann fordern würden.“
Möge ihnen der Himmel auf den Kopf fallen.
Aber mit frommen Wünschen ist den Betroffenen nicht geholfen. Bis zu 90 Prozent aller Mädchen und Frauen in Sierra Leone sind Opfer dieser Tortur geworden, was unter anderem die hohe Todesrate von Frauen im Wochenbett, die wachsende HIV-Infektionsrate und den erbärmlichen Gesundheitszustand so vieler Frauen erklärt. Doch genitale Verstümmelung gehört zur Inititation von Mädchen in die Welt der Erwachsenen. Traditionelle Frauenbünde, die „Bundu Societies“, richten das Ritual aus, die Beschneiderinnen (oftmals identisch mit den Hebammen) sind hoch angesehene Mitglieder der Dorfgemeinschaften. Mütter bestärken ihre Töchter, Großmütter ihre Enkelinnen – und sollte tatsächlich ein Mädchen den Mut haben, sich der Verstümmelung zu verweigern, muss sie sich auf ein Leben als Gebrandmarkte einrichten. Sie hat die eigene Gemeinschaft gedemütigt, ist auf dem Heiratsmarkt „verdorbenes Gut“, hat ihre Eltern damit auch um den dringend benötigten Brautpreis gebracht.
Nun könnte man meinen, dass der elfjährige Bürgerkrieg und die Umwälzungen der Nachkriegszeit die Macht der Tradition gebrochen haben. Zumal Sierra Leone im Jahre fünf des Wiederaufbaus immer noch einen kläglichen vorletzten Platz auf dem UN-Entwicklungsindex einnimmt (Rang 176 von 177 Ländern), was vor allem der hohen Müttersterblichkeit zuzuschreiben ist.
Doch offensichtlich ist die Tradition nicht schwächer sondern stärker geworden. Weil der Krieg auf dem Land alle modernen staatlichen Strukturen zerstört hat, sind die traditionellen Geheimgesellschaften als ordnende Kräfte wieder umso attraktiver geworden. Und sie sind ein Wirtschaftsfaktor innerhalb der Dorfgemeinschaft. Mehr Eltern haben nun wieder Zeit und Geld für die Initiationsrituale ihrer Kinder. An dieser „Friedensdividende“ verdienen nicht nur tausende von Beschneiderinnen, sondern auch die Dorfchefs, die einen Teil der Einnahmen kassieren.
Womit wir wieder bei der Politik wären. Eine Frau, die keiner Geheimgesellschaft angehöre und damit die herrschenden Traditionen in Frage stelle, habe als Politikerin keine Chance, sagt Zainab Bangura. Die muss es wissen. Sie war 2002 die einzige weibliche Gegenkandidatin des amtierenden Präsidenten Ahmed Tejan Kabbah. Bei der Wahl erhielt sie gerade einmal ein Prozent des Stimmen, nachdem das Gerücht umging, sie sei gegen die Klitorisbeschneidung. Das bestreitet sie übrigens vehement, obwohl sie als Mädchen bei ihrer eigenen „Beschneidung“ fast verblutet wäre. Die heutige First Lady, Patricia Kabbah, ging damals für ihren Mann bei den „Bundu Societies“ auf Stimmenfang, indem sie die „Beschneidung“ von 1500 Mädchen bezahlte. Am 11. August wird in Sierra Leone ein neuer Präsident gewählt. Man darf gespannt sein, wie die Kandidaten dieses Mal um die Unterstützung der „bundu societies“ werben.
Bleibt nun die Frage, wie dann überhaupt ein Gesetzesantrag zur Vorlage kommen konnte, der ein Verbot gegen Genitalverstümmelung enthielt. Die Antwort liegt in folgenden Namen: Olayinka Koso-Thomas, Rugiatu Turay, David Tambajoh – so heißen einige der Gynäkologinnen, Frauenrechtlerinnen und Journalisten, die noch während des Krieges in den 90er Jahren in der Hauptstadt Freetown die erste Kampagne gegen Genitalverstümmelung starteten. In Freetown leben vor allem Angehörige der Krio, Nachkommen befreiter Sklaven und die einzige ethnische Gruppen, die Genitalverstümmelung nicht praktiziert. Wie so vieles ist auch dieser Kampf ein Konflikt zwischen Stadt und Land. Noch ist das Land stärker als die Stadt. Viel stärker.

 

Der unsichtbare Angeklagte

Es sollte der nächste große Auftritt der internationalen Strafjustiz werden. In der Besuchergalerie des Gerichtssaals hatte das diplomatische Corps hinter kugelsicherem Glas Platz genommen. Vor dem Gerichtsgebäude drängelten sich die Übertragungswagen – und dann erschien die Hauptperson einfach nicht.
Charles Taylor zog es zur Eröffnung seines Prozesses Montag morgen vor, in seiner Zelle zu bleiben. Sein Wahlverteidiger Karim Khan erklärte den sichtlich verblüfften Richtern, Staatsanwälten und Zuschauern, sein Mandant werde solange nicht am Prozess teilnehmen, bis sein Anwaltsteam finanziell und personell besser ausgestattet sei. Dann legte der Jurist sein Mandat nieder. Dem folgte ein einstündiges multiethnisches Wortgefecht zwischen dem Briten Khan, der Vorsitzenden Richterin Julia Sebutinde aus Uganda, ihrem Beisitzer aus Samoa sowie dem amerikanischen Chefankläger. Alle Spielarten der englischen Sprache schwirrten durch den Saal – es sei denn, der sierraleonische Simultandolmetscher hatte versehentlich die Kopfhörer aller Anwesenden auf Krio geschaltet, was die kreolische Hauptsprache in Sierra Leone ist. Schließlich rauschte Taylors Verteidiger unter Protest und mit wehender Robe aus dem Saal, was ihm nachträglich noch ein Verfahren wegen Missachtung des Gerichts einbringen dürfte. Sage keiner, dass internationale Strafjustiz nicht unterhaltsam sein kann. Ob die Menschen in Sierra Leone, die den ersten Prozesstag am Radio oder auf großen Videoleinwänden verfolgten, das komisch fanden, darf allerdings bezweifelt werden.
Das Problem ist: der Prozess gegen den ehemaligen liberianischen Präsidenten gilt schon qua Prominenz des Angeklagten als ein Prüftstein für die globale Strafgerichtsbarkeit. Einen solches Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten und nur im Beisein eines Pflichtverteidigers zu führen, ist zwar möglich, macht aber – gelinde gesagt – keinen guten Eindruck.
Taylor ist der Kriegsverbrechen und Verbrechen in elf Fällen angeklagt, weil er die berüchtigste Rebellengruppe des sierraleonischen Bürgerkriegs mit Geld, Waffen und liberianischen Truppen unterstützt haben soll. Der Prozess vor dem internationalen Sondergericht in Sierra Leone war aus Sicherheitsgründen nach Den Haag verlegt worden, weil man befürchtet hatte, dass ein Verfahren in Freetown den fragilen Frieden in der Region hätte gefährden können. Taylor, das ewige Gespenst.
Nun zeichnet sich ein anderes Szenario ab: Taylor, der Unsichtbare. Der zweite Verhandlungstag ist für Ende Juni angesetzt. Dass die Anklagebank dann besetzt sein wird, ist unwahrscheinlich. Und am Montag abend wußte in Den Haag noch niemand so recht, wie es weitergehen soll.

 

Die Opfer des Charles Taylor

Sie hätten ihn gerne gesehen, wie er da sitzt auf der Anklagebank im makellosen Anzug, flankiert von Sicherheitsbeamten. Sie hätten gern erlebt, wie er, der selbstherrliche Schwadroneur, nur reden darf, wenn die Richterin ihm das Wort erteilt. Vielleicht hätte Charles Taylor irgendwann durch die kugelsichere Glasscheibe in den Zuschauerraum geblickt auf die Männer und Frauen aus Grafton, dem Dorf der Versehrten. Jussu Jarka, der zwei stählerne Greifhaken hat, wo andere Leute Hände haben, Edward Conteh mit seinem Armstummel, an den keine Prothese passt, oder Kadiatu Fofanah, die Frau ohne Beine. Sie hätten gern das Gesicht jenes Mannes studiert, der einst gesagt hat: „Auch Sierra Leone wird die Bitterkeit der Krieges schmecken.“
Eigentlich sollte der Prozess gegen den ehemaligen liberianischen Staatspräsidenten Charles Taylor heute in der sierra-leonischen Hauptstadt Freetown beginnen, in Saal II des internationalen Sondergerichts. Das Gericht liegt an der Jomo Kenyatta Road mitten in der Stadt, ein schön geschwungenes Gebäude, das von Weitem wirkt wie ein unbekanntes Flugobjekt: zwei Rundbauten, darüber ein Dach, dessen Hälfte wie Tragflächen gen Himmel ragen. Drumherum Dutzende von weißen Bürocontainern, eine Haftanstalt und Mauern mit Stacheldraht. Eine Festung mit eigener Stromversorgung, Sicherheitsschleusen und Cafeteria, in der Staatsanwälte aus den USA, Richterinnen und Richter aus Uganda, Sierra Leone, Samoa und Österreich in der Mittagspause anstehen. Außerdem Gefängniswärter aus Nordirland und Südafrika, Gerichtsdiener aus Großbritannien, Archivare aus Tansania. Für den militärischen Schutz sorgen Blauhelme aus der Mongolei. Ein Babylon des Völkerrechts mitten in Westafrika, errichtet mit Hilfe der Vereinten Nationen, um die Hauptverantwortlichen des elfjährigen Plünderkrieges in Sierra Leone zur Verantwortung zu ziehen. Acht ehemalige Rebellen- und Milizenführer sitzen derzeit in der Haftanstalt des Sondergerichts und warten auf ihre Urteile. Der neunte und prominenteste Angeklagte hat hier nur kurze Zeit eine Zelle belegt. Aus Sicherheitsgründen hat man den Prozess gegen Liberias Ex-Präsidenten Charles Taylor nach Den Haag verlegt. Ein Gerichtsverfahren in Westafrika, so die Befürchtung, könnte den immer noch fragilen Frieden in der Region gefährden, vor allem in Taylors Heimatland Liberia. „Das Gericht“, sagt Jussu Jarka, der Mann mit den Greifhaken, „wird schon wissen, was es tut“.Jussu Jarka
„Gewidmet den Opfern des Konflikts in Sierra Leone“, steht auf der Messingplakette am Eingang des Sondergerichts in Freetown. „Konflikt“ ist ein zu mildes Wort für das, was sich zwischen 1991 und 2002 in diesem Land abgespielt hat. Auch die Anklageschrift gegen Taylor gibt das Grauen nur unvollkommen wieder: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in elf Fällen – darunter „terroristische Akte gegen die Zivilbevölkerung“, „sexuelle Gewalt“, „Rekrutierung von Kindersoldaten“, „Verschleppung und Zwangsarbeit“. Die Täter waren Angehörige der „Revolutionary United Front“, eine Rebellengruppe angeführt von einem ehemaligen Hochzeitsfotografen namens Foday Sankoh. Die RUF rekrutierte massenweise Kindersoldaten in ihren „Small Boys Units“ und „Small Girls Units“. Andere Kinder wurden Einheiten zugeteilt, deren Namen ihre Spezialität des Tötens auswies: Es gab „Burn House Units“, es gab die „Born Naked Squad“, deren Opfer sich vor ihrer Ermordung nackt ausziehen mussten, oder die „Cut Hands Commandos“, die Zivilisten wie Jussu Jarka oder Kadiatu Fofanah Arme und Beine abschlugen. Taylor hatte die RUF finanziert und ausgerüstet, um in den neunziger Jahren eine ihm nicht genehme Regierung in Sierra Leone zu stürzen und sich Zugang zu den Diamantenvorkommen des Nachbarlandes zu verschaffen.
Der Fall Taylor ist nach dem Prozess gegen Slobodan Milosevic das zweite Gerichtsverfahren, in dem sich ein ehemaliges Staatsoberhaupt für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während seiner Amtszeit verantworten muss. Die Anklageerhebung allein ist ein Meilenstein in der Geschichte des Völkerstrafrechts und für den Grundsatz „Kein Frieden ohne Gerechtigkeit“. Die Frage ist nur: Reicht das, um den Überlebenden in Sierra Leone Genüge zu tun?
Dass das Sondergericht laut Mandat nur die „Personen mit der größten Verantwortung“ anklagen kann, war anfangs schwer zu vermitteln in einem Land, in dem jeder mindestens einen Ermordeten kannte – und im Zweifelsfall auch einen Mörder. Aber inzwischen hat sich herumgesprochen, dass hier ein Gericht der Straflosigkeit den Kampf angesagt hat. Es gibt in Sierra Leone kaum ein Dorf, das noch nicht von Vertretern des Sondergerichts über seinen Sinn und Zweck aufgeklärt worden ist. Nur kann ein internationales Gericht allein nicht die Gräueltaten und Traumata von elf Jahren Krieg aufarbeiten. Der Idealfall, sagt die österreichische Juristin Renate Winter, Richterin an der Berufungskammer des Sondergerichts, sei ein Dreieck, bestehend aus internationalem Tribunal zur Strafverfolgung der Hauptverantwortlichen, einer Wahrheits- und Versöhnungskommission zur Aufarbeitung und Dokumentation der Verbrechen sowie eine nationale Strafjustiz, die gegen die zweite, dritte oder vierte Garde der Kriegsverbrecher vorgeht. Von einer funktionstüchtigen nationalen Gerichtsbarkeit ist in Sierra Leone auch fünf Jahre nach Kriegsende fast nichts zu sehen; die Wahrheits- und Versöhnungskommission hat zwar einen in internationalen Fachkreisen hoch gelobten Abschlussbericht herausgegeben. Der aber hat in einem Land mit einer Analphabetenrate von 65 Prozent kaum Beachtung gefunden. Und dem internationalen Sondergericht wird zum Teil der eigene Erfolg zum Problem. Es war eine enorme logistische Leistung, innerhalb kürzester Zeit in einem kriegszerstörten Land ein funktionierendes Gericht aus dem Boden zu stampfen. Im Vergleich zu anderen internationalen Tribunalen ist das Sondergericht in Freetown eine karg ausgestattete Einrichtung. Gemessen an den Lebensumständen der meisten Einheimischen ist es eine Luxus-Oase mit eigener Strom- und Wasserversorgung. Die Angeklagten erhalten drei Mahlzeiten am Tag, werden ärztlich betreut, haben Zugang zu Fernseher und Fitnessgeräten. Im übrigen Land knurren die Mägen, es grassieren Malaria, Diarrhö, und wer Glück hat, kann sich für einen Becher Reis in den Diamantenfeldern den Rücken krumm schuften. „Kriegsverbrecher müsste man sein“, sagt Edward Conteh, ein bulliger 66-jähriger Großvater, der jeden Morgen Gott dafür dankt, dass er „mir einen starken Körper und acht afrikanische Söhne geschenkt hat“.
Conteh lebt heute mit anderen Schicksalsgenossen in Grafton, einer Art Vorstadtsiedlung für Versehrte, eine Autostunde von der Hauptstadt Freetown entfernt. Eine norwegische NGO hat ihnen Häuser gebaut. In einem Block haben sich die Blinden eingerichtet, daneben die Polio-Kranken und auf der anderen Seite der Hauptstraße die Amputierten. Hier draußen starrt sie keiner an, hier sind sie die „Normalen“. Jussu Jarka hatten RUF-Rebellen im Januar 1999 beide Unterarme abgeschlagen, weil er seine Tochter vor ihnen schützen wollte. Edward Conteh geriet in eine RUF-Patrouille, als er im belagerten Freetown Essen für seine Familie suchte. Dem alten Sorie schlug ein zwölfjähriger Kindersoldat die Hand ab, um sie mit anderen Trophäen in einer Plastiktüte seinem Kommandanten zu präsentieren. Und Kadiatu Fofanah hackte man beide Füße ab – als „Strafe“ für einen Fluchtversuch;Kadiatu Fofanah
Diese Geschichten erzählen sie sich in ihrer Siedlung heute wie Anekdoten aus einer Kneipenschlägerei. Man steht dann dabei und weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. „Mensch Sorie,“ sagt Conteh und haut seinem einarmigen Nachbarn auf die Schulter, „bei dir mussten sie drei Mal zuschlagen, bis der Arm ab war, so zäh bist du“. Das sei ihre Art, den Horror zu verarbeiten, sagt Conteh. Das und ihr Kampf für Entschädigung. Denn trotz ausdrücklicher Empfehlung der sierra-leonischen Wahrheitskommission haben die Kriegsverwundeten, Verstümmelten und Geplünderten bis heute keinen Cent erhalten. „Warum so viel Geld für die Auseinandersetzung mit den Tätern ausgeben“, fragen sie, „wenn die Opfer leer ausgehen?“
Einmal in der Woche fahren einige der Amputierten aus Gratfon mit dem Sammeltaxi in die Stadt, um zu betteln. Das Wohlwollen und die Spendenfreude der Leute hält sich in Grenzen. Sierra Leone ist ein bitterarmes Land, in der der tägliche Überlebenskampf mehr Platz einnimmt als die Aufarbeitung des Krieges. Mit ihren Prothesen und Stümpfen sind die Amputierten lebende Mahnmale, eine permanente Erinnerung an elf Jahre Wahnsinn – und nicht jeder will erinnert werden. Edward Conteh weigert sich zu betteln, er verdient sich ein bisschen Geld als Fotograf von Passbildern. „Die Hand darf halt nicht zittern.“
Das Geld für ein Sammeltaxi zum Prozess gegen Charles Taylor hätten sie schon irgendwie zusammengebracht. Aber der sitzt nun eben auf einer Anklagebank in den Niederlanden. Also warten die Amputierten in Grafton auf den Boten aus Freetown, der ihnen Videoaufzeichnungen der Verhandlung bringen wird. Das sehen sie sich dann im „Straßenkino“ an, einer jener Bretterbuden mit Fernseher, Generator und Bierausschank, in denen sonst nigerianische Seifenopern oder Kung-Fu-Filme gezeigt werden. Edward Conteh kann es bis heute nicht verwinden, dass Foday Sankoh, der RUF-Führer und Weggefährte Taylors, kurz nach Beginn seines Prozesses friedlich an den Folgen eines Schlaganfalls starb. Von Charles Taylor erhofft er sich mehr Durchhaltevermögen.
Der Angeklagte Taylor, so viel sei noch gesagt, gilt als mustergültiger Häftling. Er habe „vorzüglich kooperiert“, sagen die Wärter in Freetown. Auch aus Den Haag, wo Taylor nun neben dem Häftlingsblock des UN-Jugoslawien-Tribunals einsitzt, sind keine Klagen zu hören. Der ehemalige Präsident beschwere sich allerdings über die „eurozentrische Küche“ und mangelnde soziale Kontakte. Sein Verteidiger hat bei der Gefängnisleitung beantragt, seinen Mandanten während der Aufschlusszeiten mit den Häftlingen des UN-Jugoslawien-Tribunals zusammenzubringen. Wenn man den Berichten aus dem Gefängnisinneren trauen darf, haben diese hinter Mauern einen Mini-Kosmos jenes alten Jugoslawiens wieder aufleben lassen, das sie in den neunziger Jahren so gründlich zerstört hatten. Sie spielen zusammen Schach, tauschen beim Töpferkurs Kriegsanekdoten aus und lernen gemeinsam Englisch. Taylor hat in seinem Haftblock bislang nur Kontakt mit Thomas Lubanga, einem ehemaligen Warlord aus dem Kongo, der vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Rekrutierung von Kindersoldaten angeklagt ist. Taylor spricht englisch, Lubanga französisch. Folglich haben sich die beiden nicht viel zu sagen.

 

Frieden macht nicht satt – eine Reise zu den Diamantenfeldern von Sierra Leone

„Können Sie kaufen – für 20.000 Leones“, sagt der Mann und hält uns seine Handfläche entgegen. Darauf liegt, kaum grösser als der (allerdings beträchtliche) Dreck unter meinem Fingernagel, ein Rohdiamant. Der Mann ist Diamantensucher, aber er weiß nicht, wieviel sein Fund wirklich wert ist. Er will einfach nur etwas zu essen kaufen. 20.000 Leones – das sind umgerechnet sechs Euro. Oder zwei Wochen Vorrat an Reis, Cassava, Zwiebeln und Bananen für seine Familie.
Über zehn Stunden hat unsere Autofahrt von der Hauptstadt Freetown nach Tongo Fields im Diamantengebiet von Sierra Leone gedauert. Waschbrettpisten und Schlaglöcher mit dem Durchmesser von Klodeckeln erlauben oft nur Schneckentempo. Als Labsal für die Bandscheiben gestatten wir uns kurze Pausen in den Dörfern am Straßenrand. Überall ist Markttag, im Angebot ist das afrikanische Standardsortiment: Mangofrüchte, Flip Flops, Telefonkarten, Limonade und aufgebügelte Altkleider aus Europa. Manche Händler haben ihre Ware in den Fensterhöhlen zerschossener Häuser ausgelegt. Gleich nebenan decken Bauarbeiter neue Lehmhäuser mit Wellblechdächern, wieder ein paar Meter weiter legen Frauen die Wäsche über niedergebrannten Mauern zum Trocknen aus. Ruinen und Rohbauten – dieses Nebeneinander beschreibt den Zustand des ganzen Landes: fünf Jahre nach Kriegsende steckt Sierra Leone irgendwo zwischen Alptraum und Neuanfang. altkleiderhandel-in-ruinen.jpg
Kaum jemand in der westlichen Öffentlichkeit interessierte sich seinerzeit für diesen Konflikt, in dem 50.000 Menschen starben. Dank Hollywoods neuestem Polit-Thriller „Blood Diamond“ haben nun zumindest die Fans von Leonardo DiCaprio eine Ahnung, worum es damals (unter anderem) ging: um Sierra Leones riesige Diamantenvorkommen. Und um Rebellengruppen, die sich den Zugang zu diesen Bodenschätzen mit einer Terrorkampagne gegen Zivilisten sicherten. Zum Beispiel in den Tongo Fields.
Momoh Brima, ein Diamantensucher, hat sich bereit erklärt, uns seinen Arbeitsplatz zu zeigen. Ein Trampelpfad führt hinter seinem Dorf auf einen Hügel, links und rechts türmen sich Sandhaufen, als wäre eine Heerschaar Maulwürfe am Werk gewesen. Verlassene Diamantenfelder, umgepflügte, aufgerissene Erde mit brackigen Wasserpfützen. Hervorragende Brutplätze für Malaria-Mücken.
Plötzlich tut sich gigantisches Loch vor uns auf, eine Grube, gut fünfzehn Meter tief und zwanzig Meter im Durchmesser. Auf dem Grund schimmert giftgrünes Wasser. „Haben wir gegraben“, sagt Brima, ein schmächtiges Kerlchen mit einer charmanten Zahnlücke, „in drei Monaten. Mit nichts als Muskeln und Schaufeln.“
Die „digger“, die Gräber, füllen den Sand in Säcke, balancieren die Last auf dem Kopf nach oben. Ein ächzender Generator pumpt Wasser und Schlamm nach oben zu den „washers“, den Wäschern – 50, vielleicht 60 Männer, die mit gekrümmten Rücken den Schlamm aussieben. Ihre Augen sind auf das Drahtgitte fixiert, als könnte schiere Willenskraft die wertlosen Kiesel in Edelsteine verwandeln. Der Himmel ist strahlend blau, die Temperatur liegt bei über 30 Grad, es gibt kein Trinkwasser, keinen schattigen Unterstand. Und weit und breit keinen Arzt, falls einer der „digger“ in der Grube abrutscht und in die Tiefe stürzt. Berufsrisiko.
Diamantensucher in den Tongo Fields
Momoh Brima war 19 Jahre alt, als die Rebellen der „Revolutionary United Front“ (RUF) 1991 seine Heimatregion besetzten, um mit den Gewinnen aus dem Diamantenschmuggel ihren Krieg gegen regierungstreue Milizen zu finanzieren. Die Diamantenfelder wurden damals zu kleinen Gulags, die Gräber und Wäscher verrichteten Zwangsarbeit – es sei denn, sie waren rechtzeitig über die Grenzen nach Liberia oder Guinea geflohen. In den Tongo Fields hatten mal die Rebellen, mal die Milizen die Oberhand – und wer immer gerade eine Schlacht gewonnen hatte, zog danach plündernd und mordend durch die Dörfer. Brima und seine Kollegen in der Schlammgrube tragen die Bilder dieses Krieges mit sich herum: Mädchen und Frauen wurden vergewaltigt und als „bush wives“ verschleppt; zwangsrekrutierte Kinder mussten zur „Initiation“ in die Truppe die eigenen Eltern umbringen; Menschen wurden die Hände abgehackt, die Initialen der jeweiligen Rebellentruppe in die Haut gebrannt. Es gab Fälle von Kannibalismus.
Momoh Brima wollte sich „Blood Diamond“ neulich im Strassenkino ansehen, einer dieser Bretterbuden, in der Fußballspiele der englischen Premier League, nigerianische Seifenopern und Kung-Fu-Streifen gezeigt werden. Gleich zum Auftakt des Films überfallen Rebellen ein Dorf und verstümmeln Zivilisten. Brima ergriff die Flucht, lief hinaus auf die Strasse. „Das habe ich nicht ausgehalten“, sagt er und starrt in die riesige Grube.
Nach dem Krieg haben sich Momoh Brima und die anderen Männer zusammengeschlossen, das Geld für eine staatliche Schürflizenz zusammengekratzt, eine eigene „Verfassung“ für ihre Kooperative aufgesetzt und feierlich beschlossen, dass ab sofort jeder Arbeiter täglich zwei Tassen Reis und 500 Leones ausbezahlt bekommt. Das sind 15 Cent. Aus den 500 Leones ist nie etwas geworden, und die zwei Tassen Reis hat er zum letzten Mal vor drei Tagen erhalten. Die Zeiten, als man für Rohdiamanten nur eine Handbreit tief im Flussschlamm graben musste, sind vorbei. Heute müssen sich die Männer mit Schaufeln und blossen Händen immer tiefer in die Erde wühlen.
Die Ausbeute von einer Woche Schufterei
Diamanten aus Sierra Leone gelten heute als „konfliktfrei“, der Export läuft zum großen Teil legal. Doch das Geschäft lohnt sich nur noch für große Firmen mit schwerem Gerät. Internationale Konzerne kaufen immer mehr Schürfrechte auf, aber sie brauchen kaum Arbeitskräfte. Und von ihren Investitionen und lächerlich geringen Exportsteuern haben bislang allenfalls Politiker und traditionelle Dorfchefs profitiert, nicht aber die Bevölkerung.
Nichts als Schlamm
Der einzige, der an Brimas Grube reich wird, ist der Landbesitzer, ein älterer Mann mit zerrupftem Bart und dem traditionellen Titel eines „section chief“. Für die Nutzung des Geländes kassiert er saftige Gebühren. Gleich neben dem riesigen Loch beobachtet er aus einer schattigen Hütte die schweißüberströmten Männer. Er ist ihr Zwischenhändler, kauft ihnen alle Diamanten mit mindestens einem Karat ab. Mit den Arbeitern hat er dabei leichtes Spiel. Keiner der Gräber oder Wäscher weiss, den Wert eines Rohdiamanten einzuschätzen. Keiner kennt die Unterschiede in Klarheit, Konturen, Farbe. Momoh Brima hat eine vage Ahnung, dass Diamanten in Europa zu Schmuck verarbeitet werden. Aber er weiss nicht, dass die Steine, die sie hier nach wochenlanger Knochenarbeit für zwanzig, vielleicht auch fünfzig Euro an den „section chief“ verkaufen, in Paris, London oder Berlin für ein paar tausend Euro über den Ladentisch gehen.

Wir sind nach nicht einmal einer Stunde im Diamantenfeld dem Hitzschlag nahe. Schlamm verschmierte Männer haben einen Kreis um uns gebildet. Es hat sich herumgesprochen, dass wir keine Diamantenhändler sind, sondern Journalisten und NGO-Mitarbeiter. Die Männer bitten um Geld, sie brauchen neue Siebe, Medikamente für die Kinder. Einer versucht es mit einem ungeschliffenen Heiratsantrag: „Mädchen, Du gehörst jetzt mir!“ Wir treten den Rückzug an. „Lady“, ruft sein Kollege aus der Grube hinterher, „wie wär’s, wenn Sie uns wenigstens einen Bagger spenden? Oder ein bisschen Reis?“ Fünf Jahre Frieden – und sie sind noch nicht ein einziges Mal satt geworden.