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Erst bombardieren, dann wegschauen

Am 20. Oktober 2011 starb Muammar al-Gaddafi. Rebellen hatten den Diktator zu Tode gejagt. An dieser Jagd waren Kampfbomber der Nato beteiligt, bis zur letzten Minute halfen sie mit, Gaddafi zu erlegen.

Niemand weinte Gaddafi eine Träne nach. Libyen war vom Diktator befreit. Die Libyer wählten wenige Monate später ein Parlament. Das allein galt schon als Erfolgsnachweis. Der Westen war zufrieden – und wandte sich ab.

Und heute? Das Unglücksboot, bei dessen Untergang vor zwei Wochen vor der Insel Lampedusa mehr als 300 Menschen ertranken, kam aus Libyen — sehr wahrscheinlich aus der Hafenstadt Misrata. Das ist bemerkenswert. Denn diese Stadt war im Sommer 2011 mehrere Wochen von den Truppen Gaddafis belagert worden. In den westlichen Medien bekam sie wegen ihres Widerstandswillens eine Art Heldenstatuts. Gaddafi gelang die Eroberung Misratas nicht, weil die Nato mit ihren Kampfbomber es nicht zuließ.

Schließlich befreiten sich die Belagerten. Misrata wurde zu einem Symbol für den Aufstand gegen Gaddafi. Heute ist es eine Stadt, in der die Schlepper Millionen mit dem Menschenhandel verdienen können, ohne dass sie dabei gestört würden. Mit einem Schuss Zynismus kann man sagen: Die Nato hat den Gangstern den Weg freigeschossen, damit sie ihr Geschäft betreiben können. Und sie tat dies im Namen der Menschenrechte!

Auch Gaddafi betrieb Menschenhandel, allerdings auf staatlicher Ebene. Das machte ihn ein wenig berechenbarer. Im Jahr 2008 etwa schloss er ein Abkommen mit der damaligen italienischen Regierung, wonach Libyen alle Flüchtlinge, die von seinen Küsten nach Italien aufgebrochen waren, zurückzunehmen bereit war. Gaddafi ließ sich für diese Hilfspolizistendienst fürstlich entlohnen. Dieses Abkommen mit dem Diktator war schändlich und nutzlos.

Die libyschen Behörden setzten damals viele Flüchtlinge einfach in der Sahara aus und überließen sie ihrem Schicksal. Heute jedoch gäbe es niemanden, mit dem man irgendein Abkommen treffen könnte, denn Libyen hat keine zentrale Autorität mehr. Der Staat ist nahe dran, ein failed state zu werden – ein Somalia an der Mittelmeerküste.

Das ist ein Ergebnis des westlichen Zynismus, der im Gewand der Moral daherkommt. Die Nato intervenierte in Libyen unter dem Label der Schutzverantwortung – der Responsibility to Protect (R2P). Demnach darf die internationale Gemeinschaft nicht mehr tatenlos zuschauen, wenn in irgendeinem Land der Welt massiv Menschenrechte verletzt werden. Dann ist sie zum Handeln geradezu gezwungen. Als der Aufstand gegen Gaddafi im Februar 2011 losbrach und dieser hart zurückschlug, da bemühte man das R2P-Prinzip. Die Nato bombte.

Nur, danach tat sie nichts mehr. Der Westen schaute weg. Und was war mit den Menschenrechten? Die mussten jetzt woanders verteidigt werden, in Syrien zum Beispiel. Also zog der Westen weiter, um das nächste Land zu „retten“.

Libyen? War da noch was?

Ja, da war was. Aber wir haben es vergessen. Und jetzt holt es die Europäer ein, wie ein hartnäckiges Gespenst.

 

Iran und USA finden aus Schwäche zueinander

Der iranische Präsident Hassan Ruhani hat 15 Minuten lang mit Barack Obama telefoniert. Das ist der erste Kontakt zwischen den Staatschefs dieser beiden Länder seit 1979. Damals hatten iranische Studenten die US-Botschaft in Teheran gestürmt und besetzt. Die USA brachen die Beziehungen zu Iran an. Die beiden Staaten stehen sich seither in tiefer Feindschaft gegenüber.

Der Bruch zwischen diesen beiden Staaten hatte für den gesamten Nahen Osten weitreichende Konsequenzen. Bis zur Revolution im Jahr 1979 war Iran der engste Verbündete der USA in der Region – und es war nicht irgendein Verbündeter. Iran ist der größte Staat in der Region, der im Unterschied zu seinen Nachbarn eine ungebrochene Staatstradition hat. Der Iran war vor der Revolution eine selbstbewusste Ordnungsmacht. Nach der Revolution blieb nur mehr das Selbstbewusstsein einer großen Nation übrig. Aus der von den USA dominierten internationalen Ordnung hatte sich Iran selbst hinauskatapultiert. Für den aus einer Revolution geborenen Iran gab es keinen Platz mehr.

Kann es überhaupt einen geben? Kann die Islamische Republik eine Rolle ausfüllen? Bisher war die Antwort aus Washington immer klar: Nein! Das nun scheint sich gerade zu ändern. Obama ist offenbar bereit, dem Iran eine Rolle zuzugestehen. Warum?

Aus Schwäche.

Die USA sind nicht mehr in der Lage, den Nahen Osten zu gestalten. Das ist in Syrien spektakulär klar geworden. Obama benötigte die Hilfe Russlands, um im syrischen Labyrinth voller Gewalt nicht verloren zu gehen. Die USA brauchen also Partner.

Und warum öffnet sich Ruhani gegenüber den USA?

Ebenfalls aus Schwäche. Sein Land braucht dringend eine Lockerung der Sanktionen, denn sie treffen die iranische Wirtschaft hart. Ruhani ist von den Iranern auch gewählt worden, damit er ihr Land aus der Isolation führt. Das ist der Auftrag. Bisher scheint er dafür auch den Segnen des Obersten Religiösen Führers Irans, Ali Chomeini, zu haben.

Wir erleben also, dass zwei Staaten aus Schwäche zueinander finden. Und es kann sein, dass daraus etwas sehr Gutes entsteht.

Substanzielles ist bisher allerdings noch nicht geschehen. Es gibt Grund zum Misstrauen. Obama hat Recht, wenn er von den Iranern neben den all den schönen Worten auch Taten sehen will. Iran muss zum Beispiel mit der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) in Wien in völliger Transparenz zusammenarbeiten. Es muss klar werden, dass Iran keine Atomwaffenprogramm verfolgt. Ruhani behauptet das, und diese Behauptung kann er nun durch Fakten untermauern.

Obama seinerseits muss den Herrschern Teheran versichern, dass er keinen regime change in Teheran erreichen will, also keinen Sturz des islamischen Regimes.

Der Iran und die USA haben jedenfalls die günstigste Gelegenheit seit mehr als dreißig Jahren, ihre Beziehungen konstruktiv zu gestalten. Es besteht Hoffnung, dass diese Gelegenheit nicht ungenutzt vorüber gehen wird.

 

Sprachrohr des Systems

Die prominente iranische Menschenrechtlerin Nasrin Sotoudeh ist frei. Ein weiteres Dutzend politischer Gefangener wird aus dem Gefängnis entlassen. Der neue iranische Präsident Hassan Ruhani sagt, dass sein Land auf keinen Fall „eine Atombombe bauen will“. Gleichzeitig tauscht er einen Brief mit Barack Obama aus, dem Präsidenten des „Satans“ USA. Und er bietet sich als Vermittler im Syrienkonflikt an. Es vergeht derzeit also kein Tag, an dem nicht erstaunliche Nachrichten aus Teheran zu vernehmen sind.

Ist Ruhani deswegen der Reformer, der den Iran öffnen wird? Ist er der Mann, auf den der Westen seit Jahren schon vergeblich wartet?

Vorsicht ist angebracht. Hassan Ruhani ist ein Mann des Systems, er war es sein Leben lang. Es ist nicht davon auszugehen, dass er dieses System fundamental ändern will. Er ist kein Revolutionär, sondern – wenn überhaupt – ein Reformer. Ruhani will die Islamische Republik Iran den gegenwärtigen Bedingungen anpassen.

Iran steht außen- wie innenpolitisch unter großem Druck. Die UN haben den Iran wegen der Nuklearfrage schmerzhafte Sanktionen auferlegt. Sie sind zumindest zu einem Teil die Ursache für die tiefe wirtschaftliche Krise, in der sich das Land heute befindet. Das iranische Volk sehnt sich nach einer Normalisierung der Verhältnisse. Ruhani hat die Wahlen gewonnen, weil er genau das versprach.

Mehr Dialog mit dem Rest der Welt, mehr Freiheit im Inneren. Das ist die Antwort, die Ruhani gibt. Man muss sie ernst nehmen, gerade weil Ruhani ein Mann des Systems ist. Denn es ist das System, das durch diesen Präsidenten eine Verständigung zu suchen scheint.

Die entscheidende Frage ist: Wie weit kann Ruhani mit der Liberalisierung gehen, ohne dieses System dabei zu gefährden? Wie viel Liberalisierung kann die Islamische Republik Iran überhaupt vertragen?

Die Antwort darauf wird man nur bekommen können, wenn der Westen Ruhanis Avancen nicht rundweg ablehnt. Die Öffnung muss befördert werden. Und dann werden wir sehen, wie viel davon der Iran verträgt.

 

Der Antagonist als Partner

Die USA und Russland haben ein Chemiewaffenabkommen zu Syrien geschlossen. Ein Abkommen, das fast durch die Bank eine schlechte Presse bekommen hat: Es sei undurchführbar, es legitimiere den Schlächter Assad und es sei außerdem ein Verrat an den Rebellen. Das mag alles sein. Es stimmt aber auch, dass zum ersten Mal in Sachen Syrien etwas in Bewegung geraten ist. Bisher war noch jede diplomatische Initiative im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gescheitert – am Widerstand der Russen und der Chinesen. Doch jetzt haben sich nicht nur Amerikaner und Russen geeinigt, sondern es gibt auch noch einen Sonderapplaus aus Peking.

Plötzlich muss man sich eine Frage stellen, die in all dem Kriegsgetöse untergegangen ist: Könnte es sein, dass der Krieg in Syrien doch auf diplomatischem Weg beigelegt werden kann? Wenn es gelänge, wäre es zwar ein weiter Weg dahin. Doch zumindest ist es jetzt Zeit anzuerkennen, dass zwei der wichtigsten Akteure in Syrien – die USA und Russland – sich zusammengefunden haben. Dafür gibt es drei Gründe: Die USA sind kriegsmüde, Russland will zeigen, dass es in Nahost entscheidend mitspielen kann und beide zusammen haben keinerlei Interesse daran, dass Chemiewaffen eingesetzt werden.

Nicht nur in Washington, sondern auch in Moskau dürfte die Giftgasattacke in der Ghuta-Ebene bei Damaskus einen erheblichen Schrecken erzeugt haben. Beide Staaten fürchten, dass die C-Waffen in die Hände von islamistischen Extremisten geraten können. Denn nicht nur die USA haben ein Problem mit Extremisten, auch Russland hat mit islamistischem Terror aus und in Nordkaukasus-Republiken wie Dagestan oder Inguschetien zu kämpfen.

Das jetzt getroffene Abkommen nutzt Assad und es schadet den Syrern, die gegen ihn kämpfen. Das ist auf den ersten Blick richtig. Doch würde das Abkommen wirklich in die Tat umgesetzt, verliert Assad seine Chemiewaffen – und ein Diktator ohne diese fürchterliche Waffe ist besser als ein Diktator mit ihr. Schließlich gilt auch, dass Russlands Putin an Assad aus rein taktischen Gründen festhält. Er stützt ihn, weil er Russlands Position im Nahen Osten nicht verlieren will, nicht, weil er Assads überzeugter Anhänger ist. Wenn es andere Möglichkeiten gibt, dieses Ziel zu erreichen, dann werden die Russen Assad fallen lassen.

Putin ist deswegen noch lange keine Freund des Westens, sondern er ist ein Antagonist. Er ist schon gar nicht eine Friedenstaube. Er kalkuliert kalt. Möglich, dass aus dieser Kälte Frieden entsteht – als fragiles Nebenprodukt.

 

Kein Krieg ohne Koalition

Wer Chemiewaffen einsetzt, muss dafür bestraft werden. Die Frage aber ist: Wer straft mit welchen Mitteln? Die Vereinten Nationen können das höchste Maß an Legitimation für eine wie auch immer geartete Intervention bieten. Doch der UN-Sicherheitsrat findet schon seit zweieinhalb Jahren keine einheitliche Linie zu Syrien. Auch nach dem Chemiewaffeneinsatz von Damaskus bleibt der Sicherheitsrat tief gespalten. Russland stützt seinen Verbündeten, den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, die USA wollen ihn loswerden.

Die UN als Legitimationsquelle für eine militärische Intervention fallen also zum jetzigen Zeitpunkt aus. Der amerikanische Präsident Barack Obama ist entschlossen, auch ohne ein Mandat der UN zu handeln. Das ist nicht nur völkerrechtswidrig, sondern politisch äußerst problematisch. Wer Krieg führen will,  muss sich um eine möglichst breite Koalition bemühen. Präsident George H. W. Bush senior hat das im Irakkrieg des Jahres 1991 vorgemacht. Der irakische Diktator Saddam Hussein hatte damals Kuwait besetzt. Bush senior scharte fast die ganze Welt hinter sich und vertrieb dann Saddams Truppen aus Kuwait. Dieser amerikanische Feldzug war politisch abgesichert und darum relativ erfolgreich.

George W. Bush junior nahm sich an seinem Vater kein Beispiel. Er brach 2003 den Irakkrieg vom Zaun, gegen erheblichen Widerstand hatte er ihn durchgezogen. Damals glaubten die USA, dass militärische Überlegenheit allein genügt. Die Führungsmacht des Westens leidet bis heute unter den Folgen dieses Irrglaubens.

Obama ist nicht George W. Bush junior. Er ist nicht machttrunken. Auch deswegen zögert er und versucht, Verbündete zu finden. Bisher mit mäßigem Erfolg. Nur Frankreich ist bereit, mit den USA militärisch in Syrien einzugreifen. Die restlichen europäischen Regierungen sagen zwar, dass der Chemiewaffeneinsatz Konsequenzen haben muss, aber einen militärischen Schlag wollen sie nicht unterstützen. Auch im Nahen Osten findet Obama kaum Unterstützer. In der Region hat sich nur die türkische Regierung bereit erklärt, aber die Mehrheit der türkischen Bevölkerung ist dagegen.

Obama will Assad trotzdem bestrafen. Er geht davon aus, dass er für den Chemiewaffenangriff verantwortlich ist, auch wenn das noch nicht einwandfrei bewiesen ist. Syrien hat das Genfer Protokoll aus dem Jahr 1925 unterschrieben, das den Einsatz von Chemiewaffen verbietet. Das rechtfertigt Sanktionen.

Die USA treten also als Strafinstanz auf, die im Zweifel auch allein losschlagen will. Militärisch sind sie dazu in der Lage. Das kann man Führungskraft nennen, doch in diesem Fall ist es ein Ausdruck von Schwäche. Die USA sind immer dann am stärksten gewesen, wenn sei beides hatten: eine schlagkräftige Armee und überzeugende Argumente.

Der Einsatz von Chemiewaffen muss Konsequenzen haben. Die politischen Bedingungen für eine militärische Intervention aber sind nicht gegeben. Der Krieg in Syrien ist ein Stellvertreterkrieg. Russland und Iran unterstützen Assad, Saudi-Arabien, die Türkei und die USA unterstützen die Rebellen. Greift Obama ein ohne Zustimmung der UN oder ohne die Unterstützung durch eine sehr breite Koalition, dann provoziert er eine direkte Antwort der Verbündeten Assads. Dann kann dieser Krieg völlig außer Kontrolle geraten.

 

Kriegseinsätze in die Parlamente

Es ist leicht in Deutschland über das Für und Wider einer kriegerischen Intervention zu streiten – denn wie auch immer die Debatte ausgeht: Die Deutschen zahlen keinen oder einen vergleichsweise geringen Preis für den Krieg. So sehr sich Befürworter und Gegner einer Intervention in Syrien derzeit auch in den Haaren liegen mögen, so sehr sind sie in diesem Wissen vereint. Der größte deutsche Pazifist ist ein Ohnemichl und der größte deutsche Krieger ein Papierkrieger. Was wir hier erleben ist also die Simulation einer Debatte.

Das ändert sich gerade eine wenig, Dank des amerikanischen Präsidenten Barack Obama. Er nämlich hat entschieden, den Kongress über eine Intervention in Syrien beraten zu lassen. Seitdem erleben wir Unerhörtes, eine öffentliche, breite, intensiv geführte Auseinandersetzung über einen möglichen Kriegseinsatz. Und sie ist nicht auf die USA beschränkt. Selbst Frankreichs Präsident François Hollande versucht jetzt in der Nationalversammlung, einen Konsens zu finden, Großbritanniens Premier Cameron hat es bereits getan, mit dem bekannten Ergebnis.

Wir erleben also eine Demokratisierung der Kriegsentscheidung. Das ist eine Folge des Irakkrieges, der nicht nur mit Lügen begründet,  sondern gegen jeden Widerstand durchgezogen wurde. Man sollte daran erinnern, dass im Jahr 2003 weltweit Millionen Menschen gegen den Irakkrieg demonstriert hatten. Sie wurden damals von einem machttrunkenen Amerika missachtet, ebenso wie von vielen europäischen Regierungen, die glaubten mit den USA in den Krieg ziehen zu müssen.

Barack Obama hat daraus die Konsequenzen gezogen. Er sucht Unterstützung, nicht nur in den USA. Das ist ein unerhörter Schritt, der auch für die deutsche Debatte Konsequenzen haben wird. Die Frage steht heute in einer ganz anderen Körperlichkeit in den deutschen Wohnzimmern, sie ist drängend und fordernd.

Es ist jetzt nicht mehr so einfach, „dagegen“ oder „dafür“ zu sein, denn Obama hat den Raum für eine politische Debatte geöffnet. Freilich, er wird in seiner Eigenschaft als Präsident letztlich die Entscheidung über einen Kriegseinsatz treffen. Doch bis dahin werden die Argumente öffentlich abgewogen, bis dahin darf man das Gefühl haben, den Gang der Ereignisse zu beeinflussen zu können – auch in Deutschland.

 

Giftgas ist keine Waffe unter vielen

100.000 Menschen sind im syrischen Bürgerkrieg ums Leben gekommen. Das hat zu keiner militärischen Intervention des Westens geführt. Jetzt sind rund 1.500 Menschen in Damaskus durch den Einsatz von Giftgas gestorben. Und plötzlich will Barack Obama eine Intervention. Sind denn 100.000 Tote nicht etwa entsetzlicher als die knapp 1.500 Opfer des Gases, wie David E. Sanger in der New York Times schreibt?

Diese Logik unterstellt, dass es egal ist, durch welche Waffe man ums Leben kommt. Das mag für die Toten gelten, aber nicht für die Lebenden. Das hat der amerikanische Präsident erfasst. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob Menschen durch Giftgas getötet werden oder durch konventionelle Waffen. Giftgas ist ein Massenvernichtungsmittel. Sicher, auch Bomben und Geschosse töten massenweise Menschen. Das geschieht gerade in Syrien. Doch sie sind nicht als Massenvernichtungsmittel konzipiert worden. Giftgas allerdings schon. Dieses Kampfmittel ist dazu entwickelt worden, alles Menschliche auszulöschen, egal ob es Soldaten oder Zivilisten sind. Es ist ein Instrument des Terrors. Der Einsatz von Giftgas ist aus gutem Grunde durch eine Reihe von internationalen Abkommen verboten.

Chemische Kampfstoffe haben nicht nur eine verheerende Wirkung, sie sind auch relativ einfach herzustellen. Die japanische Sekte Ōmu-Shinrikyō etwa verübte 1995 in der Tokioter U-Bahn ein Attentat mit Senfgas. Dabei kamen 13 Menschen ums Leben, Tausende wurden verletzt. Ōmu-Shinrikyō hatte das Gift vermutlich selbst zusammengebraut. Fast alle Staaten der Welt haben das Abkommen zum Verbot chemischer Kampfstoffe unterschrieben, weil sie auch die Sorge haben, die Verbreitung dieser Waffen nicht anders kontrollieren zu können.

Vor allem aber verletzt der Einsatz von Giftgas einen symbolischen Raum. Wer es in welchem Konflikt auch immer gebraucht, behandelt Menschen wie Ungeziefer. Wer es einsetzt, hat den Gipfel der Unmenschlichkeit erreicht.

Wie man darauf reagiert, darüber wird gerade diskutiert. Und es ist gut und richtig, dass sich Obama dafür Zeit genommen und den Kongress in die Entscheidung mit einbezogen hat. Doch man kann nicht so tun, als sei Giftgas eine Waffe unter vielen. Wer das behauptet, der muss die Sache zu Ende buchstabieren: Der muss sagen, dass wir künftig in einer Welt leben werden, in der man Chemiewaffen ungestraft einsetzen kann.

 

Bomben auf Syrien sind das Ende des moderaten Iraners Rohani

Der Westen wird einen Militärschlag in Syrien führen. Das scheint sicher. Welche Folgen diese Intervention hat, ist sehr schwer vorauszusehen, da es in Syrien eine ganze Reihe von Akteuren gibt. Dazu gehören nicht nur das Regime Assads und die zahlreichen Rebellengruppen, es zählen auch regionale Mächte dazu wie Iran, Saudi Arabien, die Türkei und Israel – sowie Russland und die USA. Wenn der Westen eingreift, dann verändert sich die Lage und wir wissen nicht, wie alle diese Akteure reagieren werden. Anders gesagt: Die Risiken eines Militärschlages sind zu weiten Teilen unkalkulierbar.

Eines allerdings kann man jetzt schon sagen: Bombardieren die USA Syrien, dann sind die Nuklearverhandlungen mit dem Iran tot. Damit verschärfen sich die Spannungen mit dem größten Land des Mittleren Ostens. Ein Krieg gegen den Iran rückt damit als Folge einer Intervention in Syrien näher, denn Israel und die USA haben immer wieder betont, dass sie einen nuklear bewaffneten Iran nicht tolerieren werden. Der Iran ist aber nicht nur einer der mächtigsten Staaten der Region, er ist auch einer der wenigen, die noch stabil sind. Von Tunesien über Ägypten bis in den Irak spannt sich derzeit ein Bogen der Instabilität.

Das „iranische Opfer“ einer westliche Intervention in Syrien hat einen Namen: Hassan Rohani. Der am 3. August vereidigte neue Präsident Irans hat viele Hoffnungen geweckt, im Iran wie auch im Westen. Er hat in seinem Wahlkampf immer wieder betont, dass er die Nuklearkrise lösen möchte. Er hat dies zu einer Priorität seiner Politik gemacht.

Nun ist Rohani gewiss eine Mann des Systems, doch er ist von einer Mehrheit der Iraner gewählt worden. Und der Wählerauftrag an ihn ist klar: Beende die internationale Isolation unseres Landes!

Wenn US-Raketen auf Damaskus niedergehen, dann wird Rohani keinen Weg mehr finden können, mit den USA zu reden. Das Syrien Assads ist nämlich ein enger Verbündeter Irans. Und Iran hat den Westen immer wieder eindringlich vor dem Eingreifen gewarnt. Selbst wenn Rohani auch im Falle eines Militärschlages immer noch mit dem Westen reden wollte, er könnte nicht mehr. Denn täte er es, würden ihn die Hardliner im eigenen Land in die Zange nehmen. Bomben auf Syrien machen aus Rohani eine lahme Ente – nicht einmal einen Monat nach seinem Amtsantritt. Das ist ein dramatischer politischer Kollateralschaden.

Nun werden Hardliner sagen, dass dieser Schaden nicht ins Gewicht falle, weil Teheran ohnehin nicht ernsthaft verhandeln wolle. Doch das ist eine zweifelhafte Behauptung.

 

 

Kind des Westens

Wenn wir zur Zeit auf die arabischen Länder blicken, dann vor allem nach Ägypten, nach Syrien oder nach Tunesien. Nicht aber nach Libyen. Das ist verständlich, denn Libyen ist für die Zukunft des Arabischen Frühlings nicht entscheidend, Ägypten und Syrien sind es schon.

Dennoch hat der libysche Fall eine Besonderheit, die schwer wiegt: Es ist der einzige Staat, in dem der Westen militärisch aktiv eingegriffen hat. Nato-Kampfbomber waren die Luftwaffe der Rebellen. Sie haben den Diktator Muammar al-Gaddhafi zur Strecke gebracht. Das heutige Libyen ist ein Ergebnis westlicher Intervention — es ist ein Kind des Westens. Schon allein darum gebührte ihm mehr Aufmerksamkeit.

Also schauen wir, wie es dem Land geht, was sich dort in den vergangenen zehn Tagen ereignet hat.

Am 27. Juli erschoss ein Attentäter in der ostlibyschen Stadt Bengasi Abd al-Salam al-Musmari. Der Rechtsanwalt war einer der Führer des Aufstandes gegen Gaddhafi. Nach dessen Sturz wurde Al-Musmari zu einem scharfen Kritiker der bewaffneten Milizen wie auch der Regierung. Nach dem Attentat auf Al-Musmari stürmten Hunderte aufgebrachte Männer das Büro der Muslimbrüder im Bengasi. Am Samstag darauf flohen fast 1.200 Häftlinge aus dem Gefängnis der Stadt, Bewaffnete sollen ihnen die Flucht ermöglicht haben. Am Sonntag explodierten in Bengasi vor zwei Gerichtsgebäuden Kofferbomben und verletzten 43 Menschen.

Nicht viel besser ist es in der Hauptstadt Tripolis. Am Donnerstag gab das Innenministerium bekannt, es habe 12 Bomben vor dem Radisson Hotel entschärft. Am 25. Juli wurde die Botschaft der Vereinigten Arabischen Emirate angegriffen. Zwei Tage davor schlug eine Rakete zwischen einem Appartementhaus und dem Hotel Corinthia ein, wo viele internationale Unternehmen ihren Sitz haben, zudem liegen dort die britische und kanadische Vertretung. Die USA und Großbritannien haben ihr Botschaftspersonal bereits abgezogen. Die Nato bezeichnet Libyen heute als das größte offene Waffenarsenal der Welt.

Es ist also ein Bild des Schreckens, das dieses Land bietet.

Hätte man wissen können, dass es so kommt? Die Antwort lautet leider: ja. Es gab reichlich Stimmen, die davor warnten, dass es bei einem Sturz Gaddhafis zu einer lang anhaltenden Instabilität kommen werde, die in die gesamte Region ausstrahlen wird.

Wäre es also besser, wenn Gaddhafi noch an der Macht wäre? Die Frage zu stellen, ist müßig, denn im Frühjahr 2011 brach ein Aufstand gegen den Diktator aus. Nach mehr als einem halben Jahr des Kampfes stürzte Gaddhafi.

Die Frage, die man sich angesichts der Lage in Libyen aber vorlegen muss, lautet: War die militärische Intervention des Westens sinnvoll? Was kann man daraus für die Zukunft lernen?

Die Befürworter werden sagen: „Ja, sie war sinnvoll, denn es ist Schlimmeres verhindert worden!“ Hätte der Westen nicht interveniert, so das Argument, hätte Gaddhafi den Aufstand niedergeschlagen. Man warf ihm genozidale Absichten vor und zitierte die schuldhafte Untätigkeit des Westens in Ruanda im Jahr 1994. Damals fielen rund 800.000 Menschen einem Völkermord zum Opfer.

Der Vergleich mit Ruanda war immer überzogen. Er sollte aber eine Intervention rechtfertigen. Vermutlich wäre es ohne westliche Intervention zu einem Abnutzungskrieg zwischen Rebellen und Gaddhafi gekommen – so, wie wir ihn jetzt seit mehr als zwei Jahren in Syrien erleben.

Die Gegner einer Intervention sagen: „Nein, die Intervention war nicht sinnvoll, weil sie Libyen in einen gefährliches, instabiles Land verwandelt hat!“ Dieses Argument ist nur teilweise richtig. Sobald der Aufstand ausgebrochen war, konnte Gaddhafi keine Stabilität mehr garantieren.

Aus der schlimmen Lage, in der sich Libyen befindet, muss der Westen folgende Lehre ziehen: Er sollte nur intervenieren, wenn er sicher sein kann, dass er die Folgen seines Handelns einigermaßen kontrollieren und die Zeit nach der Intervention wesentlich mitgestalten kann. Das ist für Libyen offenbar nicht Fall, und für den Irak und Afghanistan auch nicht.

 

Moskaus kaltes Syrien-Kalkül

Baschar al-Assad scheint derzeit im syrischen Bürgerkrieg die Oberhand zu gewinnen. Zumindest über wichtige Teile Syriens. Das kommt für viele Beobachter überraschend. Als der Aufstand gegen den Diktator vor mehr als zwei Jahren begann, rechnete kaum jemand damit, dass er lange wird bestehen können. Das war eine Fehlkalkulation. Wie konnte das passieren?

Ein Schlüssel für Assads „Erfolg“ liegt in Teheran. Iran hat vom ersten Tag des Konfliktes an klar gemacht, dass man alles tun werde, um den Verbündeten in Damaskus zu halten. Den Krieg gegen Assad versteht das Regime in Teheran als existenzielle Bedrohung. Es schickt Waffen, Militärberater und Kämpfer nach Syrien.

Die bedeutendere Schutzmacht des Assad-Regimes ist aber Russland. Bis vor Kurzem erschienen Moskaus viele Njets in Sachen Syrien wie die lästigen Begleitgeräusche einer ehemaligen Supermacht, die ihren Abstieg nicht verwunden hat – lautes Bellen, aber kein Biss. Doch Moskau hat zugebissen, zuletzt mit der Ankündigung, dem Assad-Militär weiterhin die hypermodernen Jachont-Raketen zu liefern.

Das war ein Affront gegen den Westen. Jachont-Raketen wirkten wie ein Abschreckungsmittel. Der Westen sollte begreifen, dass ihm eine Intervention in Syrien einen hohen Preis abverlangt. Und den Preis bestimmt Moskau wesentlich mit. Das war zwar dreist, aber erfolgreich. Der Kreml bestimmt zum jetzigen Zeitpunkt das diplomatische Spiel um Syrien.

Der Westen hat keinen Plan für Syrien und gleichzeitig Skrupel. Zum einen davor, Waffen zu liefern, weil sie in die Hände von Dschihadisten geraten könnten. Und zum anderen davor, selbst Soldaten in ein unberechenbar gefährliches Kriegsgebiet zu schicken. Das ist der Grund für Russlands derzeitige „Stärke“ im Syrienkrieg. Der russische Präsident Wladimir Putin weiß genau, was er in Syrien will. Er ist bereit, ohne jede Rücksicht seine Ziele durchzusetzen. Auch gemeinsam mit dem Iran.

Moskau fühlt sich vom Westen seit Jahren gedemütigt und zurückgedrängt. Syrien ist die Gelegenheit, um nun deutlich zu sagen: „Bis hier und nicht weiter!“ Das heißt nicht, dass Russland Assad auf Dauer und um jeden Preis stützen wird. Es soll aber klar werden, dass es gegen den Willen Russlands keine Lösung geben kann. Um in diese Position zu kommen,  haben sie Assad politisch, diplomatisch und militärisch unterstützt. Man kann mit gutem Recht sagen, dass Waffenlieferungen an den Diktator Assad verbrecherisch sind – doch aus Moskauer Sicht waren sie politisch erfolgreich.