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Teherans politische Prioritäten

Erhalten die Inspektoren der UN Zugang zu der iranischen Atomanlage Fordo oder nicht? Das ist eine der entscheidenden Fragen bei den Verhandlungen der fünf UN-Vetomächte und Deutschlands (5+1) mit dem Iran. Sie wurden jetzt in Bagdad ergebnislos beendet und werden am 18. Juni in Moskau fortgesetzt. Etwas überspitzt könnte man sagen: An der Fordo-Frage hängt die Entscheidung über Krieg oder Frieden. Andere Optionen scheint es nicht mehr zu geben. Ein Ölembargo hat der Westen bereits beschlossen. Es wird Anfang Juni in Kraft treten. Das ist die schärfste Waffe vor dem Krieg.

Der Westen hat sich zum Gefangenen seiner eigenen Rhetorik und Politik gemacht. Er hat sich in die Sackgasse manövriert, weil er in den letzten zehn Jahren – so lange dauern die Verhandlungen über die Nuklearfrage mit dem Iran – seine Politik gegenüber Teheran auf ein Thema verengt hat: verhindern, dass das Regime eine Bombe baut. Er hat das gesamte diplomatische Gewicht auf diesen Punkt konzentriert. Die Hoffnung war und ist nach wie vor, dass dies der weiche Punkt Irans ist.

Nur hat die Gegenseite nicht nachgegeben, bis heute. Denn spiegelbildlich zur westlichen Politik hat auch der Iran seine ganze Kraft darauf verwendet, den Druck an dieser Stelle abzuwehren. Mehr noch: Das Regime hat die Nuklearverhandlungen erfolgreich zu einer Frage des nationalen Prestiges hochstilisieren können.

Dabei hätte man mit dem Iran über vieles noch reden können – über Afghanistan, über den Irak, über Syrien, über den Libanon. In all diesen Ländern hat der Iran erheblichen Einfluss. Doch über solche Themen zu sprechen, hätte bedeutet, Teheran als Ordnungsmacht im Nahen Osten zu akzeptieren. Das aber wollte man nicht. Möglich wäre es aber gewesen, denn der Iran hat bei mehreren Gelegenheiten seine Bereitschaft zur Kooperation gezeigt.

Als es beispielsweise in Afghanistan gegen die Taliban ging, spielte der Iran eine konstruktive Rolle. Selbst im Krieg gegen Saddam Hussein hätte man dem Iran ein anderes Verhalten ermöglichen können. Doch dieser Krieg wurde auch unter dem Motto geführt: Der Weg nach Teheran führt über Bagdad. Was auch immer der Westen in 30 Jahren im Nahen Osten getan hat, Teheran ist der ultimative Preis seiner nahöstlichen Politik geblieben: der Sturz des Regimes. Das hat man in Teheran verstanden.

Es wäre nun aber durchaus falsch, Iran als Opfer westlicher Politik darzustellen. Denn Teheran hat sich selbst zum Paria der internationalen Gemeinschaft gemacht. Die fortgesetzten Drohungen gegenüber Israel machen es unmöglich, Teheran als Ordnungsmacht zu akzeptieren. Israel muss sicher sein. Das ist die Grundbedingung nahöstlicher Politik des Westens. Die Frage ist, wie zentral für das Regime seine Politik gegenüber Israel ist. Tatsache ist, dass die islamische Revolution die Feindschaft gegenüber Israel in seine Gene eingeschrieben hat. Das kann man nicht bestreiten. Israel ist der Todfeind der Islamischen Republik Iran.

Doch Teheran hat seit dem Tod Ajatollah Chomeinis (1989) und seit dem Ende des Iran-Irak-Krieges (1988) eine Politik betrieben, die im wesentlichen von Pragmatismus gekennzeichnet war. Es gibt zwei Prioritäten für die Herrscher in Teheran. Erstens: Wir wollen um jeden Preis an der Macht bleiben. Zweitens: Wir wollen als Ordnungsmacht akzeptiert werden. Die Feindschaft gegenüber Israel ist funktional zu diesen beiden Prioritäten, sie ist Mittel zum Zweck. Sie ist nicht zentraler Bestandteil der Außenpolitik, auch wenn die bedrohliche Rhetorik aus Teheran anderes nahelegt.

 

Nützt es dem Iran, eine Atombombe zu besitzen?

Die Welt hat viele gute Gründe, den Iran am Bau von Atomwaffen hindern zu wollen. Was oft in Vergessenheit gerät: Auch für den Iran selbst ist der Besitz einer Atombombe nicht sinnvoll und sogar schädlich. Aus vier Gründen kann das Land kein Interesse an Nuklearwaffen haben.

Der Iran riskiert einen Krieg. Die USA und Israel haben klargemacht, dass sie einen nuklear bewaffneten Iran nicht akzeptieren werden. Israel droht offen mit einem Militärschlag, die USA schließen ihn nicht aus. Der Iran würde eine Intervention zwar überstehen, aber die Zerstörung wäre beträchtlich. Das Land hätte keine Aussicht, einen solchen Krieg zu gewinnen. Im Falle eines Angriffes könnte der Iran seinen Gegnern zwar Schaden zufügen, würde aber selbst viel höhere Kosten zu tragen haben als die Angreifer.

Unverwundbarkeit ist eine Illusion. Wer die ultimative Waffe besitzt,ist nicht angreifbar, das ist die Hoffnung der Hardliner in Teheran, und sie ist berechtigt. Doch ist der Preis der Unverwundbarkeit hoch: Sie führt in die totale Isolation. Ein nuklear bewaffneter Iran würde denselben Weg wie Nordkorea gehen: Er wäre geächtet und ausgeschlossen von der internationalen Gemeinschaft.

Die Hardliner halten dagegen, schon wegen seiner Größe, seiner geografischen Lage und seines Ressourcenreichtums müsse das Land die Isolation nicht fürchten. Chinesen und Inder würden auch von einem iranischen Atomwaffenstaat Öl kaufen. Aber diese Annahme könnte sich schnell als Irrtum erweisen. China und Indien brauchen zwar Öl, doch es muss nicht unbedingt aus dem Iran stammen. Andererseits gibt es auch aus der Sicht Pekings und Delhis eine iranische Gefahr: Ein nuklearer Iran würde den gesamten Nahen Osten destabilisieren. Das liegt weder im Interesse Chinas noch in demjenigen Indiens. Sie brauchen und wollen in dieser Region auf Dauer stabile Verhältnisse. Nur so können sie ihren Energiehunger befriedigen.

Innenpolitisch wird es den Hardlinern schwerfallen, gegenüber den Bürgern den Weg in die Isolation zu begründen. Das Selbstbild der Iraner ist das einer Nation im Austausch mit der Welt. Es ist ein unerfülltes Bedürfnis, eine kollektive Sehnsucht, die sich hartnäckig hält. Sie will auf die eine oder andere Weise befriedigt werden. Der Iran versteht sich zu Recht als jahrtausendealte Zivilisation, doch nur im freien Kontakt zur Welt kann die Zivilisation überleben. Wenn sich das Land isoliert, stirbt sie.

Es kommt zu einem regionalen Aufrüstungswettbewerb. Sobald der Iran eine Bombe besitzt, wird sich eine Spirale der Aufrüstung in Gang setzen, die nach oben hin offen ist. Schon jetzt rüstet Saudi-Arabien – der wichtigste Gegenspieler des Irans in der Region – massiv auf, um dessen Einfluss auszubalancieren. Sollte der Iran über Atomwaffen verfügen, könnten die Saudis ebenfalls alles daransetzen, solche zu erlangen, das haben sie bereits angedeutet. Auch die Türkei und Ägypten könnten sich zu diesem dramatischen Schritt entschließen. Im Ergebnis wäre der nukleare Vorsprung des Irans innerhalb kurzer Zeit egalisiert.

Das würde ein erhebliches Risiko für alle Staaten in der Region erzeugen, auch für den Iran selbst. Atomare Abschreckung hat während des Kalten Krieges zwar funktioniert, aber zwischen nur zwei Gegenspielern, den USA und der Sowjetunion, und mit sehr viel Glück. Das neue Gleichgewicht der atomaren Aufrüstung hätte ein halbes Dutzend Akteure. Je mehr Teilnehmer das nukleare Spiel hat, desto gefährlicher und unberechenbarer wird es.

Die Entwicklung von Nuklearwaffen ist extrem teuer. Niemand kann über Nacht eine Atombombe bauen. Es braucht dafür Jahre, und es braucht immens viel Geld und Wissen – Ressourcen, die der Iran in anderen Bereichen produktiver einsetzen könnte. Außerdem entstehen erhebliche immaterielle Kosten. Dazu gehört der extrem hohe Geheimhaltungsaufwand. Dazu gehört auch der Glaubwürdigkeitsverlust auf internationaler Bühne. Wer den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben hat und trotzdem eine Nuklearwaffe will, muss täuschen und tricksen. Das beschädigt den Ruf des Staates. Staaten müssen das Vertrauen anderer gewinnen können, wenn sie eine Rolle spielen wollen. Und das will der Iran.

 

Mladić-Prozess ist eine Chance für dauerhaften Frieden

Der Prozess gegen den „Schlächter vom Balkan“ beginnt: Ratko Mladić muss sich ab Mittwoch vor dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag verantworten. Mladić war zwischen 1992 und 1996 Oberbefehlshaber der bosnischen Serben. Diese hatten sich von Bosnien-Herzegowina, das sich 1992 für unabhängig erklärte, abgespalten und eine eigene Republik gegründet, die Republik Srpska. Mladić war ihr militärischer Kopf. Zeitweise kontrollierten die bosnischen Serben fast 90 Prozent von Bosnien-Herzegowina. Die muslimischen Bosniaken wurden aus den eroberten Gebieten zu Hunderttausenden vertrieben, zu Zehntausenden ermordet.

Für immer in Verbindung bleiben wird Mladićs Name vor allem mit dem Massaker von Srebrenica. Im Juli 1995 eroberten seine serbischen Milizen die bosnische Enklave Srebrenica. Dort richteten sie systematisch alle Männer hin, derer sie habhaft werden konnten. 8.000 Bosniaken waren es am Ende. Es war das größte Massaker in der europäischen Nachkriegsgeschichte. Ratko Mladić persönlich soll es befohlen haben. Auf Videoaufnahmen, die um die Welt gehen, ist Mladić zu sehen wie er an Frauen und Kindern von Srebrenica vorbeigeht und ihnen versichert, dass ihnen und ihren Männern nichts Schlimmes geschehen wird. Es war der Gipfel des Zynismus.

Wenn der Prozess eröffnet wird, steht also jener Mann vor Gericht, der unter den Kriegsherren dieser Jahre wohl am meisten Blut an den Händen hat. Noch einmal wird das grausigste Kapitel dieses langen Krieges aufgeschlagen. Das ist notwendig. Denn nur wenn Recht gesprochen wird, hat Versöhnung eine Chance — und damit dauerhafter Friede.

In Den Haag soll die strafrechtliche Verantwortung Mladićs für Srebrenica geklärt werden. Doch wie ein dunkler Geist wird auch die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft für Srebrenica die Verhandlung durchziehen. Die bosnische Enklave nämlich stand unter dem Schutz von UN-Soldaten. Ratko Mladić setzte sich darüber einfach hinweg. Niemand hinderte den Militärchef an seinem Tun, obwohl man ahnen konnte, was geschehen würde.

Im Prozess gegen Mladić wird zudem ein Europa sichtbar werden, das in diesen Jahren vollkommen handlungsunfähig war. Das jahrelang tatenlos zugesehen hat, wie Männer vom Schlage Mladićs ihrem blutigen Handwerk nachgingen.

Der Balkan gehört zu Europa, und es kann diesem Europa nicht egal sein, was dort geschieht. Das hatte man damals nicht begreifen wollen. Jugoslawien erschien als etwas Fernes, Exotisches, Wildes – fernab von Europa. „Der Balkan ist nicht der Knochen eines preußischen Grenadiers wert“ — dieser Spruch des deutschen Kanzlers Bismarck wurde regelmäßig zitiert, als 1992 in Jugoslawien die Schlächterei losging. Er diente als Schutzbehauptung für die eigene schuldhafte Tatenlosigkeit.

Man kann zur Verteidigung Europas anführen, dass es nicht auf diesen Krieg vorbereitet war und dass es mit sich selbst beschäftigt gewesen ist. 1989 fiel die Berliner Mauer, 1991 zerbrach die Sowjetunion, die USA führten im selben Jahr ihren ersten Krieg gegen Saddam Hussein. All das ließ Jugoslawien in den Augen Europas klein und unbedeutend erscheinen. Umso größer waren die Verbrechen, die im Schatten dieser „großen“ Geschichten begangen werden konnten.

Heute – nach mehr als 100.000 Kriegstoten – ist man in Europa klüger. Die ehemalige jugoslawische Teilrepublik Slowenien ist inzwischen Mitglied der Europäischen Union, Kroatien steht kurz davor, Serbien möchte als nächstes beitreten. Eine der Voraussetzungen dafür war die Auslieferung Mladićs gewesen. Tatsächlich wurde dieser in Serbien verhaftet und an Den Haag weitergegeben. Sein Prozess ist daher auch als ein Schritt zur Integration des Balkan in Europa zu sehen.

 

Die Anti-Politiker

Mario Monti und Silvio Berlusconi — zwei unterschiedlichere Typen kann man sich kaum vorstellen. Italiens Ex-Premier Berlusconi ist ein skandalumwitterter Zampano, der aktuelle Premier Monti eine vollkommen skandalfreier Wirtschaftsprofessor. Während der eine sich mit Stars und Sternchen aus dem Showgeschäft umgab und sich in seinem Dunstkreis Prostituierte und Mafiosi gleichermaßen bewegten, ist vom anderen nichts dergleichen bekannt.

Monti ist die Gegenfigur zu Berlusconi. Das ist einer der Gründe für seine Popularität. Die Italiener haben genug von Eskapaden, sie wollen im Amt des Premierministers Ernsthaftigkeit am Werke sehen, Pflichtgefühl und Kompetenz. Sie wollen Monti. Zum Glück.

Doch gibt es eine entscheidende Gemeinsamkeit zwischen Monti und Berlusconi. Der eine wie der andere ziehen ihre Popularität aus der Tatsache, dass sie sich als Anti-Politiker geben. Als Silvio Berlusconi 1993 in die politische Arena trat, lag das italienische Parteiensystem in Trümmern. „Mani pulite“ — die Anti-Korruptionskampagne der Mailänder Staatsanwälte hatte es zum Einsturz gebracht. Die Parteien waren in den Augen des italienischen Volkes desavouiert.

Auf ihren Trümmern erschien dann der Unternehmer Silvio Berlusconi. Ein Mann der Konkretion, nicht der sterilen politischen Debatten. Er inszenierte sich als neuer Mann, der ganz und gar unberührt von der Politik und besonders von den Parteien seinen Weg gemacht hatte. Das war freilich ein wohlfeiles Märchen, das keiner Überprüfung standhalten konnte. Doch die Italiener glaubten Berlusconi. Denn sie verabscheuten die Parteien. Alles Politische war ihnen suspekt.

Monti ist heute aus demselben Grund bei den Italienern populär. Er gibt sich als Fachmann, ein Mann fürs Konkrete, nicht eine Mann der frucht- und endlosen politischen Streitereien. Monti ist ein Parteiloser, der sich möglichst fern von den Parteien hält. Sie würden die Lichtfigur Monti nur in die schmutzigen Niederungen des Parteienhickhacks ziehen. Er bleibt über den Parteien. Legitimiert durch eine höhere Wahrheit überstrahlt er das düstere politische Panorama Italiens. Genauso wie Berlusconi vor fast zwanzig Jahren.

Was aber geschieht, wenn Monti scheitert? Dann wird sich das antipolitische Ressentiment ein neues Subjekt suchen. Möglich wäre dann folgendes Szenario: Es wird kein vernünftiger Mann wie Monti sein und auch kein unvernünftiger wie Berlusconi — sondern einer, der vorgibt, gleich mit der ganzen Politik aufzuräumen. Und das wäre tragisch.

 

Der Iran und die Frage nach der politischen Vernunft

Um einen Krieg vorzubereiten, muss man den Gegner dämonisieren. Genau das geschieht derzeit mit dem Iran. „Der Irre aus Teheran“, „Achse des Bösen“, „Terrorregime“ – das sind nur ein paar jener Begriffe, mit denen seit geraumer Zeit aus dem Westen Richtung Iran gegiftet wird. Der Grundtenor: Das iranische Regime ist unberechenbar, ja, es ist geradezu verrückt.

Wahr ist das Gegenteil: Das iranische Regime verhält sich rational und es ist berechenbar.

Das Ziel iranischer Außen- und auch der Innenpolitik kann man in einem Satz umschreiben: Das Regime will an der Macht bleiben, und es will seinen Einfluss in der Region möglichst ausweiten. Das kann man aus guten Gründen problematisch finden, man kann auch versuchen, diese iranische Politik zu konterkarieren – doch man kann nicht sagen,  das sei irrationale Politik. Sie ist auch nicht illegitim. Denn der Iran verhält sich wie jeder andere Staat auch. Er versucht Einfluss zu gewinnen in der eigenen Nachbarschaft und immer dort, wo es ihm sonst noch möglich erscheint. Er versucht Anerkennung auf der internationalen Bühne zu bekommen.

Das Problem dabei sind die Mittel, die Teheran wählt. Zu diesen Mitteln gehörte auch eine Atombombe – sofern sich die iranische Regierung dazu entschieden hat, eine zu bauen, was wir bis heute nicht wirklich wissen.

Aber selbst eine iranische Bombe hat die Funktion, dem Ziel iranischer Politik zu dienen: Machterhalt und Einflussgewinn. Eine Atombombe dient dem Zweck, sich unangreifbar zu machen, nicht andere anzugreifen. Ihr Wert – sofern man von Wert sprechen kann – liegt in der Abschreckung, nicht im Erstschlag.

Allen Atomwaffenstaaten wird unterstellt, dass sie die ultimative Waffe nur besitzen, um abzuschrecken, nicht um einen Krieg anzufangen. Ob USA, Frankreich, Indien, Pakistan oder Israel – sie alle haben diese Waffe, um sich zu verteidigen. Das ist wohl auch die richtige Annahme.

Nur für einen atomwaffenbestückten Iran sollte diese Annahme nicht gelten? Warum? Wie ist das möglich? Warum sollte ausgerechnet der Iran aus der Logik der atomaren Abschreckung ausbrechen? Die Antwort: Weil es ein verrücktes Regime ist.

So schließt sich der Kreis. So bereitet man einen Krieg vor.

 

Rot für Bahrain

mein Leitartikel aus der aktuellen Ausgabe der ZEIT

 

Formel 1 in einem Folterstaat, Eishockey bei einem Diktator? Warum der Sport niemals einfach nur Sport ist

Formel 1 ist was für Männer, die gern schnelle Runden auf dem Asphalt drehen, und für Frauen, die ihnen dabei zuschauen oder in der Box auf die euphorisierten Piloten warten. Formel 1, das ist eine ziemlich anachronistische Veranstaltung, getragen wie sie ist von rasender Geschwindigkeit, brüllendem Motorenlärm und die Gefahr suchenden Männern. Überflüssig, könnte man meinen. Aber Millionen hängen diesem Sport an, Millionen werden mit ihm gemacht. Wer ein Rennen veranstaltet, erhofft sich davon Prestige. Darum rasen die Boliden durch die Straßen des kitschigen Fürstentums Monaco, durch die pulsierende Metropole Shanghai, und am kommenden Sonntag sollen sie im winzigen Golfemirat Bahrain wieder um die Wette fahren. Wieder, weil das Rennen letztes Jahr abgesagt wurde. Politische Unruhen, Gewalt in den Straßen. Scheich Isa bin Salman al-Chalifa wollte nichts riskieren. Doch jetzt fühlt der Scheich sich sicher genug. Der Formel-1-Zirkus ist in Bahrain hochwillkommen. Der Scheich hat sein kleines Reich befriedet, mit amerikanischen Panzern, Knüppeln, Folter. Die Berichte von Menschenrechtsorganisationen über die Repression in Bahrain sind Berichte des Schreckens.

Auf den Straßen wird gefahren – in den Häusern wird gefoltert

Darf in einem Land wie diesem ein Formel-1-Rennen stattfinden? Müssen diese Autos wirklich an Häusern vorbeifahren, in denen nach Angaben von Oppositionellen Menschen gefoltert wurden? Müssen Hunderttausende Fernsehzuschauer dem zusehen? Könnte man nicht einfach mal verzichten, aus Protest, aus Solidarität mit den Gefolterten? Diese Frage kann man auch an Mercedes oder Red Bull stellen.

Der Präsident der FIA, Jean Todt, gab eine abschlägige Antwort und begründete sie mit den Worten: »Wir sind eine Sportorganisation. Wir interessieren uns nur für Sport!« Das freilich ist eine billige Ausrede, und es ist naiv. Denn Todt mag sich als Sportfunktionär nicht für Politik interessieren, doch die Politik interessiert sich für den Sport. Besonders repressive Regime lieben es, sich in dem doch so unverdächtigen, grellen Licht des Sports zu sonnen. Wo Sportler nach klaren Regeln ihre Kräfte messen, da wird es doch mit rechten Dingen zugehen. Oder wollte man sich vorstellen, dass einem Mann in einem Foltergefängnis die Knochen gebrochen werden, während wenige Meter entfernt Sebastian Vettel siegreich über die Ziellinie rast? Oder dass eine Frau in einem bahrainischen Kellergefängnis vergewaltigt wird, während man vor dem Fernseher sitzt und über den Nationalhelden Michael Schumacher debattiert: »Der Michael, nein, der Michael hätte auf sein Comeback doch lieber verzichten sollen!«?

In diesem Jahr werden die Formel-1-Fahrer wieder in Bahrain starten. Die Verantwortlichen der Internationalen Automobil Vereinigung FIA haben sich darauf verständigt, dort wieder den Grand Prix auszurichten.

Diktaturen lieben den Sport. Die argentinische Junta war außer sich vor Freude, als sie die Fußballweltmeisterschaften 1978 austrug, Chinas KP benutzte die Olympiade 2008 zur weltweiten Selbstdarstellung, der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko freut sich wie ein Eiskönig, weil in seinem Land 2014 die Eishockey-Weltmeisterschaft stattfindet, und der Scheich aus Bahrain, ja, der Scheich wird Jean Todt gesagt haben: »Recht haben Sie! Sport ist Sport, und Sport muss Sport bleiben!«

Was wäre die richtige Antwort? Soll man überhaupt keine Sportveranstaltungen in Diktaturen abhalten? Wie immer in Fragen der Moral kann die Antwort nur konkret sein, von Fall zu Fall ist zu entscheiden. Im Falle Bahrains sollte die FIA verzichten – der Grund dafür ist ein moralischer, aber er ist auch ein politischer.

Dazu eine kleine Rückblende auf das vergangene Jahr. Mit einer Mischung aus Bewunderung und Staunen sahen wir, wie Millionen Araber sich ihrer Despoten entledigten, der Tunesier Ben Ali stürzte, der ägyptische Pharao Hosni Mubarak fiel, der irrlichternde Libyer Muammar al-Gaddafi fand den Tod.

Wir feierten diese große arabische Party der Freiheit mit, leicht zerknirscht, weil unsere Regierungen eben diese Despoten jahrzehntelang gestützt hatten, doch immerhin: Es war Frühling, Arabischer Frühling. Und der sollte nicht gestört werden, schon gar nicht durch unerfreuliche Ereignisse in dem kleinen Emirat Bahrain. Während die westlichen Regierungen sich schnell auf die Seite der rebellierenden arabischen Völker schlugen, ließ der Scheich sein für Freiheit und Menschenrechte demonstrierendes Volk mithilfe saudischer Truppen brutal unterdrücken. Im Westen schwieg man dazu. Dabei hatte es gerade noch geheißen, dass Repression nicht nur falsch, sondern auch dumm sei – sie bringe auf Dauer keine Stabilität. Das war die Lehre des Arabischen Frühlings.

Für Bahrain galt sie nicht. Denn Bahrain nimmt im Geflecht westlicher Machtinteressen im Nahen Osten einen besonderen Platz ein. Hier liegt das Hauptquartier der 5. Flotte der U. S. Navy, Bahrain ist ein enger Freund des westlichen Verbündeten Saudi-Arabien; die Mehrheit der Bahrainer sind Schiiten, weshalb sie verdächtigt werden, die Sache des schiitischen Irans zu befördern. Bahrain, das ist das schlagende Beispiel dafür, dass die kalte Realpolitik, derer sich der Westen eben noch selbst bezichtigte, die Richtlinie seiner Politik im Nahen Osten bleibt, Arabischer Frühling hin oder her.

Wenn die Formel-1-Funktionäre sich durchringen könnten, das Rennen abzusagen, hätten sie nicht nur den Scheich entblößt, sondern auch die Doppelmoral westlicher Politik. Das ist viel verlangt von Sportfunktionären, keine Frage. Aber es ist ja auch viel verlangt, dass man stundenlang Männern zusehen soll, wie sie mit brüllenden Autos über den Asphalt sausen, während nebenan gefoltert wird.

Diesen Artikel finden Sie als Audiodatei im Premiumbereich unterwww.zeit.de/audio

 

Fatale Schandtaten

Die amerikanische Regierung entschuldigt sich bei den Afghanen – wieder einmal. Diesmal, weil im Jahr 2010 US-Soldaten Leichen von afghanischen Selbstmordattentätern geschändet haben. Fotos davon sind jetzt in der Los Angeles Times veröffentlicht worden. Vor ein paar Wochen erst hat ein einzelner US-Soldat in einem Dorf ein Massaker angerichtet. Er erschoss 17 Afghanen im Schlaf, darunter waren neun Kinder. Bekannt geworden war auch,  dass Soldaten auf getötete Gegner gepinkelt und sich dabei haben filmen lassen. Ein anderes Mal haben Soldaten in einer Militärbasis Koran-Ausgaben verbrannt, was zu wochenlangen gewaltsamen Ausschreitungen führte.

Gewiss, das alles sind die Taten einzelner. Der amerikanische Verteidigungsminister Leon Panetta hat Recht, wenn er angesichts der jüngsten Skandals sagt: „Dies ist Krieg. Und ich weiß, dass Krieg schmutzig und gewalttätig ist. Ich weiß, dass junge Leute manchmal in der Hitze des Augenblicks sehr dumme Entscheidungen treffen.“

Doch es bleibt die verstörende Tatsache, dass die selbst ernannten Befreier immer öfter barbarische Züge tragen. Die Frage ist: Warum?

Panetta hat es angesprochen. Krieg ist eine Brutalisierungsmaschine. Je länger ein Krieg dauert, desto mehr wirkt sie. Die amerikanischen Soldaten stehen seit mehr als zehn Jahren in Afghanistan. Sie führen einen Zermürbungskrieg, den sie nicht gewinnen können. Gleichzeitig ist zu Hause die Zustimmung zu diesem Krieg dramatisch gesunken. Schließlich wissen die meisten Soldaten nicht mehr, warum sie eigentlich dort sind. Das untergräbt die Moral.

Es ist auffallend, dass sich die Skandale häufen, je näher der Abzugstermin rückt. Nach der Devise: Hier gibt es nichts mehr zu gewinnen, da können wir gleich noch einmal richtig zuschlagen,  unserem ganzen Hass freien Lauf lassen. Der Dämon des Krieges feiert noch einmal ein grausiges Fest, bevor es zu Ende geht.

Doch die Amerikaner – der Westen – haben noch sehr viel zu verlieren in Afghanistan. Der beschlossene Abzug 2014 ist richtig, doch ist es von größtem Interesse für den Westen, dass Afghanistan auch nach diesem Datum ein Verbündeter bleibt. Denn Afghanistan liegt in einer geostrategisch äußerst wichtigen Region. Es grenzt an die ressourcenreichen Staaten Zentralasiens, es grenzt an Iran, an Pakistan und ist damit auch für Indien von Bedeutung.

Den Krieg wird der Westen nicht gewinnen, er sollte aber Afghanistan nicht verlieren. Derzeit verhandeln die USA mit der afghanischen Regierung über den Verbleib von Militärbasen nach 2014. Die Schandtaten von US-Soldaten werden diese Verhandlungen gewiss nicht erleichtern.

Wenn es weitere Skandale dieser Dimension geben wird, wenn sie sich häufen werden, und das steht zu befürchten, dann könnte das Schlimmste eintreten. Die Nato würde das Land verlassen wie 1989 die Sowjetarmee: gehasst und verachtet von den Afghanen.

 

Mehr tote Zivilisten

Die letzten verfügbaren, zuverlässigen Zahlen über die Zahl der getöteten Zivilisten in Afghanistan stammen aus dem Sommer 2011. Nach dem Bericht der Unama gibt es einen Anstieg von 20 Prozent. In dem Bericht steht zu lesen

The protection of civilians remained a critical concern over the reporting
period. UNAMA documented 2,950 conflict-related civilian casualties (including
1,090 deaths and 1,860 injuries of Afghan civilians), an increase of 20 per cent
compared to the same period in 2010. Anti-Government elements were linked to
2,361 civilian casualties (80 per cent of the total number of civilian casualties),
while pro-Government forces were responsible for 292 civilian casualties (10 per
cent of the total number). The remaining 10 per cent could not be attributed. The
rise in civilian casualties, following the Taliban’s announcement of a spring offensive
on 30 April, was due in part to an expansion in the operations of anti-Government
elements and pro-Government forces throughout the country, particularly in the
north and in the regions bordering Pakistan.

 

Optimismus sieht anders aus

Den Verlautbarungen der Nato und der westlichen Regierungen zu Folge hat Afghanistan gute Chancen nach dem Abzug 2014 stabil zu bleiben. Aber was ist dann von diesen Stellungnahmen zu halten?

„Mit Sorge schauen die afghanischen Übersetzer, die in Diensten der Bundeswehr stehen, auf den Abzug. Weil sie fürchten, nach dem Abzug als Kollaborateure verfolgt zu werden, haben einige von ihnen eine Petition eingereicht – mit der Bitte um Arbeitserlaubnis in Deutschland. Die Angst kommt nicht von ungefähr. Übersetzer kriegen Interna der Alliierten mit. Sie gelten bei den Taliban als Augen und Ohren der verhassten Isaf-Truppen, als ihre Helfershelfer.

SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold schließt sich dem Begehren der Afghanen an. „Ich sehe eindeutig eine Verantwortung Deutschlands, den afghanischen Mitarbeitern der Bundeswehr bei uns Schutz zu gewähren, wenn sie in Afghanistan gefährdet sind“, sagte er. „Man kann sie nach dem Abzug nicht einfach sich selbst überlassen.“

Sein grüner Kollege Omid Nouripour erklärte: „Nicht nur die Übersetzer sind in Lebensgefahr, wenn die Bundeswehr raus ist, sondern auch die Fahrer. Die Bundesregierung muss dringend sagen, was sie mit ihnen vorhat. Den größten Schutz hätten diese Menschen, wenn sie nach Deutschland kämen.“ Nouripour schätzt die Zahl der Betroffenen auf bis zu 3 000. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums betonte hingegen: „Für uns ist das zurzeit kein Thema. Denn wir wollen bis 2014 ein sicheres Umfeld für alle.“

 

 

Fehler eingestehen, Vorurteile revidieren

Die Taliban greifen das Botschaftsviertel in Kabul an. In Pakistan befreien sie Hunderte ihrer Kameraden aus einem Gefängnis. In verschiedenen Teilen des Landes flammen Kämpfe auf. Die Frühjahrsoffensive der Taliban hat begonnen, und es sieht nicht gut aus für das Nato-geführte Militärbündnis.

Spätestens 2014 will die Nato Afghanistan verlassen haben. Und dabei stellt sich nicht mehr die Frage, ob sie ihre Ziele erreichen wird. Es geht schon lange nicht mehr um Demokratie, Rechtsstaat, Staatsaufbau — es geht nur mehr um die Frage, ob Afghanistan nach einem Abzug dem Westen ganz verloren gehen wird. Ganz verloren, das hieße, keine Truppen mehr im Land, keine Freunde mehr unter den Menschen, keinen Einfluss in Kabul. Afghanistan würde aus dem Machtbereich des Westens herausfallen.

Kein Problem? Oh doch, das wäre ein Problem. Afghanistan grenzt an die ressourcenreichen  Staaten Zentralasiens, es grenzt an den Iran, an China, an Pakistan. Diese geostrategische Lage macht Afghanistan wichtig, auch für den Westen. Und da ist die Gefahr des Terrorismus. Afghanistan könnte sich wieder in eine Heimstatt für Al-Kaida verwandeln. Aus diesen Gründen sollte der Westen zusehen, dass er auch nach 2014 in Afghanistan über Einfluss verfügt.

Wie aber soll das geschehen?

Zunächst einmal, indem man ehrlich ist. Wenn die Nato den Krieg verloren hat, dann aus eigenem Verschulden. Es ist ein viel bedientes Klischee, dass die Afghanen unbezähmbare Krieger seien, die noch nie in ihrer Geschichte besiegt worden sind. Doch mit diesem eingängigen Vorurteil verdeckt man nur die eigenen Fehler. In Wahrheit wollen die Afghanen in ihrer großen Mehrheit teilhaben am Fortschritt. Gewiss auf ihre Art und Weise, doch ihre Sehnsucht nach Frieden, Wohlstand und Gerechtigkeit ist ungebrochen. Vom Krieg haben sie genug.

Die Nato jedoch hat die Friedenssehnsucht der Menschen nicht genutzt, sie war nicht in der Lage, ihr eine Gestalt zu geben. Das aber wäre möglich gewesen, vor allem in den Jahren zwischen 2002 und 2005. Die Afghanen wollten, dass es einen Bruch mit ihrer jüngeren Geschichte gibt. Sie wollten, dass die Kriegsherren entwaffnet und aus dem Verkehr gezogen werden. Nur der Westen hatte in diesen Jahren die Macht, das zu tun. Es ist folgerichtig, dass die Afghanen eben dies von der Nato erwartet haben.

Natürlich hätte man nicht alle Kriegsherren verhaften oder vor Gericht stellen können. Doch wenn man einige der größten von ihnen sichtbar ins Abseits gedrängt hätte — die Afghanen hätten die Botschaft verstanden: Die Zeit für einen Neuanfang ist gekommen.

Doch eben das geschah nicht. Die Kriegsherren ließ man gewähren, weil man meinte, sie brauchen zu müssen im Kampf gegen den Terror. Man glaubte das auch deshalb, weil man gefangen blieb in den Vorurteilen über Afghanistan, nach denen das Land besonders kriegerisch und ungebändigt sei. Ungebändigt, das mag sein, aber nur in Bezug auf den Wunsch, selbst über sein Schicksal bestimmen zu können. Grundsätzlich kriegerisch, das ist Blödsinn.

Wenn also der Westen Einfluss behalten will, dann ist es höchste Zeit sein Bild von Afghanistan und den Afghanen zu revidieren und sich die eigenen Fehler einzugestehen. Dafür ist es nie zu spät. Doch schwer ist es schon, denn es würde deutlich werden, wie blind man zehn Jahre lang war.