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Somalia am Mittelmeer

600.000 Menschen warten in Nordafrika darauf, auf den europäischen Kontinent überzusetzen. Oder sind es 300.000? Oder irgendwas dazwischen? So ganz genau kann der italienische Innenminister Angelino Alfano es nicht sagen. Aber die Monsterzahl hat er schon mal in die Welt gesetzt. Alfano berief sich auf Berechnungen seiner Geheimdienste. Geheimdiensten aber sollte man nicht trauen, aus Prinzip und aus Erfahrung nicht.

Wer mit einer so riesigen Zahl von 600.000 hantiert, suggeriert das Bild einer bevorstehenden Massenbewegung von den Ausmaßen einer sturzbachartig sich zutragenden Völkerwanderung. Er evoziert die Vision eines belagerten Kontinents. Das schürt bei den Europäern tiefsitzende Ängste – und sie werden sich bald in den Wahlergebnissen niederschlagen. Am 25. Mai wählen die Europäer ein neues Parlament. Rechtspopulistische Parteien, die mit eben solchen Ängsten vor einer Invasion arbeiten, sind im Aufwind.

Nein, das hier ist keine Verschwörungstheorie. Das ist nur ein Hinweis darauf, dass Geheimdienstinformationen immer hinterfragt werden müssen, auf ihren Wahrheitsgehalt und auf ihre politischen Motive.
Das Label der „Schutzverantwortung“
Und nein, das hier ist auch keine Leugnung, dass Migration aus Nordafrika eine zentrale Herausforderung für Europa ist. Weil es aber so ist, ist Präzision gefragt. Wenn man schon den Blick auf Nordafrika richtet, sollte er schärfer und genauer sein. Wohin also sollte man etwa schauen? Nach Libyen.
Dort herrschen heute — nach allem was man weiß — Milizen. Der Staat scheint zerfallen zu sein. Es ist ein Paradies für Schmugglerbanden.
Libyen ist Somalia am Mittelmeer, das ist freilich eine Übertreibung — aber keine allzu große.
Sie soll auch dazu dienen, die Europäer aufzurütteln. Libyen? War da was?
Ja, da war was.
Als es 2011 darum ging, den Diktator Muammar al-Gaddafi zu stürzen, da waren mit Ausnahme der Deutschen alle Europäer sehr engagiert, allen voran die Franzosen und Briten, auch die Italiener mischten ordentlich mit. Die Intervention der Nato führte man unter dem Label der „Schutzverantwortung“, welche die internationale Gemeinschaft überall auf der Welt für bedrängte Zivilisten habe.
Diese „responsibilitiy to protect“ aber ist nach ihren Erfindern ein Dreistufenmodell. Stufe 1: Vorbeugen. Stufe 2: Intervention. Stufe 3: Wiederaufbau. Drei Stufen, die also mit einander verbunden sind.
In Sachen Libyen gab es nur Stufe 2: Intervention — und dann kam das große Vergessen. Die große Leere. Und die italienischen Geheimdienste füllen sie mit der Zahl von 600.000 Menschen, die auf dem Sprung nach Europa seien. Vielleicht — man sollte ja nicht ungerecht sein — vielleicht will der italienischen Innenminister Angelino Alfano auch nur das, was dieser Artikel versucht: Libyen dem Vergessen zu entreißen.

 

Renzi rettet Berlusconi

Matteo Renzi ist der neue Star der italienischen Linken. Millionen Italiener erwarten vom neuen Vorsitzenden des sozialdemokratischen PD, dass er sein Versprechen wahrmacht und die korrupte politische Kaste Italiens zertrümmert. Er selbst hat sich als „Rottamatore“ (Zertrümmerer, Verschrotter) bezeichnet und mit diesem Begriff Karriere gemacht. Aber was macht Renzi nun, kaum dass er an die Spitze des PD gewählt wurde?

Er trifft sich mit Silvio Berlusconi zu einem zweistündigen Gespräch! Renzi sagt, er habe mit dem Cavaliere völlige Übereinstimmung über einige zentrale Reformen erzielt. Dazu gehört ein neues Wahlrecht, dazu gehört auch die Abschaffung des Senats. Wenn diese Reformen richtig gemacht werden, dürften sie dem politischen System Italiens mehr Stabilität und mehr Effizienz geben. Beides wird dringend gebraucht.

Doch äußerstes Misstrauen ist angebracht. Silvio Berlusconi hat in den zwanzig Jahren, in denen er Italiens Innenpolitik beherrschte immer nur seine persönlichen Interessen verfolgt. Der Staat war für ihn nur ein Instrument, um seine Geschäfte voranzubringen. Er erließ Gesetze, die den einzigen Zweck hatten, ihn selbst vor den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zu schützen. Berlusconi hat sich Italien nach seinem Bilde geformt.

Warum sollte es diesmal anders sein? Wie kann Renzi glauben, dass der alte Fuchs Berlusconi plötzlich tatsächlich im Dienste der Gemeinschaft handelt? Warum gerade jetzt?

Silvio Berlusconi ist rechtskräftig verurteilt. Er hat deswegen seinen Sitz im Senat verloren. Er ist seiner Immunität verlustig gegangen, was den Weg für eine ganze Reihe weitere Prozesse gegen ihn frei machen würde. Das alles interessiert Renzi überhaupt nicht.

Er behauptet, er brauche Berlusconi für die angepeilten Reformen. Denn dazu benötigte man eine Zwei-Drittel–Mehrheit. Das stimmt und stimmt nicht. Berlusconi ist nicht mehr der unumschränkte Herr in seinem eigenen Haus. Seine Partei hat sich schon gespalten. Viele Abgeordnete, die ihm verblieben sind, sind ihm nicht unbedingt treu ergeben. Er ist politisch auf dem Abstieg. Seit seiner Verurteilung befindet er sich geradezu im freien Fall.

Und ausgerechnet Renzi wirft ihm nun ein Rettungsseil zu, indem er ihm eine zentrale Rolle für die Zukunft Italiens zuschreibt. Ausgerechnet Renzi, der selbst ernannte Zertrümmerer des Alten, hofiert das älteste was die alte politische Kaste zu bieten hat!

 

 

Wer es mit Putin zu tun bekommt, sollte einen Plan haben

Es gibt dieser Tage viel Gezeter über Russlands Politik gegenüber der Ukraine. Der russische Präsident Wladimir Putin wird durchgehend als eine Art Gangsterboss beschrieben, der die Ukrainer rücksichtslos und mit allen Mitteln erpresst. Nun ist der Mann gewiss alles andere als harmlos, aber er ist kein Dämon. Er ist der russische Präsident, der sich das Ziel gesetzt hat, Russland als Weltmacht zu etablieren, nachdem die Sowjetunion 1991 zerfallen war. Das ist seit Jahren allseits bekannt. Und ebenso seit Jahren bekannt ist, dass Putin keinerlei Rücksichten nimmt. Russlands Verhalten gegenüber der Ukraine ist kein Sonderfall, sondern die Regel. Es ist Moskaus Politik.

Es gibt also keinen Anlass, sich über Putin zu wundern. Es bringt auch gar nichts, sich über ihn zu echauffieren. Wer es tut, der offenbart nur seine Hilflosigkeit.

Wenn man es mit Putin zu tun bekommt, dann hat man besser einen Plan. Das haben die USA in Syrien lernen müssen. Dort hat Putin jeden Vorstoß der USA so lange blockiert, bis man in Washington einsah, dass es ohne den russischen Präsident keine Lösung geben werde. Die EU erfährt in diesen Tagen Ähnliches. Sie dachte wohl, die Ukraine würde das ausgehandelte EU-Assoziierungsabkommen unterzeichnen, und Moskau würde das einfach so hinnehmen. Als sich herausstellte, dass dem nicht so ist, hatte man in Brüssel keinen Plan.

Was kann die EU der Entschlossenheit Moskaus entgegenhalten? Es müsste etwas sehr Konkretes sein. Doch das hat die EU nicht. Russland hingegen bietet Kiew Milliardenkredite und billiges Gas. Moskau rettet die Ukraine vor dem Bankrott, nicht Brüssel.

Nun kann man sagen, Putins Russland sei doch eine böse Macht, die ohnehin bald das Zeitliche segnen werde. Russland also sei so etwas wie eine Macht von gestern. Aber das hilft aktuell weder der EU noch der Ukraine weiter.

In den europäischen Hauptstädten sollte man sich eher mit einem worst-case-Szenario befassen: dem Zerfall der Ukraine. Sicher, das erscheint aus heutiger Sicht sehr unwahrscheinlich. Doch vor mehr als zwanzig Jahren glaubte man auch, dass Jugoslawien ein stabiler Staat sei – bis er in einem grausamen Krieg unterging. Die Ukraine ist nicht Jugoslawien. Doch die Ukraine steht unter enormen Spannungen, so wie Jugoslawien in den achtziger Jahren. Und die Ukraine ist tief gespalten, in eine Hälfte, die nach Europa will, und eine, die das ablehnt. Auch in Jugoslawien gab es Vergleichbares.

Und was tat die EU als Jugoslawien zerbrach? Sie schaute tatenlos zu. Und Hunderttausende kamen ums Leben.

Putin wird sein Ziel verfolgen, auch wenn dies den Zerfall der Ukraine mit sich bringen könnte. Und wie weit wird die EU gehen, um ihr Ziel zu erreichen? Wenn sie denn überhaupt etwas erreichen will, was man Ziel nennen könnte.

 

Mandela ist tot, der ANC lebt – mehr schlecht als recht

Nelson Mandela ist tot. Das ist ein großer Verlust  für Südafrika und für die Welt. Doch am härtesten trifft es den ANC, Mandelas Partei. In diesen Tagen der Trauer bleibt das im Hintergrund.

Was ist der ANC ohne Mandela?

Das ist für die Zukunft Südafrikas eine entscheidende Frage. Denn der ANC ist so etwas wie die Staatspartei des Landes. Seit dem Ende der Apartheid im Jahr 1994 dominiert sie das Land nach belieben. Mandela war ihre unantastbare Vaterfigur. Seine Strahlkraft war so groß, dass man insbesondere im Ausland den Eindruck gewann, Mandela und der ANC seien ein und dasselbe. Er war die Partei, die Partei war er.

Was genau der ANC aber war, das interessierte weniger. Doch nun wird der Blick nicht mehr verstellt werden von der Lichtgestalt Mandela. Bald wird der ANC in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten. Spätesten anlässlich der Wahlen im April 2014.

Also, was ist das für ein Partei?

Sie versucht bis heute von ihrem Ruf als Antiapartheids-Bewegung zu profitieren. Tatsächlich ist der ANC die älteste nationale Befreiungsbewegung Afrikas und sie war am Ende sehr erfolgreich.

Die Politiker des ANC pflegen immer noch die Rhetorik von Befreiungskämpfern. Doch die Apartheid ging 1994 zu Ende. Der ANC ist seit bald  zwanzig Jahren an der Macht. Eine Regierungspartei, die spricht wie eine Befreiungsbewegung, klingt hohl und unangebracht.

Der Verweis des ANC auf seine historischen Verdienste allein wird nicht mehr ausreichen, um dauerhaft eine Mehrheit zu gewinnen. 2014 werden zum ersten Mal die sogenannten born frees wählen können. Das sind Männer und Frauen, die nach 1994 geboren worden sind. Sie sind weniger an der glorreichen Geschichte des ANC interessiert, sondern daran, ob die Partei in der Lage ist, ihnen eine Perspektive zu geben. Und die ökonomische Performance des ANC ist alles andere als gut.

Der ANC ist eine zerstrittene Partei, in der sich unterschiedliche Fraktionen bis aufs Messer bekämpfen. Die politische Kultur der alten Parteigarde  ist immer noch geprägt von ihrer Untergrundarbeit während der Apartheid: Sie ist konspirativ, populistisch und manipulativ.

Der jetzige Präsident Südafrikas Jacob Zuma etwa hat sich 2007 in einem gnadenlosen Machtkampf gegen seinen Amtsvorgänger Tabo Mbeki durchgesetzt. Zuma war während der Apartheid verantwortlich für den internen Geheimdienst der Partei. Er weiß, wie man Gegner loswerden kann. 2012 schloss Zuma seinen politischen Weggefährten Julius Malema aus der Partei aus. Malema war Vorsitzender der mächtigen Jugendorganisation des ANC. Er war für Zumas Aufstieg zum Staatspräsidenten entscheidend. Malema hat inzwischen eine eigene Partei gegründet, mit der er dem ANC Konkurrenz machen will.

Der ANC symbolisiert nicht mehr das große Versprechen, das er einmal war – er hat es vielleicht nie getan. All das wird nun klarer zum Vorschein treten, da Mandela tot ist. Das wird schmerzvoll sein. Es sind die Schmerzen der Normalität.

 

Saudi-Arabiens Abstieg hat begonnen

Der Durchbruch in den Atomgesprächen mit dem Iran, er wird den Nahen und Mittleren Osten verändern. Denn der Iran könnte nun wieder zur international akzeptierten Ordnungsmacht in der Region aufsteigen – eine Macht, die er schon einmal war.

Bis 1979 war das Land eine bestimmende Größe im Nahen und Mittleren Osten, mit dem Segen der USA. Die iranische Revolution setzte dem ein Ende. Seitdem war der Iran politisch vom Westen isoliert. Durch den Streit um das iranische Atomprogramm wurde aus Isolation Ächtung. Heute ist der Iran mit harten Wirtschaftssanktionen der Vereinten Nationen belegt.

Das Regime in Teheran selbst hat den Anspruch, die bestimmende Macht der Region zu sein, niemals aufgegeben. Doch es war eine Rolle, die seit 1979 niemand akzeptieren wollte. Der Iran war ein Paria.

Das aber ist jetzt möglicherweise vorbei. Das Abkommen, das der Iran mit der 5+1-Gruppe (USA, Russland, China, Frankreich, England, Deutschland) geschlossen hat, beendet die Isolation. Die Atomfrage ist zwar noch nicht gelöst, es sind noch viele Streitpunkte ungeklärt. Auch ein Scheitern ist möglich. Doch es ist das erste Abkommen, auf das man sich unter amerikanischer Beteiligung in 35 Jahren mit dem Iran geeinigt hat.

Wenn der Iran nun wieder auf die große Bühne tritt, dann wird das Land andere von dort verdrängen. Allen voran Saudi-Arabien.

In den vergangenen Wochen haben die Saudis mehrmals deutlich gemacht, wie unzufrieden sie mit der Politik der Annäherung gegenüber Teheran sind. Nun haben sie in der Region sehr großen Einfluss, schon durch die vielen Milliarden, die sie freizügig verteilen.

Zwischen dem schiitischen Iran und dem sunnitischen Saudi-Arabien herrscht seit Jahrzehnten ein Kalter Krieg. In Syrien ist dieser Kalte Krieg zu einem heißen geworden. Dort bekämpfen sich beide Seiten gnadenlos. Und jetzt müssen die Saudis frustriert mitansehen, wie ihr Todfeind eine internationale Aufwertung erfährt. Wie werden sie nun angesichts der neuen Lage ihre Macht einsetzen? Das ist nach dem Abkommen mit dem Iran eine der entscheidenden Fragen.

Der Einfluss des saudischen Königshauses dürfte in Washington jedenfalls gesunken sein. Das hat gute Gründe. Die USA haben in der Region drei strategische Interessen: Ölversorgung, Eindämmung Irans, Sicherheit Israels. Um diese Interessen wahrzunehmen, war Saudi-Arabien wichtig.

Doch die Ölversorgung verliert an Bedeutung, seit die USA zum größten Erdölproduzenten der Welt geworden sind. Die Eindämmung Irans wäre nach einem erfolgreichen, stabilen Abkommen über die Nuklearfrage nicht mehr notwendig, auch das relativiert die Macht des saudischen Königshauses. Nur für die Sicherheit Israels ist Saudi-Arabien nach wie vor von Bedeutung. Aber das reicht nicht, um seine Rolle als privilegierter Partner weiter aufrechtzuerhalten.

Wir erleben also derzeit einen relativen Abstieg Saudi-Arabiens. Der Nahe und Mittlere Osten indes wird dadurch nicht ruhiger. Im Gegenteil: Das Atomabkommen und seine Folgen dürften zu heftigen Erschütterungen in der Region führen.

 

Erst bombardieren, dann wegschauen

Am 20. Oktober 2011 starb Muammar al-Gaddafi. Rebellen hatten den Diktator zu Tode gejagt. An dieser Jagd waren Kampfbomber der Nato beteiligt, bis zur letzten Minute halfen sie mit, Gaddafi zu erlegen.

Niemand weinte Gaddafi eine Träne nach. Libyen war vom Diktator befreit. Die Libyer wählten wenige Monate später ein Parlament. Das allein galt schon als Erfolgsnachweis. Der Westen war zufrieden – und wandte sich ab.

Und heute? Das Unglücksboot, bei dessen Untergang vor zwei Wochen vor der Insel Lampedusa mehr als 300 Menschen ertranken, kam aus Libyen — sehr wahrscheinlich aus der Hafenstadt Misrata. Das ist bemerkenswert. Denn diese Stadt war im Sommer 2011 mehrere Wochen von den Truppen Gaddafis belagert worden. In den westlichen Medien bekam sie wegen ihres Widerstandswillens eine Art Heldenstatuts. Gaddafi gelang die Eroberung Misratas nicht, weil die Nato mit ihren Kampfbomber es nicht zuließ.

Schließlich befreiten sich die Belagerten. Misrata wurde zu einem Symbol für den Aufstand gegen Gaddafi. Heute ist es eine Stadt, in der die Schlepper Millionen mit dem Menschenhandel verdienen können, ohne dass sie dabei gestört würden. Mit einem Schuss Zynismus kann man sagen: Die Nato hat den Gangstern den Weg freigeschossen, damit sie ihr Geschäft betreiben können. Und sie tat dies im Namen der Menschenrechte!

Auch Gaddafi betrieb Menschenhandel, allerdings auf staatlicher Ebene. Das machte ihn ein wenig berechenbarer. Im Jahr 2008 etwa schloss er ein Abkommen mit der damaligen italienischen Regierung, wonach Libyen alle Flüchtlinge, die von seinen Küsten nach Italien aufgebrochen waren, zurückzunehmen bereit war. Gaddafi ließ sich für diese Hilfspolizistendienst fürstlich entlohnen. Dieses Abkommen mit dem Diktator war schändlich und nutzlos.

Die libyschen Behörden setzten damals viele Flüchtlinge einfach in der Sahara aus und überließen sie ihrem Schicksal. Heute jedoch gäbe es niemanden, mit dem man irgendein Abkommen treffen könnte, denn Libyen hat keine zentrale Autorität mehr. Der Staat ist nahe dran, ein failed state zu werden – ein Somalia an der Mittelmeerküste.

Das ist ein Ergebnis des westlichen Zynismus, der im Gewand der Moral daherkommt. Die Nato intervenierte in Libyen unter dem Label der Schutzverantwortung – der Responsibility to Protect (R2P). Demnach darf die internationale Gemeinschaft nicht mehr tatenlos zuschauen, wenn in irgendeinem Land der Welt massiv Menschenrechte verletzt werden. Dann ist sie zum Handeln geradezu gezwungen. Als der Aufstand gegen Gaddafi im Februar 2011 losbrach und dieser hart zurückschlug, da bemühte man das R2P-Prinzip. Die Nato bombte.

Nur, danach tat sie nichts mehr. Der Westen schaute weg. Und was war mit den Menschenrechten? Die mussten jetzt woanders verteidigt werden, in Syrien zum Beispiel. Also zog der Westen weiter, um das nächste Land zu „retten“.

Libyen? War da noch was?

Ja, da war was. Aber wir haben es vergessen. Und jetzt holt es die Europäer ein, wie ein hartnäckiges Gespenst.

 

Iran und USA finden aus Schwäche zueinander

Der iranische Präsident Hassan Ruhani hat 15 Minuten lang mit Barack Obama telefoniert. Das ist der erste Kontakt zwischen den Staatschefs dieser beiden Länder seit 1979. Damals hatten iranische Studenten die US-Botschaft in Teheran gestürmt und besetzt. Die USA brachen die Beziehungen zu Iran an. Die beiden Staaten stehen sich seither in tiefer Feindschaft gegenüber.

Der Bruch zwischen diesen beiden Staaten hatte für den gesamten Nahen Osten weitreichende Konsequenzen. Bis zur Revolution im Jahr 1979 war Iran der engste Verbündete der USA in der Region – und es war nicht irgendein Verbündeter. Iran ist der größte Staat in der Region, der im Unterschied zu seinen Nachbarn eine ungebrochene Staatstradition hat. Der Iran war vor der Revolution eine selbstbewusste Ordnungsmacht. Nach der Revolution blieb nur mehr das Selbstbewusstsein einer großen Nation übrig. Aus der von den USA dominierten internationalen Ordnung hatte sich Iran selbst hinauskatapultiert. Für den aus einer Revolution geborenen Iran gab es keinen Platz mehr.

Kann es überhaupt einen geben? Kann die Islamische Republik eine Rolle ausfüllen? Bisher war die Antwort aus Washington immer klar: Nein! Das nun scheint sich gerade zu ändern. Obama ist offenbar bereit, dem Iran eine Rolle zuzugestehen. Warum?

Aus Schwäche.

Die USA sind nicht mehr in der Lage, den Nahen Osten zu gestalten. Das ist in Syrien spektakulär klar geworden. Obama benötigte die Hilfe Russlands, um im syrischen Labyrinth voller Gewalt nicht verloren zu gehen. Die USA brauchen also Partner.

Und warum öffnet sich Ruhani gegenüber den USA?

Ebenfalls aus Schwäche. Sein Land braucht dringend eine Lockerung der Sanktionen, denn sie treffen die iranische Wirtschaft hart. Ruhani ist von den Iranern auch gewählt worden, damit er ihr Land aus der Isolation führt. Das ist der Auftrag. Bisher scheint er dafür auch den Segnen des Obersten Religiösen Führers Irans, Ali Chomeini, zu haben.

Wir erleben also, dass zwei Staaten aus Schwäche zueinander finden. Und es kann sein, dass daraus etwas sehr Gutes entsteht.

Substanzielles ist bisher allerdings noch nicht geschehen. Es gibt Grund zum Misstrauen. Obama hat Recht, wenn er von den Iranern neben den all den schönen Worten auch Taten sehen will. Iran muss zum Beispiel mit der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) in Wien in völliger Transparenz zusammenarbeiten. Es muss klar werden, dass Iran keine Atomwaffenprogramm verfolgt. Ruhani behauptet das, und diese Behauptung kann er nun durch Fakten untermauern.

Obama seinerseits muss den Herrschern Teheran versichern, dass er keinen regime change in Teheran erreichen will, also keinen Sturz des islamischen Regimes.

Der Iran und die USA haben jedenfalls die günstigste Gelegenheit seit mehr als dreißig Jahren, ihre Beziehungen konstruktiv zu gestalten. Es besteht Hoffnung, dass diese Gelegenheit nicht ungenutzt vorüber gehen wird.

 

Sprachrohr des Systems

Die prominente iranische Menschenrechtlerin Nasrin Sotoudeh ist frei. Ein weiteres Dutzend politischer Gefangener wird aus dem Gefängnis entlassen. Der neue iranische Präsident Hassan Ruhani sagt, dass sein Land auf keinen Fall „eine Atombombe bauen will“. Gleichzeitig tauscht er einen Brief mit Barack Obama aus, dem Präsidenten des „Satans“ USA. Und er bietet sich als Vermittler im Syrienkonflikt an. Es vergeht derzeit also kein Tag, an dem nicht erstaunliche Nachrichten aus Teheran zu vernehmen sind.

Ist Ruhani deswegen der Reformer, der den Iran öffnen wird? Ist er der Mann, auf den der Westen seit Jahren schon vergeblich wartet?

Vorsicht ist angebracht. Hassan Ruhani ist ein Mann des Systems, er war es sein Leben lang. Es ist nicht davon auszugehen, dass er dieses System fundamental ändern will. Er ist kein Revolutionär, sondern – wenn überhaupt – ein Reformer. Ruhani will die Islamische Republik Iran den gegenwärtigen Bedingungen anpassen.

Iran steht außen- wie innenpolitisch unter großem Druck. Die UN haben den Iran wegen der Nuklearfrage schmerzhafte Sanktionen auferlegt. Sie sind zumindest zu einem Teil die Ursache für die tiefe wirtschaftliche Krise, in der sich das Land heute befindet. Das iranische Volk sehnt sich nach einer Normalisierung der Verhältnisse. Ruhani hat die Wahlen gewonnen, weil er genau das versprach.

Mehr Dialog mit dem Rest der Welt, mehr Freiheit im Inneren. Das ist die Antwort, die Ruhani gibt. Man muss sie ernst nehmen, gerade weil Ruhani ein Mann des Systems ist. Denn es ist das System, das durch diesen Präsidenten eine Verständigung zu suchen scheint.

Die entscheidende Frage ist: Wie weit kann Ruhani mit der Liberalisierung gehen, ohne dieses System dabei zu gefährden? Wie viel Liberalisierung kann die Islamische Republik Iran überhaupt vertragen?

Die Antwort darauf wird man nur bekommen können, wenn der Westen Ruhanis Avancen nicht rundweg ablehnt. Die Öffnung muss befördert werden. Und dann werden wir sehen, wie viel davon der Iran verträgt.

 

Der Antagonist als Partner

Die USA und Russland haben ein Chemiewaffenabkommen zu Syrien geschlossen. Ein Abkommen, das fast durch die Bank eine schlechte Presse bekommen hat: Es sei undurchführbar, es legitimiere den Schlächter Assad und es sei außerdem ein Verrat an den Rebellen. Das mag alles sein. Es stimmt aber auch, dass zum ersten Mal in Sachen Syrien etwas in Bewegung geraten ist. Bisher war noch jede diplomatische Initiative im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gescheitert – am Widerstand der Russen und der Chinesen. Doch jetzt haben sich nicht nur Amerikaner und Russen geeinigt, sondern es gibt auch noch einen Sonderapplaus aus Peking.

Plötzlich muss man sich eine Frage stellen, die in all dem Kriegsgetöse untergegangen ist: Könnte es sein, dass der Krieg in Syrien doch auf diplomatischem Weg beigelegt werden kann? Wenn es gelänge, wäre es zwar ein weiter Weg dahin. Doch zumindest ist es jetzt Zeit anzuerkennen, dass zwei der wichtigsten Akteure in Syrien – die USA und Russland – sich zusammengefunden haben. Dafür gibt es drei Gründe: Die USA sind kriegsmüde, Russland will zeigen, dass es in Nahost entscheidend mitspielen kann und beide zusammen haben keinerlei Interesse daran, dass Chemiewaffen eingesetzt werden.

Nicht nur in Washington, sondern auch in Moskau dürfte die Giftgasattacke in der Ghuta-Ebene bei Damaskus einen erheblichen Schrecken erzeugt haben. Beide Staaten fürchten, dass die C-Waffen in die Hände von islamistischen Extremisten geraten können. Denn nicht nur die USA haben ein Problem mit Extremisten, auch Russland hat mit islamistischem Terror aus und in Nordkaukasus-Republiken wie Dagestan oder Inguschetien zu kämpfen.

Das jetzt getroffene Abkommen nutzt Assad und es schadet den Syrern, die gegen ihn kämpfen. Das ist auf den ersten Blick richtig. Doch würde das Abkommen wirklich in die Tat umgesetzt, verliert Assad seine Chemiewaffen – und ein Diktator ohne diese fürchterliche Waffe ist besser als ein Diktator mit ihr. Schließlich gilt auch, dass Russlands Putin an Assad aus rein taktischen Gründen festhält. Er stützt ihn, weil er Russlands Position im Nahen Osten nicht verlieren will, nicht, weil er Assads überzeugter Anhänger ist. Wenn es andere Möglichkeiten gibt, dieses Ziel zu erreichen, dann werden die Russen Assad fallen lassen.

Putin ist deswegen noch lange keine Freund des Westens, sondern er ist ein Antagonist. Er ist schon gar nicht eine Friedenstaube. Er kalkuliert kalt. Möglich, dass aus dieser Kälte Frieden entsteht – als fragiles Nebenprodukt.