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Kein Krieg ohne Koalition

Wer Chemiewaffen einsetzt, muss dafür bestraft werden. Die Frage aber ist: Wer straft mit welchen Mitteln? Die Vereinten Nationen können das höchste Maß an Legitimation für eine wie auch immer geartete Intervention bieten. Doch der UN-Sicherheitsrat findet schon seit zweieinhalb Jahren keine einheitliche Linie zu Syrien. Auch nach dem Chemiewaffeneinsatz von Damaskus bleibt der Sicherheitsrat tief gespalten. Russland stützt seinen Verbündeten, den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, die USA wollen ihn loswerden.

Die UN als Legitimationsquelle für eine militärische Intervention fallen also zum jetzigen Zeitpunkt aus. Der amerikanische Präsident Barack Obama ist entschlossen, auch ohne ein Mandat der UN zu handeln. Das ist nicht nur völkerrechtswidrig, sondern politisch äußerst problematisch. Wer Krieg führen will,  muss sich um eine möglichst breite Koalition bemühen. Präsident George H. W. Bush senior hat das im Irakkrieg des Jahres 1991 vorgemacht. Der irakische Diktator Saddam Hussein hatte damals Kuwait besetzt. Bush senior scharte fast die ganze Welt hinter sich und vertrieb dann Saddams Truppen aus Kuwait. Dieser amerikanische Feldzug war politisch abgesichert und darum relativ erfolgreich.

George W. Bush junior nahm sich an seinem Vater kein Beispiel. Er brach 2003 den Irakkrieg vom Zaun, gegen erheblichen Widerstand hatte er ihn durchgezogen. Damals glaubten die USA, dass militärische Überlegenheit allein genügt. Die Führungsmacht des Westens leidet bis heute unter den Folgen dieses Irrglaubens.

Obama ist nicht George W. Bush junior. Er ist nicht machttrunken. Auch deswegen zögert er und versucht, Verbündete zu finden. Bisher mit mäßigem Erfolg. Nur Frankreich ist bereit, mit den USA militärisch in Syrien einzugreifen. Die restlichen europäischen Regierungen sagen zwar, dass der Chemiewaffeneinsatz Konsequenzen haben muss, aber einen militärischen Schlag wollen sie nicht unterstützen. Auch im Nahen Osten findet Obama kaum Unterstützer. In der Region hat sich nur die türkische Regierung bereit erklärt, aber die Mehrheit der türkischen Bevölkerung ist dagegen.

Obama will Assad trotzdem bestrafen. Er geht davon aus, dass er für den Chemiewaffenangriff verantwortlich ist, auch wenn das noch nicht einwandfrei bewiesen ist. Syrien hat das Genfer Protokoll aus dem Jahr 1925 unterschrieben, das den Einsatz von Chemiewaffen verbietet. Das rechtfertigt Sanktionen.

Die USA treten also als Strafinstanz auf, die im Zweifel auch allein losschlagen will. Militärisch sind sie dazu in der Lage. Das kann man Führungskraft nennen, doch in diesem Fall ist es ein Ausdruck von Schwäche. Die USA sind immer dann am stärksten gewesen, wenn sei beides hatten: eine schlagkräftige Armee und überzeugende Argumente.

Der Einsatz von Chemiewaffen muss Konsequenzen haben. Die politischen Bedingungen für eine militärische Intervention aber sind nicht gegeben. Der Krieg in Syrien ist ein Stellvertreterkrieg. Russland und Iran unterstützen Assad, Saudi-Arabien, die Türkei und die USA unterstützen die Rebellen. Greift Obama ein ohne Zustimmung der UN oder ohne die Unterstützung durch eine sehr breite Koalition, dann provoziert er eine direkte Antwort der Verbündeten Assads. Dann kann dieser Krieg völlig außer Kontrolle geraten.

 

Kriegseinsätze in die Parlamente

Es ist leicht in Deutschland über das Für und Wider einer kriegerischen Intervention zu streiten – denn wie auch immer die Debatte ausgeht: Die Deutschen zahlen keinen oder einen vergleichsweise geringen Preis für den Krieg. So sehr sich Befürworter und Gegner einer Intervention in Syrien derzeit auch in den Haaren liegen mögen, so sehr sind sie in diesem Wissen vereint. Der größte deutsche Pazifist ist ein Ohnemichl und der größte deutsche Krieger ein Papierkrieger. Was wir hier erleben ist also die Simulation einer Debatte.

Das ändert sich gerade eine wenig, Dank des amerikanischen Präsidenten Barack Obama. Er nämlich hat entschieden, den Kongress über eine Intervention in Syrien beraten zu lassen. Seitdem erleben wir Unerhörtes, eine öffentliche, breite, intensiv geführte Auseinandersetzung über einen möglichen Kriegseinsatz. Und sie ist nicht auf die USA beschränkt. Selbst Frankreichs Präsident François Hollande versucht jetzt in der Nationalversammlung, einen Konsens zu finden, Großbritanniens Premier Cameron hat es bereits getan, mit dem bekannten Ergebnis.

Wir erleben also eine Demokratisierung der Kriegsentscheidung. Das ist eine Folge des Irakkrieges, der nicht nur mit Lügen begründet,  sondern gegen jeden Widerstand durchgezogen wurde. Man sollte daran erinnern, dass im Jahr 2003 weltweit Millionen Menschen gegen den Irakkrieg demonstriert hatten. Sie wurden damals von einem machttrunkenen Amerika missachtet, ebenso wie von vielen europäischen Regierungen, die glaubten mit den USA in den Krieg ziehen zu müssen.

Barack Obama hat daraus die Konsequenzen gezogen. Er sucht Unterstützung, nicht nur in den USA. Das ist ein unerhörter Schritt, der auch für die deutsche Debatte Konsequenzen haben wird. Die Frage steht heute in einer ganz anderen Körperlichkeit in den deutschen Wohnzimmern, sie ist drängend und fordernd.

Es ist jetzt nicht mehr so einfach, „dagegen“ oder „dafür“ zu sein, denn Obama hat den Raum für eine politische Debatte geöffnet. Freilich, er wird in seiner Eigenschaft als Präsident letztlich die Entscheidung über einen Kriegseinsatz treffen. Doch bis dahin werden die Argumente öffentlich abgewogen, bis dahin darf man das Gefühl haben, den Gang der Ereignisse zu beeinflussen zu können – auch in Deutschland.

 

Giftgas ist keine Waffe unter vielen

100.000 Menschen sind im syrischen Bürgerkrieg ums Leben gekommen. Das hat zu keiner militärischen Intervention des Westens geführt. Jetzt sind rund 1.500 Menschen in Damaskus durch den Einsatz von Giftgas gestorben. Und plötzlich will Barack Obama eine Intervention. Sind denn 100.000 Tote nicht etwa entsetzlicher als die knapp 1.500 Opfer des Gases, wie David E. Sanger in der New York Times schreibt?

Diese Logik unterstellt, dass es egal ist, durch welche Waffe man ums Leben kommt. Das mag für die Toten gelten, aber nicht für die Lebenden. Das hat der amerikanische Präsident erfasst. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob Menschen durch Giftgas getötet werden oder durch konventionelle Waffen. Giftgas ist ein Massenvernichtungsmittel. Sicher, auch Bomben und Geschosse töten massenweise Menschen. Das geschieht gerade in Syrien. Doch sie sind nicht als Massenvernichtungsmittel konzipiert worden. Giftgas allerdings schon. Dieses Kampfmittel ist dazu entwickelt worden, alles Menschliche auszulöschen, egal ob es Soldaten oder Zivilisten sind. Es ist ein Instrument des Terrors. Der Einsatz von Giftgas ist aus gutem Grunde durch eine Reihe von internationalen Abkommen verboten.

Chemische Kampfstoffe haben nicht nur eine verheerende Wirkung, sie sind auch relativ einfach herzustellen. Die japanische Sekte Ōmu-Shinrikyō etwa verübte 1995 in der Tokioter U-Bahn ein Attentat mit Senfgas. Dabei kamen 13 Menschen ums Leben, Tausende wurden verletzt. Ōmu-Shinrikyō hatte das Gift vermutlich selbst zusammengebraut. Fast alle Staaten der Welt haben das Abkommen zum Verbot chemischer Kampfstoffe unterschrieben, weil sie auch die Sorge haben, die Verbreitung dieser Waffen nicht anders kontrollieren zu können.

Vor allem aber verletzt der Einsatz von Giftgas einen symbolischen Raum. Wer es in welchem Konflikt auch immer gebraucht, behandelt Menschen wie Ungeziefer. Wer es einsetzt, hat den Gipfel der Unmenschlichkeit erreicht.

Wie man darauf reagiert, darüber wird gerade diskutiert. Und es ist gut und richtig, dass sich Obama dafür Zeit genommen und den Kongress in die Entscheidung mit einbezogen hat. Doch man kann nicht so tun, als sei Giftgas eine Waffe unter vielen. Wer das behauptet, der muss die Sache zu Ende buchstabieren: Der muss sagen, dass wir künftig in einer Welt leben werden, in der man Chemiewaffen ungestraft einsetzen kann.

 

Bomben auf Syrien sind das Ende des moderaten Iraners Rohani

Der Westen wird einen Militärschlag in Syrien führen. Das scheint sicher. Welche Folgen diese Intervention hat, ist sehr schwer vorauszusehen, da es in Syrien eine ganze Reihe von Akteuren gibt. Dazu gehören nicht nur das Regime Assads und die zahlreichen Rebellengruppen, es zählen auch regionale Mächte dazu wie Iran, Saudi Arabien, die Türkei und Israel – sowie Russland und die USA. Wenn der Westen eingreift, dann verändert sich die Lage und wir wissen nicht, wie alle diese Akteure reagieren werden. Anders gesagt: Die Risiken eines Militärschlages sind zu weiten Teilen unkalkulierbar.

Eines allerdings kann man jetzt schon sagen: Bombardieren die USA Syrien, dann sind die Nuklearverhandlungen mit dem Iran tot. Damit verschärfen sich die Spannungen mit dem größten Land des Mittleren Ostens. Ein Krieg gegen den Iran rückt damit als Folge einer Intervention in Syrien näher, denn Israel und die USA haben immer wieder betont, dass sie einen nuklear bewaffneten Iran nicht tolerieren werden. Der Iran ist aber nicht nur einer der mächtigsten Staaten der Region, er ist auch einer der wenigen, die noch stabil sind. Von Tunesien über Ägypten bis in den Irak spannt sich derzeit ein Bogen der Instabilität.

Das „iranische Opfer“ einer westliche Intervention in Syrien hat einen Namen: Hassan Rohani. Der am 3. August vereidigte neue Präsident Irans hat viele Hoffnungen geweckt, im Iran wie auch im Westen. Er hat in seinem Wahlkampf immer wieder betont, dass er die Nuklearkrise lösen möchte. Er hat dies zu einer Priorität seiner Politik gemacht.

Nun ist Rohani gewiss eine Mann des Systems, doch er ist von einer Mehrheit der Iraner gewählt worden. Und der Wählerauftrag an ihn ist klar: Beende die internationale Isolation unseres Landes!

Wenn US-Raketen auf Damaskus niedergehen, dann wird Rohani keinen Weg mehr finden können, mit den USA zu reden. Das Syrien Assads ist nämlich ein enger Verbündeter Irans. Und Iran hat den Westen immer wieder eindringlich vor dem Eingreifen gewarnt. Selbst wenn Rohani auch im Falle eines Militärschlages immer noch mit dem Westen reden wollte, er könnte nicht mehr. Denn täte er es, würden ihn die Hardliner im eigenen Land in die Zange nehmen. Bomben auf Syrien machen aus Rohani eine lahme Ente – nicht einmal einen Monat nach seinem Amtsantritt. Das ist ein dramatischer politischer Kollateralschaden.

Nun werden Hardliner sagen, dass dieser Schaden nicht ins Gewicht falle, weil Teheran ohnehin nicht ernsthaft verhandeln wolle. Doch das ist eine zweifelhafte Behauptung.

 

 

Kind des Westens

Wenn wir zur Zeit auf die arabischen Länder blicken, dann vor allem nach Ägypten, nach Syrien oder nach Tunesien. Nicht aber nach Libyen. Das ist verständlich, denn Libyen ist für die Zukunft des Arabischen Frühlings nicht entscheidend, Ägypten und Syrien sind es schon.

Dennoch hat der libysche Fall eine Besonderheit, die schwer wiegt: Es ist der einzige Staat, in dem der Westen militärisch aktiv eingegriffen hat. Nato-Kampfbomber waren die Luftwaffe der Rebellen. Sie haben den Diktator Muammar al-Gaddhafi zur Strecke gebracht. Das heutige Libyen ist ein Ergebnis westlicher Intervention — es ist ein Kind des Westens. Schon allein darum gebührte ihm mehr Aufmerksamkeit.

Also schauen wir, wie es dem Land geht, was sich dort in den vergangenen zehn Tagen ereignet hat.

Am 27. Juli erschoss ein Attentäter in der ostlibyschen Stadt Bengasi Abd al-Salam al-Musmari. Der Rechtsanwalt war einer der Führer des Aufstandes gegen Gaddhafi. Nach dessen Sturz wurde Al-Musmari zu einem scharfen Kritiker der bewaffneten Milizen wie auch der Regierung. Nach dem Attentat auf Al-Musmari stürmten Hunderte aufgebrachte Männer das Büro der Muslimbrüder im Bengasi. Am Samstag darauf flohen fast 1.200 Häftlinge aus dem Gefängnis der Stadt, Bewaffnete sollen ihnen die Flucht ermöglicht haben. Am Sonntag explodierten in Bengasi vor zwei Gerichtsgebäuden Kofferbomben und verletzten 43 Menschen.

Nicht viel besser ist es in der Hauptstadt Tripolis. Am Donnerstag gab das Innenministerium bekannt, es habe 12 Bomben vor dem Radisson Hotel entschärft. Am 25. Juli wurde die Botschaft der Vereinigten Arabischen Emirate angegriffen. Zwei Tage davor schlug eine Rakete zwischen einem Appartementhaus und dem Hotel Corinthia ein, wo viele internationale Unternehmen ihren Sitz haben, zudem liegen dort die britische und kanadische Vertretung. Die USA und Großbritannien haben ihr Botschaftspersonal bereits abgezogen. Die Nato bezeichnet Libyen heute als das größte offene Waffenarsenal der Welt.

Es ist also ein Bild des Schreckens, das dieses Land bietet.

Hätte man wissen können, dass es so kommt? Die Antwort lautet leider: ja. Es gab reichlich Stimmen, die davor warnten, dass es bei einem Sturz Gaddhafis zu einer lang anhaltenden Instabilität kommen werde, die in die gesamte Region ausstrahlen wird.

Wäre es also besser, wenn Gaddhafi noch an der Macht wäre? Die Frage zu stellen, ist müßig, denn im Frühjahr 2011 brach ein Aufstand gegen den Diktator aus. Nach mehr als einem halben Jahr des Kampfes stürzte Gaddhafi.

Die Frage, die man sich angesichts der Lage in Libyen aber vorlegen muss, lautet: War die militärische Intervention des Westens sinnvoll? Was kann man daraus für die Zukunft lernen?

Die Befürworter werden sagen: „Ja, sie war sinnvoll, denn es ist Schlimmeres verhindert worden!“ Hätte der Westen nicht interveniert, so das Argument, hätte Gaddhafi den Aufstand niedergeschlagen. Man warf ihm genozidale Absichten vor und zitierte die schuldhafte Untätigkeit des Westens in Ruanda im Jahr 1994. Damals fielen rund 800.000 Menschen einem Völkermord zum Opfer.

Der Vergleich mit Ruanda war immer überzogen. Er sollte aber eine Intervention rechtfertigen. Vermutlich wäre es ohne westliche Intervention zu einem Abnutzungskrieg zwischen Rebellen und Gaddhafi gekommen – so, wie wir ihn jetzt seit mehr als zwei Jahren in Syrien erleben.

Die Gegner einer Intervention sagen: „Nein, die Intervention war nicht sinnvoll, weil sie Libyen in einen gefährliches, instabiles Land verwandelt hat!“ Dieses Argument ist nur teilweise richtig. Sobald der Aufstand ausgebrochen war, konnte Gaddhafi keine Stabilität mehr garantieren.

Aus der schlimmen Lage, in der sich Libyen befindet, muss der Westen folgende Lehre ziehen: Er sollte nur intervenieren, wenn er sicher sein kann, dass er die Folgen seines Handelns einigermaßen kontrollieren und die Zeit nach der Intervention wesentlich mitgestalten kann. Das ist für Libyen offenbar nicht Fall, und für den Irak und Afghanistan auch nicht.

 

Moskaus kaltes Syrien-Kalkül

Baschar al-Assad scheint derzeit im syrischen Bürgerkrieg die Oberhand zu gewinnen. Zumindest über wichtige Teile Syriens. Das kommt für viele Beobachter überraschend. Als der Aufstand gegen den Diktator vor mehr als zwei Jahren begann, rechnete kaum jemand damit, dass er lange wird bestehen können. Das war eine Fehlkalkulation. Wie konnte das passieren?

Ein Schlüssel für Assads „Erfolg“ liegt in Teheran. Iran hat vom ersten Tag des Konfliktes an klar gemacht, dass man alles tun werde, um den Verbündeten in Damaskus zu halten. Den Krieg gegen Assad versteht das Regime in Teheran als existenzielle Bedrohung. Es schickt Waffen, Militärberater und Kämpfer nach Syrien.

Die bedeutendere Schutzmacht des Assad-Regimes ist aber Russland. Bis vor Kurzem erschienen Moskaus viele Njets in Sachen Syrien wie die lästigen Begleitgeräusche einer ehemaligen Supermacht, die ihren Abstieg nicht verwunden hat – lautes Bellen, aber kein Biss. Doch Moskau hat zugebissen, zuletzt mit der Ankündigung, dem Assad-Militär weiterhin die hypermodernen Jachont-Raketen zu liefern.

Das war ein Affront gegen den Westen. Jachont-Raketen wirkten wie ein Abschreckungsmittel. Der Westen sollte begreifen, dass ihm eine Intervention in Syrien einen hohen Preis abverlangt. Und den Preis bestimmt Moskau wesentlich mit. Das war zwar dreist, aber erfolgreich. Der Kreml bestimmt zum jetzigen Zeitpunkt das diplomatische Spiel um Syrien.

Der Westen hat keinen Plan für Syrien und gleichzeitig Skrupel. Zum einen davor, Waffen zu liefern, weil sie in die Hände von Dschihadisten geraten könnten. Und zum anderen davor, selbst Soldaten in ein unberechenbar gefährliches Kriegsgebiet zu schicken. Das ist der Grund für Russlands derzeitige „Stärke“ im Syrienkrieg. Der russische Präsident Wladimir Putin weiß genau, was er in Syrien will. Er ist bereit, ohne jede Rücksicht seine Ziele durchzusetzen. Auch gemeinsam mit dem Iran.

Moskau fühlt sich vom Westen seit Jahren gedemütigt und zurückgedrängt. Syrien ist die Gelegenheit, um nun deutlich zu sagen: „Bis hier und nicht weiter!“ Das heißt nicht, dass Russland Assad auf Dauer und um jeden Preis stützen wird. Es soll aber klar werden, dass es gegen den Willen Russlands keine Lösung geben kann. Um in diese Position zu kommen,  haben sie Assad politisch, diplomatisch und militärisch unterstützt. Man kann mit gutem Recht sagen, dass Waffenlieferungen an den Diktator Assad verbrecherisch sind – doch aus Moskauer Sicht waren sie politisch erfolgreich.

 

Belgrad muss die Integrität Bosniens sichern

Serbien will in die EU. Dazu muss es sich mit seinen Nachbarn aussöhnen. Das ist nicht einfach. Denn Serbien hat während des Jugoslawienkrieges beträchtliche Schuld auf sich geladen. Serbische Milizen haben 1995 im bosnischen Srebrenica 8.000 bosnische Männer massakriert. Es war das schlimmste Massenverbrechen auf europäischem Boden nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag stuft das Massaker von Srebrenica als Völkermord ein. Er hat dem serbischen Staat bereits 2007 eine Mitverantwortung an den Gräueltaten im Bosnien-Krieg zugewiesen.

Nun hat der serbische Staatspräsident Tomislav Nikolić in einem Fernsehinterview gesagt: „Ich bitte auf Knien darum, dass Serbien für dieses in Srebrenica begangene Verbrechen verziehen wird“ – das Wort Völkermord wollte er nicht aussprechen. Im Jahr 2010 hatte das serbische Parlament den Hinterbliebenen des Massakers zum ersten Mal sein Mitleid ausgesprochen. Boris Tadić, Nikolićs Vorgänger, hat bei den Trauerfeierlichkeiten teilgenommen, die jedes Jahr in Srebrenica stattfinden. Nikolićs jetzt geäußerte Bitte um Vergebung ist also ein weiterer Schritt in Richtung. Nikolić ist im Mai 2012 zum Präsidenten Serbiens gewählt worden.

Bis dahin hatte er als strammer serbischer Nationalist die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag abgelehnt. In Den Haag sitzen Ratko Mladić und Radovan Karadžić — ihnen wird die Hauptverantwortung für das Massaker in Srebrenica gegeben. Sie hielten sich bis zu ihren Festnahmen in Serbien versteckt. Nikolić hat also als Staatspräsident eine Wende vollzogen. Der Grund dafür ist die Anziehungskraft der EU. Nikolić weiß, dass die Zukunft Serbiens in der EU liegt. Alle ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken wollen Mitglied in der EU werden. Slowenien ist es bereits, im Juli wird Kroatien beitreten. Serbien möchte nun diesen Zug nicht verpassen. Darum das öffentliche Schuldeingeständnis Nikolićs.

In diesem Kontext ist auch das Abkommen zu sehen, dass Serbien mit dem Kosovo geschlossen hat. Bisher hatte Serbien die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkannt. Das nun geschlossene Abkommen ist zwar keine formelle Anerkennung, aber de facto ein Eingeständnis, dass das Kosovo nicht mehr Teil des serbischen Staatsgebietes ist. Auch das Verhältnis zum Kosovo war ein entscheidender Stolperstein auf dem Weg zur EU. Alles auf gutem Wege also?

Nein, denn das zentrale Thema ist noch nicht berührt worden: die Zukunft des bosnischen Staates. Die Bosnier haben während des Krieges am meisten gelitten. 83 Prozent aller zivilen Opfer waren Bosnier. Während des Krieges haben Serbien wie auch Kroatien versucht, Bosnien unter sich aufzuteilen. Das ist nicht gelungen. 1995 intervenierte die Nato im Bosnienkrieg und erzwang einen Frieden. Heute ist Bosnien ein fragiles Staatsgebilde, das aus zwei Entitäten besteht, der serbischen Republika Srpska und der bosnischen Föderation. Doch die Integrität des bosnischen Staates ist nicht gesichert.

Es besteht der begründete Verdacht, dass Serbien den bosnischen Staat in seiner jetzigen Form immer noch nicht akzeptiert. Nikolić selbst nährt diese Furcht. Jüngst bezeichnet er sich und den Präsidenten der Republika Srpska, Milorad Dodik, als die Führer „der beiden serbischen Staaten“. Damit stellte der den bosnischen Gesamtstaat infrage. Wenn Nikolić Serbien aber in die EU führen möchte, muss er Bosnien unmissverständlich und glaubwürdig akzeptieren.

 

Was Drohnen anrichten

Drohnen töten den Feind aus der Distanz, präzise und billig. Eigene Soldaten sterben dabei nicht. Opfer unter den Zivilisten werden minimiert. Das ist der ideologische Kern des Drohnenkrieges. Er ist sehr verführerisch. US-Präsident Barack Obama setzt seit geraumer Zeit auf Drohnen und mehr und mehr Regierungen folgen seinem Beispiel. Die Aufrüstungsspirale ist im vollen Gange. Über neunzig Staaten entwickeln Drohnen oder haben sie bereits.

Auch der deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière ist ein erklärter Drohnenanhänger, nur aus Wahlkampf-Gründen ist er jetzt von der Idee abgerückt, die Bundeswehr umgehend mit bewaffneten Drohnen auszustatten. Wie seine Amtskollegen verspricht auch er sich Sicherheit durch diese neue Waffentechnik.

Die Realität freilich sieht anders aus. Drohnen werden heute fast nur in Stammesgebieten eingesetzt – im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan, in Jemen, in Mali, auf den südlichen Philippen, in Somalia. Die Stämme haben ihren eigenen Ehrenkodex: „Wenn Sie in diesen Gebieten einen Menschen töten, schaffen Sie sich vielleicht 100 Feinde!“ Das sagt der pakistanische Autor Achbar Ahmed. Er hat ein ebenso erschütterndes wie aufklärendes Buch über den Drohnenkrieg geschrieben: The Thistle and the Drone.

Man kann dort nachlesen, was die Drohnenkrieger nicht hören und nicht sehen wollen. Dieser Krieg wird gegen sehr rückständige Gesellschaften geführt, er zerstört ihren sozialen Zusammenhalt, er radikalisiert sie und zwingt sie geradezu zur Reaktion.

Unsere fortgeschrittenen Gesellschaften führen also einen erbarmungslosen Krieg gegen Stämme. Das Ergebnis ist noch mehr Gewalt — sie destabilisiert die betroffenen Staaten. An Pakistan lässt sich das am besten zeigen. Je stärker man den Krieg in den Grenzregionen intensivierte, desto härter waren die Reaktionen. Die pakistanischen Taliban wurden mit dem Beginn des Drohnenkrieges stärker. Sie sind heute eine Bedrohung für den Staat. Der Hass gegen den Westen wächst in der pakistanischen Gesellschaft insgesamt.

Achbar Ahmed kennt die Stammesgesellschafen. Er hat als politischer Beamter im Grenzgebiet zu Afghanistan gearbeitet. Er weiß um ihre Rückständigkeit, wie auch um ihren Stolz und den eisernen Willen, die eigene Identität zu verteidigen. Und er weist auf etwas hin: Auch Osama bin Laden war ein Stammeskrieger.

 

Die M5S verhöhnt Italiens Wähler

Die Bewegung Movimento 5 Stelle (M5S) von Beppe Grillo nimmt für sich in Anspruch, die einzige Kraft Italiens zu sein, die einen Wandel will. Das ist ihr gutes Recht. Verstörend bei Grillo sind seine Sprache, seine Arroganz und seine autoritären Neigungen. Nach Grillos Diktion sind alle anderen politischen Parteien nichts weiter als Angehörige eines morschen Systems, das zum Untergang verurteilt ist. Jeden Versuch der etablierten Parteien, Italien eine Regierung zu geben, verspottet Grillo.

Das ist ein schwerer Fehler. Wenn Grillo und seine Leute sich über die anderen Parteien lustig machen, dann verhöhnen sie die große Mehrheit der Wähler, die nicht für die M5S gestimmt hat. Angesichts der Propaganda Grillos muss man daran erinnern: Ein Viertel der Italiener, die wählen gegangen sind, haben für M5S gewählt — eine Mehrheit ist das bei Weitem nicht.

Doch Grillo und sein M5S führen sich auf, als seien sie die einzigen Repräsentanten des italienischen Wahlvolkes. Das sind keine rein propagandistischen Aussagen, sondern sie zeigen den ideologischen Kern Grillos. Er sieht sich als Inkarnation eines imaginierten Volkswillens. In ihm und durch ihn spricht das Volk mit einer Stimme. Darum sagt er auch, er wolle nicht „25, 30 oder 60 Prozent, sondern 100 Prozent“ der Stimmen. Grillo sieht sich als Mann, in dem sich der uniforme Volkswillen manifestiert. Der Führer als Agent des Volkes — das ist ein gefährliches ideologisches Konstrukt.

Es gibt den einen Volkswillen freilich in der Wirklichkeit nicht. Die italienische Gesellschaft besteht — wie jede andere moderne Gesellschaft auch – aus Individuen mit unterschiedlichen Interessen. Und diese Individuen wählen Parteien, darunter (immer noch) auch etablierte Parteien. Wenn Grillo den Willen der Wähler wirklich respektieren würde, dann müsste er tun, was zu den schwierigsten und wichtigsten Aufgaben des Politikers gehört: Kompromisse suchen.

 

Grillo und die zähmende Kraft des Parlamentes

Beppe Grillo lebt von der permanenten Erregung. Daher verstärkt der Führer des Movimento 5 Stelle (M5S) seine Attacken auf das System — wie er es nennt. Er will seinen Zusammenbruch erreichen. Grillo setzt auf Schnelligkeit. Er muss das tun. Denn die revolutionäre Hochstimmung seiner Anhänger wird bald verfliegen. Revolutionäre sind Kurzstreckenläufer. Die lange Strecke ist ihre Sache nicht. Das ist ihre Schwäche.

Der Marathon ist hingegen die Spezialität der viel gescholtenen repräsentativen Demokratie. Sie ist langsam, mühselig, und doch leistet sie das Entscheidende: Sie stellt über viele Verfahren den Konsens her, den eine Gesellschaft benötigt. Dafür braucht es Zeit. Die aber will ihr Grillo nicht lassen, die darf er ihr nicht lassen, wenn er weiter Erfolg haben will. Darum ist der entscheidende Kampf, der im Moment in Italien stattfindet, der Kampf um die Zeit.

Grillos Problem ist, dass sich seine M5S jetzt durch den Wahlsieg im Herzen der Demokratie befindet, im Parlament. Und je länger die Grillini dort sitzen, desto mehr bekommen sie das Eigengewicht und die Struktur dieser Institution zu spüren. Ein Präsident wird gewählt, Fraktionen werden gebildet, Ausschüsse besetzt und vieles mehr. Strukturen aber fürchtet Grillo. Bei ihm ist alles Bewegung. „Wir haben keine Strukturen, Hierarchien, Chefs, Sekretäre“ — das sagt Grillo über den M5S. Es muss alles im Fluss bleiben. Nur dann kann er sich als autoritärer Führer halten.

Grillo will deshalb möglichst bald wieder aus dem Parlament auf die Straße. Er will Neuwahlen und hofft dann seine Truppen soweit verstärken zu können, dass die M5S dem „morschen System“ den Todesstoß versetzen kann. Im Interview mit Time sagte er: „Wir wollen nicht 25, oder 30 Prozent, sondern 100 Prozent!“ Alles oder nichts.

Doch inzwischen verrichten die Institutionen ihr zähes Werk. Sie stellen qua Verfahren die Abgeordneten der M5S vor die Frage: Wen unterstützt ihr? Wen wählt ihr? Zuletzt mussten der Senat und die Abgeordnetenkammer bestimmt werden. Grillo wollte, dass die M5S niemanden unterstützten. Doch einige Grillini haben die Kandidaten der Sozialdemokraten unterstützt. Diese Abweichler sind dem Gewicht der Institutionen erlegen. Man könnte auch sagen: Sie haben verstanden, dass sie nun, da sie gewählt sind, Verantwortung für das ganze Land haben.