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Netzfilm der Woche: „A Truncated Story of Infinity“

© Paul Trillo
© Paul Trillo

Was wäre, wenn? In Paul Trillos Kurzfilm A Truncated Story of Infinity geht es um diese alltägliche Frage: Was wäre, wenn Vincent (Subjekt X) die fremde Frau auf der Straße (Subjekt Y), ansprechen würde. Und was wäre, wenn nicht? Vielleicht würden beide ihr Leben einfach weiterleben. Doch vielleicht gäbe es in einem unbegrenzten Universum einen anderen Ausgang der Geschichte. Oder zwei, oder drei oder eben unendlich viele.

Genau das besagt nämlich die Viele-Welten-Theorie. Diese hatte der Physiker Hugh Everett III. (der wiederum der Vater des Rockmusikers Eels ist, und über den es einen guten Dokumentarfilm hier im Netz gibt) in den fünfziger Jahren formuliert. Die Theorie besagt, stark vereinfacht, dass jeder mögliche Quantenprozess ein eigenes Universum, also eine Parallelwelt hervorbringt. Noch einfacher gesagt: Jedes denkbare Ergebnis einer Aktion findet in einem eigenen Universum tatsächlich statt, und in jeder Millisekunde entstehen Billionen neuer Universen. Das klingt ziemlich abgefahren. Doch da es keine Gegenbeweise gibt, ist diese Theorie in der Quantenphysik durchaus anerkannt.

Glücklicherweise beschäftigt sich Trillo nicht mit den physikalischen Hintergründen. In A Truncated Story of Infinity geht es um das Alltägliche, nämlich das Treffen zweier fremder Menschen auf der Straße. Nach und nach exerziert der Film die Möglichkeiten durch, die letztlich zu einem romantischen Treffen der beiden Testsubjekte führen könnten – oder eben nicht. Die beiden Protagonisten sind Testsubjekte, da der Film von einer dozierenden Stimme erzählt wird, der die Theorie der Unendlichkeit an diesem Beispiel erklärt.

Dabei nimmt sich weder der Erzähler noch der Film allzu ernst. Im Gegenteil, Trillos Arbeit lebt von cleveren Schnitten und einem subtilen Humor, den der Erzähler beiläufig einbaut und der sich in den alltäglichen, banalen Abenteuern des Protagonisten spiegelt. Und der am Ende ebenso wie die Zuschauer zu einer sehr beruhigenden Erkenntnis gelangt: „Auf einmal war alles verloren, doch irgendwo anders kann es gefunden werden.“

 

Netzfilm der Woche: „Barcelona GO!“

© Rob Whitworth
© Rob Whitworth

Unter reisenden Filmemachern sind Timelapse-Videos die Postkarten des 21. Jahrhunderts. Seit einigen Jahren gibt es kaum einen Ort der Welt, von dem es auf Vimeo oder YouTube keine Zeitraffer-Aufnahme gibt. Beliebt sind vor allem große Städte, große Landschaften und der Nachthimmel, gerne mit Hyperlapse, in der die Kamera zwischen den Aufnahmen bewegt wird oder mit Tilt-Shift-Effekt, der die Menschen in kleine Modellfiguren verwandelt. Ganz wichtig ist auch, die Videos mit möglichst opulenter Musik zu untermalen. Das resultiert dann meist in netten Bildern, aber es sind eben Postkartenfilme: Man hat sie irgendwie alle schon hundertmal gesehen.

Bis auf einige Ausnahmen. Eine beeindruckende Arbeit ist etwa Michael Shainblums Mirror City, das die Aufnahmen zu Kaleidoskopen spiegelt. Namibian Nights von Squiver, der die Namib-Wüste zum Leben erweckt, oder die beeindruckenden Aufnahmen von der ISS.

Auch Zeitraffer brauchen eine Story

Timelapse-Aufnahmen sind immer dann interessant, wenn sie mehr sind als die Summe Tausender zusammengeschnittener Bilder. Das hat auch der britische Fotograf Rob Whitworth erkannt und sich in seiner neusten Arbeit selbst übertroffen: Für Barcelona GO! hat er 363 Stunden Arbeit in eine nahtlose Flow-Motion gesteckt.

Jede Stadt, die er vorstellt, bricht Whithorth auf fünf verschiedene Kategorien herunter, die im Film vorkommen sollen. In Barcelona GO! fliegt seine Kamera durch die Stadt: Von Panoramaaufnahmen geht es hinein in enge Gassen, in die Sagrada Familia, in die Oper, aus der Dachluke wieder hinaus und mit der Seilbahn vom Hafen auf den Montjuïc.

Statt bombastischer Hintergrundmusik nimmt der Film die Menschen, Geräusche und Musik der Stadt in den Soundtrack auf. Das macht den Zuschauer nicht nur zum Beobachter, sondern auch zum Teil der Szene – und Barcelona GO! zu einem der besten Timelapse-Filme des Jahres.

 

Netzfilm der Woche: „Suburbia“

Burleigh Heads ist ein idyllischer Vorort der australischen Stadt Gold Coast und ein Paradies für Surfer. Das dachte der Filmemacher Antonio Oreña-Barlin bis zum 26. April 1990, als der Satanist Rodney Dale sich „666“ in die Hand ritzte, das Feuer eröffnete und in der Straße von Oreña-Barlin einen Menschen tötete und sieben weitere verletzte.

Fast 25 Jahre lang dachte der Regisseur und Drehbuchautor darüber nach, wie er diesen dramatischen Tag aus seinem Leben verarbeiten könne. Sein Kurzfilm Suburbia nähert sich den Ereignissen nicht dokumentarisch, sondern fiktional. Im Mittelpunkt steht Joel, der seine Freundin von der Arbeit abholen möchte, als er plötzlich etwas hört: Ein Auto fährt mit quietschenden Reifen an, ein Knall ertönt. Als Joel nachsehen will, findet er sich in einer Situation, dessen Gefahr er nur langsam begreift.

Suburbia tut gut daran, die tatsächlichen Details der Tat zu verschweigen, auf Kontext und Dialoge weitestgehend zu verzichten. Die Zuschauer wissen zu keiner Sekunde mehr als der Protagonist; die Spannung entsteht aus dem, was man gerade nicht sieht.

Eine 12-minütige Szene

Dass dies so gut funktioniert, liegt an der Filmtechnik: Suburbia besteht aus einem sogenannten One-Shot, aus einer einzigen, nahtlos gefilmten Szene. Diese Aufnahmetechnik gilt als anspruchsvoll – erst Recht über eine Länge von zwölf Minuten. Die Kamerafahrt muss genau geplant sein, Licht- und Schattenverhältnisse müssen in jeder Position stimmen, Schauspieler und Komparsen auf den Punkt genau arbeiten – ein Versprecher, und alles beginnt von vorne.

Wie Oreña-Barlin dem Blog Short of the Week erzählt, lief der Dreh alles andere als reibungslos. Das Team hatte keine Genehmigung, die Straße zu sperren, weshalb mehrmals ungewollte Passanten durch das Bild liefen. Dazu kam, dass die Lichtverhältnisse sich schnell veränderten und das Projekt gefährdeten. Erst nach mehreren Anläufen hatte Oreña-Barlin die Szene und damit den Film im Kasten. Es hat sich gelohnt: Suburbia ist ein außergewöhnlicher Kurzfilm-Thriller – und umso schockierender in dem Wissen, dass der Regisseur diese Situation tatsächlich so ähnlich erlebt hat.

 

Netzfilm der Woche: „Chinti“

chinti

Wer bei Google nach „Ameisen sind“ sucht, bekommt folgende Ergänzungen vorgeschlagen: „nützlich“, „stark“, „Insekten“. Was Google nicht vorschlägt, ist „Einzelgänger“, „wehmütig“ und „immer auf der Suche, mehr aus ihrem Leben zu machen.“ Genau das trifft auf die kleine Ameise in Natalia Mirzoyans animiertem Kurzfilm Chinti zu.

Die ist es leid, immer nur den anderen hinterherzulaufen, stets im Dienste der Kolonie und keine Zeit für die schönen Dinge des Lebens. Doch als eine Briefmarke mit dem Motiv des Taj Mahals vorbeiweht, packt die Ameise neuer Mut: Sie beginnt damit, ihren eigenen Palast zu bauen – was in der wuseligen Insektenwelt gar nicht so einfach ist.

Was sofort auffällt, ist der ungewöhnliche Stil, den Mirzoyan und ihre Kollegen des Petersburg Animation Studios dem Film verpasst haben. Die Texturen und Hintergründe in Chinti bestehen allesamt aus Teeblättern in den verschiedensten Größen und Farben. Das Baumaterial gibt dem Film einen Look, der sich positiv von den grellbunten, computeranimierten Filmen absetzt. Und zudem erstaunlich detailreich ist: Die Bewohner des Mikrokosmos in und um den Ameisenhaufen Chinti sind so liebevoll umgesetzt, dass sie glatt der Sendung mit der Maus entspringen könnten.

Chinti lief im Jahr 2012 bereits im Programm der Berlinale und konnte in den vergangenen zwei Jahren gleich mehrere Festivalpreise gewinnen, darunter auch welche für den besten animierten Kinderfilm auf dem Animage in Brasilien. Kein Wunder, schließlich sieht Chinti nicht nur toll aus, sondern erzählt gleichzeitig eine inspirierende Geschichte von persönlichen Träumen und Entschlossenheit im Angesicht widriger Verhältnisse. Vor allem lehrt Chinti eines: Dass sich hinter den kleinen Dingen oft noch etwas Größeres versteckt.

 

Netzfilm der Woche: „Life is Beautiful“

© Ben Brand/Fupe
© Ben Brand

Das einzige, was an Anton groß ist, ist seine Brille. Anton verkörpert den „kleinen Mann“, sowohl vom Körperbau her als auch im übertragenden Sinne: In einer Welt der erfolgreichen Selbstoptimierer ist er ein Versager, um ihn herum lieben und leben die großen, schönen Menschen, die über Anton hinwegsehen und ihn buchstäblich mit den Füßen treten. So beginnt der animierte Kurzfilm Life is Beautiful.

Die Metaphern hören hier nicht auf. Denn als Anton beschließt, sein Leben zu beenden, fliegt er schnurstracks am Himmel vorbei in eine bizarre Welt des Jenseits, wo ein neues Rangeln um die beste Position beginnt. Was Anton zunächst nicht weiß, ist, dass er hier kein Außenseiter mehr ist, sondern einer von vielen. Und dass mit jedem Leben, das endet, ein neues beginnt.

Der niederländische Filmemacher Ben Brand hatte die Idee für Life is Beautiful, als er noch an der Universität von Amsterdam studierte. Gemeinsam mit dem Animationsstudio Fube entwickelte er das Skript und erstellte nach und nach die Charaktermodelle, die er über Jahre hinweg auf Facebook dokumentierte. Mit einem Zuschuss der niederländischen Filmförderung konnte Brand den Film nach über zwei Jahren Planung verwirklichen.

Brand sagt, er wollte die alte Geschichte von Himmel und Erde, von Leben und Jenseits aufgreifen und mit einem interessanten Twist versehen. Dass der Film trotz der bunten Farbpalette zunächst eher tragisch wirkt und Anton ein eher wehleidiger Protagonist ist, ist ein gewünschter Kontrast. „Es ist wie die Figuren in den Filmen der Coen-Brüder“, sagt Brand. Die seien auch häufig in ihrem Aussehen beeinträchtigt, aber eben oft auch stille Helden.

 

Netzfilm der Woche: „Spitzendeckchen“

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Wenn man sagt, dass die erste Minute eines Kurzfilms die wichtigste ist, weil sie die Zuschauer anfixen muss, dann macht Spitzendeckchen alles richtig: In den ersten 90 Sekunden seilt sich eine Oma aus dem vierten Stock ab, zeigt ihrer Couch den Stinkefinger, baumelt kopfüber an der Fassade, bevor sie auf mysteriöse Weise wieder zurück in ihre Wohnung gezogen wird.

Womit wir gleich beim Thema wären. „Wir wollten eine authentische Wiener Horrorgeschichte erzählen“, sagt der Regisseur Dominik Hartl, „und da viele junge Menschen in Wien in diesen alten Häusern wohnen, haben wir einfach die Wohnung zum Monster gemacht.“

Das weiß natürlich die junge Studentin Anna nicht, als sie die Wohnung bezieht. Etwas seltsam scheint es ihr natürlich schon, dass die greise Vormieterin plötzlich auf Weltreise gehen möchte und die Wohnung für ihre stattliche Größe eigentlich ziemlich günstig ist. Doch „die Wohnung wird von der Stadt gefördert“, sagt der Vermieter – und schon ist der Mietvertrag unterschrieben. Es dauert nicht lange, bis Anna merkt, dass mit der Wohnung etwas nicht stimmt. Nach und nach enthüllt sie das Geheimnis, das seit vielen Jahrzehnten in der Wohnung schlummert.

Spitzendeckchen erzählt nicht nur eine Gruselgeschichte, die ohne große Effekte und offensichtliche Monster auskommt, sondern überzeugt auch mit seiner Produktionsqualität. Das Make-up der jungen und im Verlauf des Films alternden Protagonistin wurde am Objekt und nur zu kleinen Teilen am Computer erstellt. Die düster-morbide Wiener Altbauwohnung bauten die Macher in einem Studio nach, den Großteil der Requisiten fanden sie dabei in Wohnungsauflösungen. „Die Wohnung ist in gewisser Weise auch ein Schauspieler“, sagt Hartl, weshalb die Liebe zum Detail in diesem Fall besonders wichtig sei.

 

Netzfilm der Woche: „Foureyes“

Ein Schlag auf den Hinterkopf und Bobby Bowersox sieht die Welt mit anderen Augen. Oder sagen wir mit besseren Augen: Erst nach diesem kleinen Unfall mit einem Baseball erfährt Bobby, dass er blind wie eine Fledermaus ist und ab sofort eine Brille braucht.

Die besagte Brille bildet nicht bloß die Grundlage für den Titel des Kurzfilms Foureyes (Vierauge), sondern ist vor allem eine Metapher der Pubertät: Erst mit seiner neuen Brille kann Bobby wirklich „sehen“, was um ihn herum und mit seinem eigenen Körper geschieht. Und das ist zu Beginn alles andere als erfreulich, schließlich kann so eine Pubertät ja ziemlich gruselig sein – jedenfalls solange man nicht weiß, wo genau man eigentlich hinschauen soll.

Der US- Filmemacher Conor Byrne lässt in Foureyes kein ungemütliches Thema aus: Es geht nebenbei um Menstruation, um Masturbation, um Sexualkunde und das merkwürdige Paarungsverhalten von Eltern um die 40. Das alles ist für Bobby unbequem, nicht aber für die Zuschauer. Zu verdanken ist das der bunten Mischung aus Slapstick, amerikanischem Familienfilm und Horrorelementen. Wiederkehrende Kameraeinstellungen, absurde Dialoge und die trotzig-komische Darbietung des Hauptdarstellers Jake Ryan (Moonrise Kingdom) machen Foureyes zu einer herrlich schrulligen Angelegenheit.

 

Netzfilm der Woche: „Lila“

Carlos Lascano ist ein Romantiker. Wenn der gebürtige Argentinier nicht gerade Werbespots für bekannte Namen wie Amnesty International oder Coca Cola dreht, widmet er sich den wirklich wichtigen Themen: Der Liebe, der Familie und vor allem der Kraft der Fantasie. Darum ging es in seinem Kurzfilm A Short Love Story in Stop Motion aus dem Jahr 2008, sowie in A Shadow of Blue, den wir vor knapp zwei Jahren in diesem Blog bereits vorgestellt haben.

Lila heißt der neuste und abschließende Teil einer losen Trilogie. Lila heißt auch die Hauptfigur; eine junge Frau, die die Realität nicht einfach so akzeptieren möchte. Mit Block und Buntstiften verschönert sie sich ihren Alltag einfach selbst – den fragenden Blicken ihrer Mitmenschen zum Trotz.

Wie bereits in A Shadow of Blue, experimentiert Lascano in Lila mit verschiedenen Techniken: Lilas Vorstellungen und Träume springen von ihrem Zeichenblock in Form von Animationen in die echte Welt über. Je länger der Film dauert, desto ausgefeilter und umfassender werden sie, Realität und Fantasie verschmelzen.

Gefilmt in sonnigen, farbenfrohen Bildern und hinterlegt mit einem emotionalen Soundtrack mit opulenten Streichern, ist es leicht, Lila als kitschig abzustempeln. Doch im Verlauf der acht Minuten wird deutlich, dass hinter der träumerischen Fassade der Protagonistin ein persönlicher Verlust steht. Lila zeigt einen Weg, damit umzugehen: „Die Art, wie wir die Welt wahrnehmen, ist für mich das Ergebnis unserer Vorstellungskraft, mit dessen Hilfe kleine Details das Gesamtbild verändern können“, sagt Lascano.