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Haben Landtagswahlergebnisse Effekte auf die Bundestagswahl?

Es ist ein beliebtes Spiel am Abend nahezu jeder Landtags-, Europa- oder Bundespräsidentenwahl. Journalisten fragen Experten – meist Politikwissenschaftler – danach, welche Auswirkungen dieses regionale Wahlergebnis auf die Bundesebene haben wird. Die Experten spielen häufig mit und mutmaßen darüber, dass diese unerwartet hohen Verluste, Gewinne oder diese neue Koalitionskonstellation schon in der ein oder anderen Weise die Bundespolitik beeinflussen werde.

Aus Sicht der Wissenschaft sollte man mindestens ein Fragezeichen hinter solche Medienspiele setzen. Zum einen können die Wähler sehr wohl zwischen verschiedenen Wahlebenen unterscheiden. Gute Indikatoren sind unterschiedliche Wahlbeteiligungsraten oder die ganz unterschiedliche Bewertung von Bundes- oder Landesregierungen sowie -parteien. Und am gleichen Tag gab es schon häufig in verschiedenen Bundesländern ganz unterschiedliche Wahlergebnisse wie z.B. am 25. März 2001 in Baden-Württemberg (hier gewann die CDU hinzu und blieb in der Regierung) und in Rheinland-Pfalz (hier gewann die SPD hinzu und blieb an der Regierung). In beiden Fällen spielte die Landespolitik für die Wahlentscheidung die zentrale Rolle.

Wir wissen andererseits, dass Wahlergebnisse niedrigerer Ordnung stets zu einem variablen Grad von der Bundespolitik beeinflusst werden. Vor allem inmitten von Legislaturperioden des Bundestags gibt es häufig starke anti-gouvernementale Effekte, die dann auch die Landesparteien zu spüren bekommen. Viele Wähler protestieren auf der ihnen gerade zur Verfügung stehenden (Landes-)Ebene gegen die Bundesregierung. Dies begünstigte vor fünf Jahren die CDU im Saarland, die PDS in Thüringen und die NPD in Sachsen. Nun stehen wir am Ende der Legislaturperiode auf Bundesebene, so dass diese Effekte deutlich schwächer sein werden. Zum anderen ist vor allem die CDU nicht mehr in der Opposition, sondern führende Regierungspartei. Insbesondere für sie wird es schwieriger als 2004, zumal im Saarland, wo der Regierungschef immerhin schon zehn Jahre im Amt ist.

Mögliche Effekte von Landtagswahlergebnissen auf Bundestagswahlergebnisse sind demgegenüber vor allem eines: hoch spekulativ. Nicht vier, sondern zwei Wochen vor der Bundestagswahl 1998 fand eine Landtagswahl in Bayern statt. Die CSU gewann damals – trotz hoffnungsloser Situation der Union auf Bundesebene – hinzu und verteidigte souverän die absolute Mehrheit in Bayern. Ein Bundeseffekt dieser Wahl blieb aus, zumindest zwei Wochen später. Es gab in Umfragen zwar einen temporär positiven Effekt für die CDU/CSU in der Woche unmittelbar nach der damaligen Bayernwahl, doch bis zur Bundestagswahl war dieser Effekt verflogen. Selbst die Bayern konnten Kohl nicht retten.

Wie also sollten die drei Landtagswahlen (oder gar die Kommunalwahlen in NRW) von heute Einflüsse auf das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl am 27. September haben? Und wie sollten sie Steinmeier zurück „ins Rennen“ bringen? Sicher, systematisch ausschliessen kann man bundespolitische Effekte nicht, vor allem wenn es sich um dramatische Ergebnisse handelt. Doch wenn beispielsweise ein Ministerpräsident stürzt, hat das zwar politische Effekte, vor allem auf innerparteiliche Machtverhältnisse, aber das Wahlverhalten auf der weitaus wichtigeren politischen Ebene, dem Bund, wird davon weitgehend unbeeinflusst bleiben. Zwar entschlossen sich Schröder und Müntefering noch am Abend der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2005, vorgezogene Neuwahlen anzustreben. Doch die NRW-Wahl war lediglich der schmerzhafte Endpunkt einer langen Leidenszeit. Vorausgegangen waren Landtagswahlpleiten in Serie, ein „Heide-Mörder“ und eine Abspaltung von der SPD, die WASG. Die Lage ist 2009 eine völlig andere. Deshalb werden die Wahlen von heute vor allem eines sein: Der Startschuss für den Endspurt des Bundestagswahlkampfs 2009. Hier geht es dann um eine neue Bundesregierung. Die landespolitischen Ergebnisse von heute werden, davon sollte man ausgehen, für die Wähler dann keine Rolle mehr spielen.

 

Prognosen sind Wissenschaft – aber ohne Umfragedaten geht es wohl nicht

Letzte Woche hat Thomas Gschwend in diesem Blog eine vorläufige Prognose für den Ausgang der Bundestagswahl 2009 abgegeben. Gemeinsam mit seinem Kollegen Helmut Norpoth wagt Gschwend zum dritten Mal in Folge eine solche Prognose. Sie basiert auf einem wissenschaftlichen Prognosemodell, das einsehbar und dessen Ergebnis damit für jeden Außenstehenden nachvollziehbar ist.

Modelle wie dieses und der Mut zu einer Publikation vor der Wahl sollten uneingeschränkt gewürdigt werden. Zu Wissenschaft gehört es nicht nur, ex post zu erklären, warum eine Wahl wie ausgegangen ist, sondern auch, seriöse Prognosen abzugeben – in der Wirtschaftswissenschaft (siehe zum Beispiel die Prognosen der „Wirtschaftsweisen“) ist dies gang und gäbe. Prognosen können, und das ist das Risiko dabei, von der Realität (der Wahl selbst) gestützt oder widerlegt werden. In den Jahren 2002 und 2005 lagen die Wahlforscher richtig, und das lange vor und teilweise in Widerspruch zu den Ergebnissen und Aussagen führender Umfrageinstitute und deren „Pollster“. Dass diese zunächst spöttelten, verwundert nicht. Doch auch aus der Profession erhielten die Forscher wenig Beifall: öffenlichkeitswirksame Auftritte sind vielen Kollegen erst einmal suspekt, und insgeheim hofften wahrscheinlich nicht nur die Umfrageinstitute auf ein Scheitern des Modells. Quod esset demonstrandum!

Viel spricht dafür, dass Norpoth und Gschwend auch 2009 Recht behalten werden, auch wenn ein Erfolg dieses Mal weit weniger spektakulär wäre. Die Wiederwahl Schröders 2002 und die Große Koalition 2005 vorherzusagen, waren mutig, denn die (unreflektierten) Ergebnisse auf die hypothetische Wahlabsichtsfrage ließen einen Erfolg von CDU/CSU und FDP erwarten. Im Gegensatz dazu sprechen die demoskopischen Befunde 2009 (erneut) für einen Machtwechsel, die „Zauberformel“ diesmal allerdings auch.

Viel hängt nach der Prognoseformel vom sogenanten „Horse Race“ ab, dem bevorzugten Kanzler. Bei einer so deutlichen Unterlegenheit des Herausforderers (derzeit 25:62 im ZDF-Politbarometer) wäre alles andere als ein Sieg der Kanzlerin und ihrer Wunschkoalition mit der FDP eine Überraschung. Dennoch bleibt sowohl in der Umfrage-Realität als auch im Prognosemodell eine Hintertür offen: 50,6 Prozent bedeuten nicht, dass das Rennen – oder sagen wir besser die Wahl – schon gelaufen ist. Verschiedene Möglichkeiten, vor allem über Themenkompetenz und Mobilisierung noch aufzuholen, wurden in mehreren Beiträgen dieses Blogs bereits aufgezeigt.

Gschwend und Norpoth werden allerdings, wie bei den letzten beiden Wahlen auch, erst Mitte August eine endgültige Prognose für den Wahlausgang abgeben. Warum das? Kann das Modell doch weniger als postuliert wird? Nun ja, sagen wir es einmal so, es ist nicht ganz von kurzfristigen Entwicklungen unabhängig. Denn für die Prognose bedarf es eines kurzfristigen Indikators, den nur Umfragedaten liefern können: die Kanzlerpräferenz. Wahrscheinlich könnte es auch ein anderer kurzfristiger Indikator sein, den man allerdings wieder über Umfragen integrieren müsste: die Bewertung der Regierung, der Parteien oder gar die Wahlabsicht?

Ohne Umfragedaten, deren Erhebung und Publikation zurecht kritisch hinterfragt werden, geht es auch bei der „Zauberformel“ nicht. Dass hierfür nicht Daten verwendet werden müssen, die erst kurz vor der Wahl erhoben werden, spricht für die Erkenntnisse der Wahlforschung und deren Integration in das Modell. Die Wahlforschung weiss, dass es in den letzten Wochen vor der Wahl die Regierung und der amtierende Kanzler bzw. die amtierende Kanzlerin ist, die den Vorsprung vor der Opposition und dem Herausforderer normalerweise ausbauen. Verkompliziert wird die Lage dieses Mal dadurch, dass die Opposition nicht den Herausforderer stellt, sondern der mit auf der Regierungsbank sitzt. Die bisherigen Erkenntnisse darüber, was passiert, wenn Große Koalitionen zu einer Wahl antreten, sind gering und partiell widersprüchlich. Deshalb wird die Bundestagswahl 2009 nicht nur für die Zauberformel eine recht interessante Wahl werden.

 

Nach der (Europa-)Wahl ist vor der (Bundestags-)Wahl: Sind wir nun schlauer, wer die Wahl gewinnen wird?

Die Europawahl hat erneut die Theorie nationaler Nebenwahlen bestätigt. Allenfalls mäßig interessiert, schlecht informiert und wie die Parteien sowie die Medien eher an Deutschland als an Europa orientiert zeigten sich die Deutschen bei der Europawahl. Und die Mehrheit ging – wie erwartet – nicht zur Wahl. Profitiert hat davon primär die Union. Es sind etwas mehr Ältere, aber weniger formal niedrig Gebildete und weniger Arbeiter zur Wahl gegangen als bei der letzten Bundestagswahl. In der Summe war dies vor allem ein Problem für die SPD, die sich von der Europawahl eine Art Startschuss für die Bundestagswahl im Herbst erwartet hatte. Statt dessen verlor die SPD weiter und die FDP konnte – für eine klassische Zweitstimmenpartei erstaunlich – massiv zulegen. Es scheint, als habe vor allem sie von der in der Wissenschaft bekannten Stimmung gegen die Regierungsparteien profitiert.

Doch was bedeutet dies nun für den Wahlherbst 2009? Andrea Römmele hat zurecht auf die im Vergleich zu 2005 noch schlechteren Umfragewerte der SPD hingewiesen. Kim Jucknat fokussierte auf die schlechten Werte Frank-Walter Steinmeiers im Eigenschafts- und Problemlösungsvergleich zu Angela Merkel. Es gibt, so scheint es, in Umfragen derzeit keinerlei Indizien dafür, dass die SPD der Union die Führungsposition noch einmal streitig machen oder Steinmeier gar Kanzler werden könnte. Dennoch gibt es mindestens ein Faktum und zwei potenzielle Faktoren, die man im Blick behalten sollte, bevor man die Wahl als vorentschieden klassifiziert.

Es ist Fakt, dass Umfragen (und Wahlen) seit 1998 keine Trendwende zugunsten des bürgerlichen Lagers zeigen. Meist liegt das linke Lager knapp vor den Bürgerlichen. Bliebe es so, hätten wir „2005 reloaded“: Entweder eine der beiden kleinen Parteien bewegt sich auf ein Dreierbündnis hin oder es bleibt bei der Großen Koalition. Die beiden Faktoren, die potenziell Veränderungen herbeiführen können, sind Themenkompetenz und Mobilisierung. In den Analysen zur Europawahl fällt auf, dass die Mehrheit der Bürger in wichtigen Politikfeldern keiner Partei Kompetenz zuschreiben konnte. Dies ist kein ganz neues Phänomen, macht aber klar, dass sämtliche Parteien im Wahlkampf die Chance haben, sich thematisch zu profilieren. 2005 gelang es der SPD zwar nicht, die Union in der Themenkompetenz zu überholen, aber dennoch bei Rente, Gesundheit und Steuern mit ihr gleichzuziehen. Diese thematische Aufholjagd, damals maßgeblich durch die Person Schröder geprägt, ist für die SPD theoretisch auch 2009 möglich. Sie hat, gemessen an den Umfragewerten und im Vergleich zur Union, auch das größere Mobilisierungspotenzial.

Dennoch ist die Konstellation für sie schlechter als 2005, denn die Union stellt die Kanzlerin und es gibt keine (von vielen Sozialdemokraten gehasste) Agenda 2010, die von der Mehrheit der Bürger letztlich doch als notwendig akzeptiert wurde. Insofern wird es für die SPD schwer, ihre teils enttäuschten, teils nach Links verlorenen Anhänger zu mobilisieren, aktivieren oder gar wiederzugewinnen. Da Wahlen Nullsummenspiele sind, könnte dieses zu erwartende Mobilisierungsdefizit letztlich dazu beitragen, dass Union und FDP bei den abgegebenen Stimmen am Ende doch die Nase vorne haben werden. Sind wir nach der Europawahl schlauer, wer die Bundestagswahl gewinnen wird? Nicht wirklich, aber die Parteien wissen nun wohl besser, was es thematisch und personell geschlagen hat.

 

Zur erwarteten Beteiligung an der Europawahl 2009

Seit Wochen wird über die Beteiligung an der Europawahl 2009 gemutmaßt. Dass diese im Vergleich zu direkten Wahlen auf nationaler Ebene – in allen EU-Staaten wird das Parlament, in einigen aber auch das Staatsoberhaupt direkt vom Volk gewählt – geringer ausfallen wird, ist sicher. Aber wie wird sie im Vergleich zur letzten Europawahl sein? Wird sich der leicht negative Trend fortsetzen oder gibt es womöglich beteiligungssteigernde Faktoren? Für Deutschland haben die beiden führenden Umfrageinstitute in ihren Veröffentlichungen von gestern und heute ganz unterschiedliche Botschaften ausgesandt. Von den Befragten des DeutschlandTrend geben 57% an, sicher zur Wahl gehen zu wollen. Von den Befragten des Politbarometer sagen 30%, sie seien sehr stark oder stark an der Europawahl interessiert.

Diese unterschiedlichen Veröffentlichungen von Werten unterschiedlicher Fragen unterstreichen ein großes Problem der Umfrageforschung: Die Vorhersage der Wahlbeteiligungen auf politischen Ebenen, die von den Bürgern als vergleichsweise weniger wichtig erachtet werden, gelingt nicht. Stellt man die Frage nach der Beteiligungsabsicht, bekommt man zu hohe Werte, denn eine Beteiligung ist sozial erwünscht und ein Bekenntnis zur Nicht-Teilnahme ist eine potenziell unbequeme Antwort. Viel hängt bei Landtags- und Europawahlen von der Mobilisierung und Aktivierung der Parteien ab. Diese kann wiederum kurzfristigen Einflüssen unterliegen. Insofern könnte man sagen, dass die ZDF-Werte eher den Sockel sicherer Wähler beschreiben, die ARD-Werte eher das Potenzial derer, die sich unter optimaler Mobilisierung an der Wahl beteiligen könnten. Die Wahrheit wird irgendwo zwischen 30 und 57 Prozent liegen, und von der Beteiligung werden wiederum die Parteianteile abhängen, da die Parteien bei Europawahlen unterschiedlich gut mobilisieren: Unionsparteien und Grüne in der Regel besser (hoher Anteil an Stamm- bzw. hochgebildeten Wählern), SPD (höherer Anteil formal niedrig Gebildeter) und FDP (wird nicht als Koalitionspartner gebraucht) in der Regel schlechter.

Es kommen aber weitere Faktoren hinzu, die auf die Wahlbeteiligung unterschiedlich wirken. Ein positiver Effekt entsteht dieses Mal vom sogenannten Wahlzyklus: Die Europawahl liegt – wie 1994 – wenige Monate vor der Bundestagswahl und weist deshalb einen stärkeren Testwahlcharakter für die Bundesebene auf als 2004. Allerdings könnte dieser Testwahlcharakter von der Großen Koalition getrübt werden. Gab es 1994 eine klare und starke Opposition zur damaligen Kohl-Regierung, so fehlt diese nun aufgrund der Großen Koalition. Und negativ wirkt sich auch der allgemeine Trend des Beteilungsrückgangs auf Länder- und Europaebene aus. Insofern ist die Wahlbeteiligung des Jahres 2004 (43%) wahrscheinlich ein besserer Indikator für die zu erwartende Wahlbeteiligung als die berichtete Beteiligungsabsicht oder das Interesse an der Wahl.

 

Europawahlen ohne Unionsbürger?

Mit dem Vertrag von Maastricht (1993) wurde – zusätzlich zur Staatsbürgerschaft eines Mitgliedslandes – die Unionsbürgerschaft eingeführt. Ein wichtiges Element dieser EU-Staatsbürgerschaft ist das Wohnortprinzip bei Kommunal- und Europawahlen. Es bedeutet, dass EU-Bürger auch in demjenigen Mitgliedsstaat der EU wahlberechtigt sind (und auch für das Europaparlament bzw. das lokale Parlament kandidieren können), in dem sie ihren Hauptwohnsitz haben. So können seit 1995 auch in Deutschland Unionsbürger an kommunalen und Europawahlen teilnehmen.
Inwieweit Unionsbürger von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen, wissen wir nicht genau. Für Kommunalwahlen gibt es zumindest aus einigen Städten (Berlin, Hamburg, Bremen, Stuttgart) verlässliche Zahlen. Sie zeigen, dass dort seit 1995 zwischen 15 und 27 Prozent der Unionsbürger die lokalen Parlamente mitgewählt haben. Es gibt jahres- und ortsabhängige Schwankungen, aber keinen klaren Trend einer Zu- oder Abnahme der Wahlbeteiligung von Unionsbürgern bei deutschen Kommunalwahlen. Über die Beteiligung der Unionsbürger an Europawahlen in Deutschland wissen wir noch weniger. Sicher ist jedoch, dass die Beteiligung erheblich geringer ist als bei Kommunalwahlen.
Dies hat mit einem unterschiedlichen Verfahren der Registrierung zu tun. Sind Unionsbürger bei Kommunalwahlen automatisch wahlberechtigt, so müssen sie sich für Europawahlen mindestens 21 Tage vor der Wahl registrieren lassen. Diese Frist ermöglicht es, diejenigen Unionsbürger, die in Deutschland ihre Stimme abgeben möchten, aus dem Wahlregister desjenigen Landes, dessen Staatsbürgerschaft sie besitzen (und dort automatisch wahlberechtigt sind), auszutragen. So soll verhindert werden, dass Unionsbürger zwei Stimmen abgeben – im Land des Wohnsitzes und im „Heimatland“.
Eine Registrierung aber ist eine erhebliche Hürde für die Beteiligung an einer Wahl und unterstreicht, dass Wahlbeteiligungsraten in Ländern mit grundsätzlicher Registrierung (z.B. USA) nicht ohne weiteres mit denjenigen in Ländern ohne Registrierung verglichen werden sollten. Für Unionsbürger und Europawahlen in Deutschland hat diese institutionelle Hürde Folgen: 1999 ließen sich in Deutschland 34.000 Unionsbürger ins Wählerverzeichnis für die Europawahl eintragen. Dies sind angesichts des damaligen Anteils von Unionsbürgern an der Bevölkerung (1,6 Mio.) gerade einmal 2%. Gemessen an allen Wahlberechtigten in Deutschland machten 1999 die Unionsbürger nur 0,05% aus. Im Jahr 2004 gab es eine Steigerung auf 133.000 (7% von 2 Mio.), die dann 0,2% der Wähler ausmachten.
Obwohl für 2009 noch keine bundesweiten Zahlen vorliegen, kann davon ausgegangen werden, dass auch diese Europawahl in Deutschland weitgehend ohne Unionsbürger stattfinden wird. Dennoch wählen etliche Unionsbürger bei Europawahlen; es scheint jedoch, dass weit mehr von ihnen in einem Konsulat oder der Botschaft ihres Heimatlandes wählen als ins „deutsche“ Wahllokal zu gehen. Wissenschaftliche Untersuchungen hierzu liegen nicht vor; auf der Grundlage journalistischer Reportagen kann man jedoch die Hypothese formulieren, dass die Europawahl im Konsulat als eine Art ethnisch-kulturelles Happening verstanden wird. So wird die Europawahl von vielen Unionsbürgern zwar in Deutschland, aber dennoch exterritorial begangen. Die Erfinder der Unionsbürgerschaft hatten sich dies anders vorgestellt. Auf dem Hintergrund dieser Praktiken sollte man vielleicht ernsthafter als bisher über europaweite Partei- und Kandidatenlisten nachdenken. Diese ließen sich, wie das Bundestagswahlsystem zeigt, durchaus mit regionalen oder lokalen Kandidatenlisten kombinieren. So könnte zum Beispiel eine in München lebende Griechin in einem Münchner Wahllokal sowohl für das europaweite Parteienbündnis ihrer in Griechenland präferierten Partei als auch für einen bayerischen Kandidaten stimmen. Der Gang ins Konsulat wäre dann nicht mehr notwendig – die Option, die Europawahl nach der Stimmabgabe als ethnisch-kulturelles Ereignis im griechischen Konsulat zu begehen, bliebe indes erhalten.

 

Ungebundene Wähler – Dichtung und Wahrheit

Bis weit in die 1980er Jahre hinein war auf die deutschen Wähler Verlass. Es gab zwar hin und wieder einmal Schwankungen der Wahlergebnisse, aber die Regierungsparteien blieben meist die alten. Kam es zu Regierungswechseln, waren dies mit wenigen Ausnahmen Eliten- und nicht Wählerentscheidungen. Der Wahlforscher Dieter Roth zählte bis 1987 bei 100 Landtagswahlen lediglich sieben Regierungswechsel (7%), die durch die Wähler herbeigeführt wurden. Von 1987 bis 2005 waren es bei 69 Landtagswahlen jedoch schon 22 (32%). Die Bundestagswahlen 1998 und 2005 sind die bislang einzigen Belege für durch die Wähler erzwungene Regierungswechsel auf Bundesebene. Die gängige Interpretation für diese Veränderungen ist: Durch die Auflösung von Milieus, Bedeutungsverluste von Kirchen und Gewerkschaften sowie nachlassende Parteibindungen habe sich die Parteienlandschaft verändert, sodass es zu stärkeren Schwankungen der Parteianteile komme und Wahlausgänge weniger gut vorhersehbar würden.

Soweit ist diese Diagnose Konsens. Doch sollte man nicht soweit gehen zu behaupten, es gäbe kaum noch parteigebundene Wähler und die Wahlforschung könne zum einen nichts mehr vorhersagen und damit zum anderen getrost einpacken. Knapp zwei Drittel aller Wahlberechtigten, die in den letzten drei Jahren von der Forschungsgruppe Wahlen interviewt wurden, geben an, langfristig einer Partei zuzuneigen (sie haben eine sogenannte Parteiidentifikation = PI). Wie das Diagramm zeigt, gaben unmittelbar vor der Bundestagswahl 2005 über zwei Drittel der Wähler von SPD und CDU/CSU an, der Partei auch langfristig zuzuneigen. Und weniger als ein Drittel der Wähler sämtlicher Parteien gab an, nicht an eine Partei gebunden zu sein. Parteigebundene Wähler sind demnach eindeutig in der Mehrzahl: Welche Parteien sie im September wählen werden, wissen wir zum größten Teil schon jetzt.

Wahlentscheidung 2005: Anteile der Wähler…

Zweitstimme, Angaben in Prozent. Quelle: Dieter Roth/Andreas Wüst, Abwahl ohne Machtwechsel, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm, Bilanz der Bundestagswahl 2005, S. 68.

Für jede Partei und noch besser für jedes potenzielle Koalitionslager lässt sich so eine Art „Wählersockel“ bestimmen. Denn was wir heute noch nicht wissen, ist das Ausmaß koalitionstaktischen Wahlverhaltens. Wie das Diagramm zeigt, erhielt vor allem die FDP Unterstützung von Anhängern anderer Parteien (bei genauerer Prüfung fast ausschließlich von Anhängern der CDU und der CSU), in deutlich geringerem Umfang ebenso die Grünen sowie die Linke (hier: primär von SPD-Anhängern). Das Ausmaß koalitionstaktischen Wahlverhaltens lässt sich bestenfalls wenige Wochen vor der Wahl abschätzen. Und noch später wissen wir, wie sich die Ungebundenen entscheiden werden. Möglicherweise ist diese Minderheit der ungebundenen Wähler letztlich wahlentscheidend. Aber auch sie sind für die Wahlforschung keine Unbekannten: Sie lassen sich über Gruppenmerkmale, ihre individuellen Sorgen, wahrgenommene Probleme, den Parteien zugeschriebene Lösungskompetenzen und auch durch Präferenzen für Politiker, insbesondere für die Kanzlerin oder den Herausforderer, trotz allem passabel verorten. Je näher die Wahl rückt, desto geringer wird die Anzahl der „Unbekannten“ werden. Ein Grund für Wahlforscher, das Feld zu räumen, sind ungebundene Wähler wahrlich nicht.

 

Grüner Kanzler nicht auszuschliessen

Zum Monatsanfang werden bundesweit für Die Grünen in Umfragen gerade einmal 10% gemessen. Dies sind Momentaufnahmen. Stimmungen sind keine Stimmen, und so ist es wahrscheinlich, dass sich die Umweltpartei bis Ende September in der Wählergunst noch deutlich verbessern wird. Im Januar 2009 gaben laut DeutschlandTrend der ARD immerhin 39% der Wahlberechtigten an, Die Grünen könnten für sie in Frage kommen. Mit dem Spitzenduo Künast/Trittin treten zudem Spitzenkandidaten an, die von ihrem politischen und persönlichen Eigenschaftsprofil her in der Lage sein werden, viele ungebundene Wähler für grüne Themen zu sensibilisieren und letztlich auch zu mobilisieren. Deshalb wäre es auch voreilig, den Wahlkampf auf den Wettstreit zwischen Merkel und Steinmeier zu reduzieren.

Wie erfolgreich politische Spitzenteams sein können, zeigt der Blick zurück auf die Bundestagswahlen 2002 und 2005: Hier gelangen den Tandems Schröder/Fischer sowie Schröder/Müntefering für nahezu unmöglich gehaltene Aufholjagden. Beim Duo Künast/Trittin kommt die strategisch kluge Aufteilung des geschlechtsspezifischen micro-targeting als Alleinstellungsmerkmal hinzu. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann und sollte man daher einen grünen Kanzler oder eine grüne Kanzlerin keinesfalls ausschliessen.

 

Neueste Umfrageergebnisse! Oft nur ein „Rauschen im Wald“?

In einem Bundestagswahljahr haben Umfrageinstitute Hochkonjunktur. Und je näher die Bundestagswahl rückt, desto kürzer werden die Intervalle zwischen den Umfrageveröffentlichungen. Folglich werden im Laufe dieses Jahres immer mehr „Zahlen“ auf dem Markt sein. Seit 1990 haben sich von einer Bundestagswahl zur nächsten die Veröffentlichungen zu und mit Umfrageergebnissen kontinuierlich erhöht. Wie der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider zeigen konnte, leidet mit der steigenden Anzahl solcher Veröffentlichungen allerdings deren formale Qualität. So erfahren wir zwar in fast allen Fällen, welches Institut die Daten erhoben hat, in gerade einmal der Hälfte der Fälle dann noch die Zahl der Befragten und den Erhebungszeitpunkt und viel seltener etwas über die Teilnahmebereitschaft an der Umfrage oder den genauen Fragewortlaut. Auch darüber, wie die „Rohdaten“ zur Veröffentlichung „aufbereitet“ werden, schweigen sich die Umfrageinstitute aus. Und bislang stehen interessierten Wahlforschern – zeitversetzt – nur die Daten des ZDF-Politbarometers (seit 1977), des Forsa-Bus‘ (seit 1993) und in Kürze auch der ARD Deutschland-Trend (zunächst nur für 2008) zur Verfügung.

Wenn es aufgrund von Informationsdefiziten selbst für Wissenschaftler schwierig ist, die Qualität veröffentlichter Umfrageergebnisse einzuschätzen, dann wird eine verantwortungsvolle Interpretation der Daten noch schwieriger. Um es anhand einer qualitativ hochwertigen Umfrage transparent zu machen: Im heutigen Politbarometer verändern sich die Prozentanteile der Parteien in der „politischen Stimmung“ um jeweils einen bis zwei Prozentpunkte. Was steckt dahinter? Es sind Antworten auf die sogenannte Wahlabsichtsfrage: „Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, würden Sie dann zur Wahl gehen? Und welche Partei würden Sie dann wählen?“ Diese wurde jeweils im Rahmen der Politbarometer-Befragungen an drei Tagen, vom 3.-5. und vom 24.-26. März gestellt. Nach den Angaben der Forschungsgruppe Wahlen wurden einmal 1319 und einmal 1245 zufällig ausgewählte Wahlberechtigte telefonisch befragt. Die Veränderungen der Prozentanteile der Parteien ergeben sich durch die unterschiedlichen Anteile der Befragten, die Anfang bzw. Ende März gesagt haben, sie würden diese Partei wählen.

Was sagen uns diese Veränderungen der Antworten auf die Wahlabsichtsfrage? Sie sagen uns wenig. Die gemessenen Veränderungen bewegen sich im Fehlerbereich, das heißt, wenn parallel zu den beiden Befragungen andere Befragungen durchgeführt worden wären, hätten genauso gut Veränderungen der Parteistärken in die jeweils entgegen gesetzte Richtung gemessen werden können (zumal die angegebenen Fehlerbereiche stets vollständige Teilnahme der in diesem Fall angerufenen Wahlberechtigten voraussetzen). Was wir aus den nahezu identischen Messungen der Parteistärken Anfang und Ende März ableiten können, ist das derzeitige Niveau der Stimmungslage für die Parteien. Würden wir mehr über andere Indikatoren der Parteinähe, wie zum Beispiel längerfristige Bindungen, erfahren, dann könnten wir zumindest Aussagen über Parteipotenziale und Mobilisierungsdefizite treffen. Wie die Wahl am 27. September ausgehen wird, lässt sich aber auch mit diesen zusätzlichen Indikatoren derzeit nicht sagen. Erst gegen Ende des Wahlkampfs wird sich zeigen, wie gut die einzelnen Parteien ihre Anhänger und ungebundene Wähler mobilisieren können. Dann werden auch die Umfragen ein realistischerer Indikator für die Parteistärken sein. Für die Zeit bis zur „heißen“ Wahlkampfphase bleibt uns einerseits der systematische Vergleich mit Parteistärken zu identischen Zeitpunkten vor vorangegangenen Wahlen. Andererseits lohnt der Blick auf wissenschaftliche Prognosemodelle, die in der Vergangenheit durch Rückgriff auf verschiedenen Datenquellen selbst Monate vor der Bundestagswahl ein sehr gutes Bild der Parteistärken für den Wahlzeitpunkt ergeben haben.