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Piratenwähler

Die Struktur der Wählerschaft kleiner Parteien mittels Umfragen zu erforschen, ist schwierig. Angenommen, eine Partei hat einen Stimmenanteil von einem Prozent und man befragt bundesweit 1.000 Wähler, dann wären in etwa 10 befragte Personen Wähler dieser Partei. Das ist zu wenig, um sinnvolle Aussagen treffen zu können.

Internetumfragen mit potenziell vielen Befragten können in solchen Fällen eine Alternative darstellen. Eine solche Umfrage, nämlich die Wahlumfrage2009.de, hat sich mein Kollege Ansgar Wolsing zunutze gemacht, um der Struktur der Wählerschaft der Piraten auf den Grund zu gehen. Die Ergebnisse seiner Analyse finden sich hier. (1)

Bemerkenswertes tritt dabei zu Tage, wenn man einige Gruppenvergleiche anstellt: In der Gruppe der Befragten über 60 Jahren ist die Partei kaum existent; in der Gruppe der jungen, männlichen Wähler, die sich vor allem und eifrig über das Internet über Politik informieren, liegt sie dagegen bei rund 40 Prozent. Dass die Piraten (durchaus in der Tradition echter Piraten stehend) eine „männliche“ Partei sind, zeigt Ansgar Wolsing auch anhand der Kandidaten der Partei: Von 98 Listenkandidaten sind demnach nur vier weiblich.

Man darf jetzt schon gespannt sein, was die repräsentative Wahlstatistik des Bundeswahlleiters, die das tatsächliche Wahlverhalten der Menschen nach Alter und Geschlecht aufschlüsselt, aufzeigen wird. Aufgrund der Ergebnisse auf der Basis der wahlumfrage2009.de darf man einiges an Unterschieden erwarten, wenn es um die Piratenwähler geht.

(1) Die Ergebnisse dieser Umfragen sind – da es sich um eine offene Online-Umfrage handelt – nicht repräsentativ. Wir wissen allerdings aus der Online-Forschung, dass solche Strukturanalysen für solche Verzerrungen der Stichprobe nicht sehr anfällig sind.

 

Piratenpartei: Klar zum Entern des Parteiensystems?

Für eine Partei, die bislang in keinem deutschen Parlament sitzt, sind die Piraten im Vorfeld dieser Bundestagswahl extrem sichtbar. Doch sind sie auch klar zum Entern des Parteiensystems? Marc Debus hat mit seinem Beitrag bereits zeigen können, dass sich die Partei inhaltlich auf dicht besiedeltem Terrain bewegt. Gesellschaftspolitisch äußerst progressiv konkurrieren sie dort vor allem mit Grünen, Linken und auch der FDP. Gute Landemöglichkeiten sehen eigentlich anders aus.

Untermauert wird dies auch durch einen Blick auf den Wahl-o-mat. In ähnlicher Logik, wie an anderer Stelle schon die Kompatibilität von Koalitionen mit seiner Hilfe geprüft wurde, lässt sich auch untersuchen, wie es um die inhaltliche Nähe der Piraten zu den anderen Parteien bestellt ist. Die Ergebnisse zeigt die folgende Abbildung:

piraten

Ähnlich der Analyse von Marc Debus zeigt sich auch hier, dass einzig zur Union eine wirklich große inhaltliche Distanz besteht. Ansonsten zeigt sich auch hier eine beachtliche Nähe der Piraten zu den übrigen vier Parteien. Ein wirklicher USP lässt sich kaum ausmachen – was noch zusätzlich dadurch verstärkt wird, dass die Piraten sich bei immerhin 8 von 38 Wahl-o-mat-Thesen nur mit „neutral“ äußern. Selbst auf ihrem vermeintlich ureigensten Gebiet haben sie harte Konkurrenz: Der Aussage „Die verdeckte Online-Durchsuchung privater Computer durch Sicherheitsbehörden soll verboten werden“ stimmen neben den Piraten auch Grüne, Linke und die FDP zu. Nur bei einer Aussage heben sich die Piraten von den anderen fünf Parteien ab: „In allen Bundesländern: Einführung verbindlicher Sprachtests für alle Kinder im Vorschulalter“. Das lehnen die Piraten ab, im Gegensatz zu allen anderen Parteien. Nur verbindet man sie kaum mit diesem Thema.

Klar zum Entern scheinen die Piraten daher eher nicht zu sein. Als Single-Issue-Partei, die noch dazu bei diesem einen Issue harte Konkurrenz hat, geht es weniger um Entern als um das Verhindern des Kenterns.

 

Finanzmärkte und soziale Gerechtigkeit: Die Fieberkurve des Duells

2002 und 2005 war es vor allem das Thema „Irak“, das die Zuschauer der TV-Duelle bewegte. Und dieses Mal? Echtzeitmessungen der 90 Debattenminuten zeigen, dass den Menschen dieses Mal vor allem die Wirtschafts- und Finanzkrise sowie das Thema der sozialen Gerechtigkeit unter den Nägeln brannten.

Die mit Abstand stärkste Zustimmung erhielt SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier in der 24. Minute mit seiner Aussage zu den Mindestlöhnen: „Ich sage, wir müssen diese Lohnspirale nach unten aus mehreren Gründen aufhalten: Erstens, weil hier auch der Aspekt von Würde von Arbeit bedroht ist. Wer den ganzen Tag arbeiten geht, muss von seinem Einkommen aus Arbeit auch leben können. Wirklich leben können.“ Zustimmung fand er damit nicht nur im eigenen Lager, sondern auch bei den Unabhängigen und sogar bei den Unions-Anhängern. Auch seine Verknüpfung der Entlassung einer Kassiererin wegen eines eingelösten Pfandbons mit den Entschädigungen für Spitzenmanager fand die Zustimmung der Teilnehmer der Studie.

Die Kanzlerin brachte die Zuschauer – sowohl des SPD-, als auch des Unions-Lagers und die Unabhängigen – mit folgender Aussage in der 12. Minute auf ihre Seite: „Und jetzt sage ich: Wir brauchen Regeln für die internationalen Finanzmärkte und wir brauchen auch einen Export der Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Davon bin ich zutiefst überzeugt.“ Auch für Angela Merkel zahlte sich ein Rekurs auf Themen sozialer Gerechtigkeit aus. Ihre Aussage: „Ich finde: Leistung und Bezahlung müssen in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Deshalb habe ich mich am Beispiel von Arcandor darüber aufgeregt: 6 Monate Arbeit und 5 Jahre Gehalt, das halte ich für nicht vertretbar. Ja, das halte ich für unanständig“ stieß ebenfalls auf Zustimmung.

Die Fieberkurve des TV-Duells 2009

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Auseinandersetzung fand selten statt. Am stärksten polarisierte Steinmeier mit der Aussage zur Atompolitik in seinem Schluss-Statement: „Schwarz-Gelb wird bedeuten, dass eine Rückkehr zur Atomkraft stattfindet. Das ist nicht mein Weg.“ Hiermit fand er Zustimmung bei den SPD-Anhängern und bei den Unabhängigen. Die CDU- und die FDP-Anhänger lehnten diese Position ab.

Nur selten fanden sich Unterschiede zwischen den Zuschauern in den alten und in den neuen Bundesländern. Während Angela Merkels Warnung vor einem Bündnis der SPD mit der Links-Partei von den Stuttgarter Zuschauern befürwortet wurde, stieß sie bei den Zuschauern in Jena auf wenig Gegenliebe. Gleiches gilt für die Kritik Frank-Walter Steinmeiers an der Position der Links-Partei zur Afghanistan-Politik: Seine Kritik wurde in den alten Bundesländern geteilt, in den neuen Bundsländern hingegen nicht.

Zur Methode
480 Bürgerinnen und Bürger waren eingeladen, das Fernsehduell an den Universitäten Koblenz-Landau, Stuttgart, Mannheim, Kaiserslautern und Jena live zu verfolgen. Während der Debatte konnten sie Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier permanent bewerten oder mit Hilfe von Fragebögen ihre Bewertung abgeben; die obigen Auswertungen basieren auf den Angaben aus Stuttgart, Landau und Jena. Die Untersuchung wird in Kooperation von den Universitäten Koblenz-Landau (Prof. Dr. Michaela Maier, Prof. Dr. Jürgen Maier), Hohenheim (Prof. Dr. Frank Brettschneider) und Mannheim (Prof. Thorsten Faas) durchgeführt. Sie ist Teil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes „German Longitudinal Election Study“.

 

Schröder gegen Stoiber, Teil II

Der Premiere zwischen Schröder und Stoiber 2002 – die taz hatte damals das „Zeitkonto“ zum Sieger dieses Duells erkoren, weil der Blick auf Selbiges zum dominanten Element des ersten Duells geworden war – folgte zwei Wochen später (und zwei Wochen vor der Bundestagswahl 2002) das zweite Aufeinandertreffen zwischen Schröder und Stoiber. Dieses Mal übertragen von ARD und ZDF – und dieses Mal auch deutlich lebhafter und weniger reglementiert. Als „Sieger“ (was ist das eigentlich bei einem TV-Duell?) ging Gerhard Schröder aus diesem Duell hervor, wie Umfragen einhellig zeigten.

Doch auch die Echtzeitmessungen des zweiten Duells zeigen Chancen und Gefahren solcher Ereignisse – Duelle sind „High Risk Television“. Gerhard Schröder konnte in der ersten Hälfte der Debatte, die folgende Grafik zeigt es, mit seiner Absage an eine Zusammenarbeit mit der PDS punkten, vor allem aber, wie schon im ersten Duell, mit seiner Ablehnung des Irak-Kriegs. Dass TV-Debatten tatsächlich „Miniatur-Wahlkämpfe“ sind, zeigt sich auch darin, denn dieses Thema dominierte den Wahlkampf 2002 bekanntlich insgesamt.

Echtzeitbewertungen von Schröder (rot) und Stoiber (blau) in der ersten Hälfte der zweiten Debatte 2002
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Noch interessanter ist der erste markante Ausschlag, der für die zweite Debattenhälfte zu beobachten ist: Gerhard Schröder berichtet in sehr persönlicher Weise über seinen Bildungsweg (und wird dafür von den Teilnehmern der Studie mit positiven Bewertungen belohnt), Edmund Stoiber attackiert ihn dafür („Das sind schöne Worte“) – und erntet dafür eher negative Bewertungen.

Echtzeitbewertungen von Schröder (rot) und Stoiber (blau) in der zweiten Hälfte der zweiten Debatte 2002
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Was bedeutet das für Sonntag? Eine persönliche Geschichte einzustreuen (was ja auch beide Kontrahenten bei den bisherigen Auftritten im TV wiederholt getan haben), kann sich lohnen; den Gegner (zu) heftig und (zu) persönlich zu attackieren, bringt Gefahren mit sich. Dies gilt umso mehr, als jedes Wort gerade im Nachgang der Debatte auf die Goldwaage gelegt werden wird. Dem bisherigen Grundtenor, der die Erwartungen im Vorfeld der Debatte prägt, nämlich dass es eher langweilig werden wird, ist daher nur bedingt zuzustimmen. Ein kleiner Moment der Unachtsamkeit genügt und es ist mehr Spannung da, als es einem der beiden Kontrahenten vielleicht lieb ist.

 

Der Premiere erster Teil: Schröder gegen Stoiber

TV-Duelle im amerikanischen Stil kennen wir in Deutschland seit 2002. Zwar gab es schon früher – bis einschließlich 2002 – Diskussionsrunden im Fernsehen („Elefantenrunden“), doch das direkte Aufeinandertreffen der beiden Kanzlerkandidaten – Schröder und Stoiber – hatte 2002 seine Premiere. Groß war das Interesse – von Seiten der Medien wie auch von Seiten der Zuschauer. Über 15 Millionen Zuschauer schalteten bei der Premiere bei RTL und SAT1 damals ein – und sahen, so der Tenor von Experten wie auch Umfragen, einen erstaunlich guten Edmund Stoiber und einen etwas fahrigen Gerhard Schröder.

Doch über solche pauschalen Aussagen hinaus bieten TV-Duelle Möglichkeiten zu weitaus feinkörnigeren Analysen. Mittels so genannter Real-Time-Response-Analysen (vulgo: Echtzeitmessungen) kann man Zuschauer sekundengenau festhalten lassen, wie sie das Auftreten der Kandidaten bewerten. Die folgenden Abbildungen basieren auf solchen Echtzeitmessungen, die 2002 in einer Studie an der Universität Bamberg von rund 40 Teilnehmern abgegeben wurden.

Echtzeitbewertungen von Schröder (rot) und Stoiber (blau) in der ersten Hälfte der ersten Debatte 2002
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Zunächst fällt auf, dass diese „Wahlkämpfe im Miniaturformat“ durchaus differenziert wahrgenommen werden. Zwar zeigen weitergehende Analysen, dass parteigebundene Anhänger „ihren“ Kandidaten durchweg positiv wahrnehmen, doch schon die Wahrnehmung des politischen Gegners verläuft differenzierter. Insgesamt jedenfalls zeigen die Echtzeitmessungen ein häufiges Auf und Ab. Die Passagen, welche die deutlichsten Ausschläge produziert haben, sind in den Abbildungen dokumentiert.

Echtzeitbewertungen von Schröder (rot) und Stoiber (blau) in der zweiten Hälfte der ersten Debatte 2002
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Übrigens kann man mit Hilfe solcher Echtzeitmessungen sehr gut vorhersagen, wen Befragte am Ende als Sieger des Duells wahrnehmen. Offenkundig sind sie – ob bewusst oder intuitiv – in der Lage, die einzelnen Aussagen so zu verrechnen, dass sie am Ende zu einem „sinnvollen“ Siegerurteil kommen. Die einzelnen Inhalte einer Debatte – was ja mitunter bezweifelt wird – spielen also durchaus eine entscheidende Rolle. Man darf daher gespannt sein, welche Aussagen Merkel und Steinmeier nächsten Sonntag treffen werden. Wichtig sind sie allemal.

 

Der Wahl-O-Mat als Hilfe – für die Parteien!

Der Wahl-O-Mat ist seit heute wieder online. Dabei handelt es sich um ein “Informationsangebot über Wahlen und Politik” – für die Wähler, mag man zunächst denken. Doch in Zeiten der neuen Unübersichtlichkeit, die – der jüngste Wahlabend hat es gezeigt – den Satz “wir gehen nur nach Inhalten, nicht Koalitionen” (sowie beliebige Abwandlungen davon) auf Platz 1 der Wahlabend-Charts gebracht haben, kann der Wahl-O-Mat auch für Parteien als Richtschnur dienen, gerade wenn es nur noch um Inhalte geht.

Wie funktioniert der Wahl-O-Mat? 38 Thesen wurden den Parteien für die neueste Version des Informationsangebots zur Bewertung vorgelegt. Als Antwortoptionen standen zur Verfügung: “dafür”, “dagegen” oder “neutral”. Mit Hilfe der Antworten lässt sich nun leicht feststellen, wer mit wem in welchem Maße übereinstimmt. Die folgende Grafik zeigt dies anhand eines einfachen “Übereinstimmungsindex” für Parteipaare (*):

wahlomat

Die höchste Übereinstimmung mit einem Wert von über 84 Prozent resultiert für Grüne und Linke; der niedrigste zwischen Union und Linke: 21 Prozent.

Was können wir über aktuell diskutierte Koalitionsmodelle lernen? Für Jamaika wird es schwer, die Übereinstimmung zwischen Union und Grünen liegt nur bei 32 Prozent – während sie zwischen Grünen und der FDP bei immerhin 53 Prozent liegt. Das ist ein größeres Maß an Übereinstimmung, als für SPD und Union in der Großen Koalition zu beobachten ist (47 Prozent). Schwarz-Gelb kommt auf einen Übereinstimmungsgrad von 63 Prozent, SPD und Grüne von 76 Prozent (und SPD und Linke von 71 Prozent).

Würde es alleine nach inhaltlichen Aussagen gehen (und noch dazu nur denen, die als These in den Wahl-O-Mat eingeflossen sind), wäre das also die politische Landschaft in Deutschland. Seit den Landtagswahlen – vor allem in Thüringen und dem Saarland – wissen wir allerdings auch, dass Personen eine wichtige Rolle spielen: Bodo Ramelow möchte die SPD-Fraktion nicht wählen, im Saarland hakt es zwischen Mitgliedern der Grünen- und der Linken-Fraktion. Diesbezüglich hilft der Wahl-O-Mat allerdings nicht weiter – weder den Parteien noch den Wählern. Der Politiker-O-Mat muss erst noch erfunden werden.

(*) Der Index berechnet sich wie folgt: Für jedes Paar von Parteien wird über alle 38 Thesen hinweg gezählt, wie oft die Parteien übereinstimmen. Jede Übereinstimmung gibt einen Punkt, jede Kombination von “stimme zu” oder “stimme nicht zu” mit “neutral” einen halben Punkt. Addiert man diese Punkte zusammen und teilt die Summe durch 38 (die Zahl der Thesen), erhält man den Index. Die Annahme ist dabei natürlich, dass alle Thesen gleich wichtig sind.

 

2005: Mit Insiderwissen aus Exit Polls Kasse gemacht!

Wahltagsbefragungen (vulgo: Exit Polls) sind derzeit in aller Munde – vor allem wegen der vermeintlichen Gefahr von Manipulationen in Fällen, in denen die Ergebnisse solcher Befragungen frühzeitig veröffentlicht werden, zum Beispiel über „das Plauderforum“ (FAZ von heute) Twitter. Die Diskussion, darauf ist hier schon mehrfach hingewiesen worden, ist aus mehrerlei Gründen bemerkenswert: Einerseits weil es die Frage der Gleichheit aller Wahlberechtigten berührt (wer darf vorab die Ergebnisse wissen, wer nicht – und warum eigentlich?), andererseits weil wissenschaftliche Studien bislang keine stabilen, einseitigen Effekte von Umfrageveröffentlichungen auf Wahlentscheidungen nachweisen konnten. Viel Rauch um Nichts also?

Doch Vorsicht – zumindest für 2005 scheint es Insider gegeben zu haben, die die Ergebnisse von Wahltagsbefragungen kannten und dieses Insiderwissen auch zu ihren Gunsten genutzt haben. Werfen wir dazu einen Blick auf die Kurse der FDP in der Wahlstreet – einer Wahlbörse, die im Vorfeld der Bundestagswahl gelaufen ist.

Am Wahltag um 16.00 Uhr – Gerüchten zufolge war dies zumindest früher ungefähr der Zeitpunkt, zu dem den Parteien erste Ergebnisse aus den Wahltagsbefragungen zugeleitet wurden – schießt der Kurswert der FDP-Aktie um fast zwei Punkte in die Höhe, nachdem er in den Stunden und Tagen zuvor recht konstant um acht Prozent plätscherte. Das schreit doch sehr nach Insiderwissen…

 

Die neue Unübersichtlichkeit: Oh Gegner, wo bist Du?

Jamaika, Rot-rot, Rot-rot-grün, Schwarz-gelb, Große Koalition – die Wahlen vom Wochenende hatten und haben fast alles im Programm, für jeden ist etwas dabei. Auch die Bundestagswahl steht unter einem ähnlichen Vorzeichen – vieles ist möglich, wenig wird ausgeschlossen. Die neue Situation ist unübersichtlich – für Parteien, aber vor allem auch die Wähler.

Im Angesicht der neuen Unübersichtlichkeit wird von ihnen (mindestens) ein Dreisprung verlangt – zumindest sofern man annimmt, dass sie sich nicht über die Wahl einer Partei, sondern auch die Zusammensetzung der nächsten Regierung Gedanken machen. Sie müssen sich im ersten Schritt (Hop) überlegen, wie gut (oder schlecht) sie verschiedene Regierungskoalitionen finden (siehe hierzu auch den Beitrag von Rüdiger Schmitt-Beck in diesem Blog); sie müssen im zweiten Schritt (Step) abschätzen, wie es wohl um die Bereitschaft der Parteien bestellt ist, bestimmte Koalitionen einzugehen (siehe z.B. Rot-rot-grün). Schließlich müssen sie (Jump) abschätzen, welches Ergebnis wohl am Ende des Wahlabends am 27. September steht, welche Koalitionsmöglichkeiten der Souverän also den Parteien faktisch eröffnet. Und im Lichte all dessen, muss jeder einzelne Wähler seine kleine Wahlentscheidung treffen. Als einzelner bei solchen Rahmenbedingungen Koalitionsbildungsprozesse zu beeinflussen – ein nahezu aussichtsloses Unterfangen.

Wie reagieren die Wähler also? Sie bleiben weitgehend in altem Lagerdenken verhaftet. Schon die Analyse von Rüdiger Schmitt-Beck hat gezeigt, dass die „beliebtesten“ Koalitionen weiterhin Schwarz-gelb und Rot-grün sind. Weiter untermauert wird dies durch Ergebnisse von Umfragen, die aufzeigen, zwischen welchen Parteien Wähler aktuell noch schwanken: FDP-Wähler können sich demnach vor allem vorstellen, Union zu wählen – und umgekehrt. SPD-Wähler ziehen ggf. auch die Wahl der Grünen in Betracht, wenn überhaupt, und umgekehrt. Und auch Personen, die beabsichtigen, „Die Linke“ zu wählen, ziehen vor allem Rot und Grün als Alternativen in Betracht. Alles also schön sortiert, zumindest auf dieser Ebene.

Trotzdem kann es sein, ist es nach dem Wochenende vielleicht sogar ein Stück wahrscheinlicher, dass es weder für Schwarz-gelb und schon gar nicht für Rot-grün alleine reicht. Was sollten die Parteien im Angesicht dessen in den kommenden gut drei Wochen tun? Gerade im bürgerlichen Lager rumort es spätestens seit dem Wochenende bezüglich dieser Frage: Wer ist und wo steht der politische Gegner? Angela Merkel wird von einigen Seiten bedrängt, sich klar zum bürgerlichen Lager zu bekennen. Aber warum eigentlich?

Im Lichte der oben präsentierten Zahlen ist ein Wechsel von Wählern über politische Lager hinweg eher unwahrscheinlich. Eine polarisierende Kampagne würde zwar potenziell eigene Anhänger mobilisieren, aber erst recht würde dies für die Anhänger des politischen Gegners gelten. Hinzu kommt, dass eine Polarisierung dem bürgerlichen Lager insgesamt nutzen könnte – also auch und vielleicht sogar vor allem der FDP (zum Beispiel aus Angst vor einer Neuauflage der Großen Koalition). Kann das im Interesse der Union sein? Nein. Die Situation ähnelt exakt jener von vor vier Jahren. Aus Sorge vor einer Großen Koalition, so zeigen unsere Umfragen, haben sich viele Bürger auf der Zielgeraden (d.h. in der Woche vor der Wahl) anstelle der Union für die FDP entschieden. Mit welcher Konsequenz? Für das bürgerliche Lager hat es trotzdem nicht gereicht und die Union ging deutlich gezeichnet in die Verhandlungen zur Bildung einer Großen Koalition.

Im Angesicht dieser neuen Unübersichtlichkeit scheint also vor allem zu gelten: Jeder ist seines Glückes Schmied, d.h. jede Partei muss zunächst für sich selbst sorgen. Was dann, wenn der Souverän am 27. September millionenfach gesprochen hat, daraus wird, was möglich sein wird und was nicht, worauf man sich wird verständigen können, all das wird man dann erst sehen können. An solche Situationen werden wir uns gewöhnen müssen. Viele unserer Nachbarländer – in langen Jahren an wirkliche Viel-Parteien-Systeme gewöhnt – haben das längst getan, dort ist die Unübersichtlichkeit eher alt. Für uns ist sie noch neu.

 

Schröder, Steinmeier und die Stimme, auf die es ankommt

„Der klingt wie früher Schröder“ – ein derzeit des Öfteren gehörter Satz, wenn es um Auftritte des SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier geht. Für Steinmeier ist das wahrlich nicht das Schlechteste! Die sonore Stimme Schröders war ein echtes „Pfund“ des Kanzlers. In Umfragen etwa nach dem zweiten TV-Duell zwischen Schröder und Stoiber 2002 stimmten rund 75 Prozent der Befragten der Aussage „Er hat eine angenehme Stimme“ zu; bei Stoiber waren es weniger als 30 Prozent. Wenn es Steinmeier gelingt, diese Stimmenanalogie zu kultivieren, könnte er dieses Mal davon profitieren, so wie Schröder 2002 gegenüber Stoiber.