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Islamische Argumente gegen den „Islamischen Staat“

 

Der „Islamische Staat“ (IS) tut etwas, was Al-Kaida nie getan hat: Er trägt das Adjektiv „islamisch“ im Namen. Natürlich tun die Dschihadisten das mit Absicht und Berechnung: Sie erheben einen Alleinvertretungsanspruch für die „Umma“, die Gemeinschaft aller Muslime. Muslim ist demnach, wen sie als Muslim akzeptieren. Alle anderen müssen bereuen, umkehren und sich dem „Islamischen Staat“ anschließen. Oder sie werden verurteilt, bestraft oder gleich ermordet. Der „takfir“, also das Zum-Ungläubigen-Erklären, ist seit jeher eine Säule des dschihadistischen Denkens, und der IS macht davon reichlich Gebrauch.

In ihren Erklärungen, Reden und Kommuniqués geben sich die IS-Anführer zugleich theologisch geschult. Bei Abu Bakr al-Baghdadi, dem Chef und „Kalifen“, ist da sogar etwas dran: Nach allem, was wir wissen können, hat er tatsächlich die Islamischen Wissenschaften studiert. Mit dem Mainstream, mit der jahrhundertelangen islamischen theologischen Tradition, hat sein Denken trotzdem wenig zu tun.

Umso wichtiger ist es, wenn gestandene Islamgelehrte die Art und Weise, in welcher der IS (und Al-Kaida, die es oft ganz ähnlich machen) mit theologischen Versatzstücken hantiert, kenntlich machen und kritisieren. Sie können zeigen, wo und wie sehr der IS von allem abweicht, was weitestgehender Konsens unter islamischen Gelehrten weltweit ist.

Ein Beispiel: In einer Rede erklärte al-Baghdadi, der Prophet Mohammed sei mit dem Schwert als eine Gnade in die Welt gekommen. Tatsächlich steht im Koran, der Prophet sei als eine Gnade in die Welt gekommen. Dass er mit dem Schwert gekommen sei, findet sich aber im Hadith – im Kodex der überlieferten Aussagen und Aussprüche und Handlungen des Propheten.

Warum ist das wichtig? Erstens, weil man nach gängiger Lehre Koran und Hadith nicht vermischen darf. Zweitens, weil der Koran-Inhalt Muslimen als ewig richtig und wahr gilt, der Hadith-Kodex hingegen zeitgebunden zu interpretieren ist.

Das Beispiel stammt nicht von mir. Es stammt aus einem „Brief an Baghdadi“, den 126 Islamgelehrte aus vielen verschiedenen Ländern unterzeichnet und auf eine Webseite gestellt haben. Er ist der Versuch, die vermeintlichen islamischen Wahrheiten der IS-Argumentation zu widerlegen.

Ich finde diesen Brief wichtig. Er hat nichts zu tun mit den ständig verlangten Distanzierungen der Muslime dieser Welt von den Gräueltaten des IS, davon halte ich wenig. Natürlich enthält der Brief all das, aber es ist eben theologisch unterfüttert. Er richtet sich auch gar nicht an ein nicht-muslimisches Publikum. Sondern an Muslime, denen er vor Augen führt, dass nichts, wirklich gar nichts, so simpel ist in dieser an Lehren, Traditionen und Theologien reichen Religion, wie der selbst ernannte Kalif es ihnen weismachen will.

Genau aus diesem Grund finde ich aber durchaus, dass Nicht-Muslime einmal einen Blick darauf werfen sollten. Der Brief vermittelt einen ganz guten Eindruck von der Art, wie Islamgelehrte argumentieren. Echte Islamgelehrte.

Natürlich bedeutet das nicht zwangsläufig, dass alle, die diesen Brief unterzeichnet haben, in allen Dingen Vorstellungen teilen, die sie gleich zu Liberalen oder Demokraten machen. Ich kenne auch nur wenige Namen auf dieser Liste. Aber die Ämter, die sie bekleiden oder bekleidet haben, sprechen für sich. Es sind mehrere Repräsentanten der ägyptischen Fatwa-Behörde darunter, der ehemalige Großmufti von Bosnien, ein hochrangiger Sufi-Scheich, ein Professor der US-amerikanischen Brandeis University, und so weiter.

Recht eindrucksvoll. Und hoffentlich vielgelesen.