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Was die Ramadan-Terrorkampagne des IS bedeutet

 

Am Dienstagmorgen veröffentlichte Amarnath Amarasingam von der kanadischen Dalhousie University via Twitter einen aufschlussreichen Ausschnitt aus einem Chat, den er mit einem Anhänger der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) geführt hat. Der Dialog kreist um den Anschlag, der sich am Montagabend in unmittelbarer Nähe der Prophetenmoschee in Medina in Saudi-Arabien ereignet hat und bei dem vier Menschen ums Leben kamen.

Es gibt wenig Zweifel daran, dass der IS für den Anschlag verantwortlich ist. Tausende Muslime haben mittlerweile ihre Erschütterung darüber kundgetan, dass die Terrorgruppe an einem der heiligsten Orte des Islam zugeschlagen hat – dort nämlich, wo der Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert das erste muslimische Gemeinwesen errichtet hat, dessen Ausgestaltung und Regeln ja auch den Dschihadisten von heute als beispielhaft gelten.

„Wenn der IS die Prophetenmoschee angreifen würde, wäre das ein Problem für Sie?“, fragte Amarasingam also den IS-Anhänger, mit dem er kommunizierte.

„Ja, wenn sie die Moschee angreifen würden“, lautete seine Antwort. Aber tatsächlich hätten die Attentäter ja einen Parkplatz in der Nähe angegriffen, „und alle, die getötet wurden, waren vom Glauben Abgefallene saudische Sicherheitskräfte“.

„Könnte es sein“, fragte Amarasingam weiter, „dass der Zweck war, von den Verlusten in Syrien abzulenken?“

„Nein“, antwortete der IS-Sympathisant. „Wir sind uns der Verluste im Irak und in Syrien vollständig bewusst. Es ist, weil der Ramadan der heilige Monat des Dschihad ist. Die Leute wollen die Ehre haben, im Ramadan zu Märtyrern zu werden.“

Dieser kurze Dialog führt mitten ins Thema. Erstens ist es kein Zufall, dass der IS in den vergangenen vier Wochen besonders viele Anschläge an besonders vielen Orten ausgeführt hat. (Der Londoner Terrorforscher Shiraz Maher hat die Bedeutung des Ramadan im dschihadistischen Denken hier für die BBC skizziert.) Und zweitens wählen die IS-Attentäter ihre Ziele in der Regel nicht willkürlich aus, sondern auf eine Art und Weise, die innerhalb ihrer Ideologie logisch, zwingend oder zumindest akzeptabel ist: Ein Anschlag auf die Prophetenmoschee wäre das nicht; ein Anschlag auf saudische Polizisten ist es definitiv.

Der arabische Satellitensender Al-Arabija hat eine Infografik der wichtigsten Anschläge des IS während des Fastenmonats Ramadan zusammengestellt, dessen Ende übrigens mit dem heute beginnenden ʿĪd al-Fitr gefeiert wird. Anhand dieser Liste lässt sich nachzeichnen, welche Prioritäten der IS wo setzt.

6. Juni: In Jordanien werden sechs Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden bei einem gezielten Anschlag ermordet. Schon in den Monaten zuvor hatte der IS Jordaniens Geheimdienst und Militär in seiner Propaganda herausgestellt; kein Wunder: Die jordanischen Dienste gelten als die besten im Kampf gegen die Dschihadisten.

12. Juni: In Orlando, Florida erschießt Omar Mateen 49 Menschen in einem Club für LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender). Während des Massakers ruft er die Polizei an und erklärt auf diesem Wege dem IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi die Gefolgschaft. Wir wissen nicht sicher, ob der Ramadan eine Rolle bei der Auswahl des Zeitpunktes spielte. Aber mit einiger Gewissheit hat sich der Attentäter von der IS-Propaganda zu der Tat anstacheln lassen. IS-Sprecher Mohammed al-Adnani hatte kurz vor dem Beginn des Ramadan zu Anschlägen von Sympathisanten auf der ganzen Welt aufgerufen, der Monat solle eine Leidensmonat für die Ungläubigen werden. Der Anschlag zeigt, dass es dem IS zunehmend gelingt, Attentäter zur Selbstrekrutierung zu bewegen; der IS muss für solche Terrorakte selbst nichts beisteuern. Dass das Ziel ein LGBT-Club war, könnte mit der offenbar komplexen Persönlichkeit Omar Mateens zusammenhängen, passt aber in jedem Fall in das Feindbild des IS.

14. Juni: In Paris ersticht ein weiterer selbst ernannter IS-Anhänger einen französischen Polizisten und dessen Ehefrau. Auch an diesem Anschlag beweist sich die Macht der IS-Propaganda – der Attentäter beruft sich in einem Facebook-Stream sogar ausdrücklich auf al-Adnanis Aufruf. Polizisten, Nachrichtendienstler und Soldaten westlicher Staaten hat der IS schon vor geraumer Zeit zu generellen Zielen erklärt. Das liegt auf der Hand: Sie anzugreifen soll der Bevölkerung den Glauben nehmen, die Behörden könnten gegen den Terrorismus etwas ausrichten.

27. Juni: Im Libanon greifen acht Selbstmordattentäter ein christliches Dorf nahe der syrischen Grenze an. Dieser Anschlag gilt einmal Christen als „Ungläubigen“, zum Zweiten aber soll er den Libanon weiter destabilisieren. Der Bürgerkrieg in Syrien soll sich auf das Nachbarland ausweiten, das ist das IS-Kalkül. Denn je mehr Chaos, desto bessere Bedingungen für den IS – weil das seine Gegner schwächt und ihm selbst neue Bewegungsräume verschafft.

28. Juni: Bei einem Anschlag auf den Atatürk-Flughafen in Istanbul sterben 45 Menschen. Auch hier verfolgt der IS mehrere Ziele auf einmal: Der Regierung der Türkei soll ihre Ohnmacht vor Augen geführt werden und der Tourismus als Wirtschaftszweig soll geschwächt werden.

1. Juli: In Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, greifen Attentäter das diplomatische Viertel an, nehmen Geiseln in einem Café, mehr als zwanzig Menschen werden ermordet. Seit 2015 gibt es einen IS-Ableger im Land, er hat sich bereits zu mehr als 20 Anschlägen bekannt. Dieser ist besonders gut vorbereitet, er soll Schlagkraft dokumentieren und zugleich eine Destabilisierung des Landes verursachen, weshalb er auf das vermeintlich besonders sichere diplomatische Viertel und nur auf ausländische Besucher zielt.

3. Juli: Weit über 200 Menschen werden beim verheerendsten Anschlag seit 2003 in Baghdad getötet. Die Bluttat ereignet sich in Karrada, einem Einkaufsdistrikt der irakischen Hauptstadt. Im Bekennerschreiben behauptet der IS, das Ziel seien Schiiten gewesen. Tatsächlich tötet der Anschlag auch Sunniten. Aber das genannte Motiv ist eines, das zur DNA des IS gehört: Abu Mussab al-Sarkawi, die Gründungsfigur von Al-Kaida im Irak, aus welcher der IS hervorging, verfolgte seit 2003 die Strategie, im Irak einen schiitisch-sunnitischen Bürgerkrieg herbeizubomben. Den gibt es nun de facto bereits seit Jahren; jetzt geht es dem IS eher darum, jedwede Versöhnung (und damit eine schlagkräftige politisch-militärische Allianz gegen den IS) zu unterminieren.

3./4. Juli: Neben den Sicherheitskräften nahe der Prophetenmoschee von Medina ereignen sich in Saudi-Arabien unmittelbar vor Ende des Ramadan zwei weitere Selbstmordanschläge: In Qatif auf eine schiitische Moschee, in Dschidda in der Nähe des US-Konsulats. In beiden Fällen töten die Angreifer nur sich selbst. Aber die beiden Anschläge stehen vermutlich mit dem von Medina in Zusammenhang. Der IS hat sich noch nicht bekannt, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass er dahintersteckt. Die Auswahl der Ziele spricht seine Sprache: gegen die USA, mit denen Saudi-Arabien verbündet ist; gegen Schiiten, die der IS für Ungläubige hält.

 

Die diesjährige Ramadan-Kampagne des IS ist besonders blutig gewesen. (Und womöglich noch nicht vorüber.) Einige Experten mutmaßen, dass der IS, in dem Maße, in dem er in Syrien und im Irak militärisch unter Druck gerät, Anschläge in der Region beziehungsweise im Westen forciert. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Zusammenhang so zwingend ist. Denn der IS steuert nicht alle Anschläge außerhalb der Region zentral – die meisten, wenn nicht alle der oben aufgeführten Anschläge dürften ohne direkte Kenntnis der IS-Führung in Rakka und Mossul geplant und ausgeführt worden sein.

Deshalb gehe ich eher davon aus, dass die Anschläge eine weitere Botschaft transportieren sollen: Wir, die Anhänger und Mitglieder des IS außerhalb der Kerngebiete, sind willens und in der Lage, Anschläge auszuüben. Nicht nur gezielte, sondern auch solche, deren Timing wir (Ramadan!) in der Hand halten. Es wäre also zusätzlich eine Art interne Botschaft vom IS an den IS in den Bluttaten enthalten. Der „Kalif“ al-Baghdadi und seine Schergen werden sie mit Freude vernommen haben.

Allerdings gibt es einen weiteren Aspekt, der mir an dieser Anschlagsserie bemerkenswert erscheint: Die Zahl der ermordeten Muslime ist derart hoch, dass die Terrorakte dem IS wenig Zulauf bringen dürften. Anschläge auf Schiiten und in Medina verfangen nur noch bei Menschen, die mental bereits extrem radikalisiert sind, bei solchen, die man bereits als Dschihadisten bezeichnen muss. Damit konterkariert der IS eine Strategie, die insbesondere in Syrien und im Irak in den von ihm gehaltenen Gebieten bisher verfolgt hat – nämlich sich als Schutzmacht aller Sunniten aufzuspielen. Gibt der IS diesen Anspruch auf, jetzt, wo er vielleicht zu ahnen beginnt, dass er seine Gebiete in Syrien und dem Irak mittelfristig verlieren könnte? Bereitet er sich bereits auf seine Rückkehr zur marodierenden Untergrundgruppe vor, die er vor seiner Landnahme war?

Das ist eine der Fragen, die man in den kommenden Monaten im Auge behalten sollte.