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Wie der „Islamische Staat“ Recht spricht

 

„Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode“, heißt es in Shakespeares Hamlet über den dänischen Prinzen. Ganz ähnlich könnte man über die Rechtsprechung des „Islamischen Staates“ (IS) urteilen. Es lohnt sich, einen Blick auf die Fatwas, die Rechtsgutachten zu werfen, welche Muftis des IS in dessen „Kalifat“ in den vergangenen Monaten erlassen haben.

Dieser Blick lohnt sich deshalb, weil er hilft, den IS besser zu begreifen. Das „Kalifat“ existiert ja trotz der Luftschläge der internationalen Allianz und des verstärkten türkischen Engagement immer noch – und immerhin rund sechs Millionen Menschen müssen unter der Herrschaft der Dschihadisten leben. Natürlich ist das „Kalifat“ noch immer kein Staat. Aber je mehr Zeit verstreicht, desto mehr Charakteristika bildet dieses schreckliche Gemeinwesen aus. Wie also behandelt dieser Pseudo-Staat seine „Bürger“ (die in Wahrheit in der großen Mehrheit nichts als Untertanen sind)?

Wer ein wenig in die Rechtsgutachten eintaucht, der findet Spuren von Antworten auf drei Ebenen: Die Muftis des IS betrachten sich selbst als Teil der islamischen Orthodoxie, zumindest in dem Sinne, dass sie Positionen der vier klassischen Rechtsschulen des Islam berücksichtigen und nicht etwa von Vornherein vollkommen ignorieren. Zum Zweiten: Es gibt Anzeichen von Pragmatismus in den Argumentationen der Muftis, deren Fatwas am nächsten an das herankommen, was man in realen Staaten „stehende Rechtsprechung“ nennen würde. Zum Dritten: Selbst der offenkundige Wahnsinn hat Methode – insofern als die Muftis auch die abscheulichsten, selbst für die meisten radikalen Islamisten nicht mehr akzeptablen Verbrechen, eine Begründung suchen, die sie nicht nur als glaubwürdig, sondern auch noch als wahrhaft islamisch zu verkaufen trachten.

Eine Fatwa, das muss man hier ergänzen, besteht traditionell aus einer Frage an einen Mufti – und der Antwort dieses Muftis. Im sunnitischen Islam, und die IS-Dschihadisten betrachten sich als Sunniten, ist eine Fatwa nicht bindend. Es steht dem Gläubigen frei, einen weiteren Mufti zu konsultieren. Aber im „Kalifat“ des IS wird es vermutlich nicht allzu viele unterschiedliche Ansichten geben.

Der IS-Experte Cole Bunzel hat vor einigen Monaten eine Sammlung von authentischen Fatwas aus dem IS-„Kalifat“ veröffentlicht und kommentiert. Sie liefert sehr interessante Einblicke.

Eine Frage lautet etwa, ob es statthaft sei, dass ein Gläubiger sich die Organe eines Ungläubigen einpflanzen lässt. Ja, antwortet der Mufti – und wartet mit einem Analogieschluss auf: So würden die schafiitische und hanbalitische Rechtsschulen es etwa erlauben, Ungläubige in Notsituationen zu töten, um ihr Fleisch zu essen; Organtransplantationen, die eine lebenserhaltende Wirkung haben, seien damit vergleichbar.

Eine andere Frage lautet, ob es erlaubt sei, einen Ungläubigen zu verbrennen. Die Antwort ist zugleich wahnsinnig und ehrlich: Die hanafitische und schafiitische Rechtsschulen würden das erlauben, auch wenn einige Gelehrte anderer Meinung seien. Aber: Solange eine solche Verbrennung ein Akt der Reziprozität darstelle, sei er in jedem Fall erlaubt. Als Beispiel führt der Mufti dann den Propheten Mohammed höchstselbst an, der Mitglieder des Stammes der Banu Urayna blenden und dann töten ließ ließ, weil sie einen seiner Hirten angegriffen und getötet hatten. Als der IS Anfang dieses Jahres einen jordanischen Pilot bei lebendigem Leibe verbrannte, begründeten die Dschihadisten das übrigens ganz ähnlich: Wer Bomben abwerfe, der verbrenne Zivilisten bei lebendigem Leibe. Es sei nur recht und billig, das ihm Gleiches widerfahre.

 

An anderen Stellen wiederum sind die IS-Muftits (wer diese genau sind, ist übrigens nicht ganz klar) wiederum ziemlich pragmatisch. So beteuern sie mehrfach, dass es nicht erlaubt sei, das „Kalifat“ zu verlassen und in die Länder der Ungläubigen zu ziehen; sie lassen aber, in Fatwa Nummer 37, eine nicht ganz unwichtige Ausnahme zu: „Eine große Notwendigkeit“, zum Beispiel ein medizinisches Problem: „Dann ist es erlaubt, in die Länder des Unglaubens zu reisen.“

Ähnlich regeln sie das Problem, dass eine Frau mitunter in die Verlegenheit kommen kann, dass keine Ärztin, sondern nur ein Arzt zu Verfügung stehen. Das Bleichen von Augenbrauen verbieten sie deshalb nicht, weil es sich nicht aus den kodifizierten Texten ableiten lässt. Und wenn ein Händler gefälschte Markenartikel verkauft? Auch dann gibt es eine pragmatische Regelung: Niedrigere Preise als für die Originalware ansetzen; oder einen Zettel daneben stellen, dass es sich um eine Nachahmung handelt.

Es wäre einfach, sich über diesen Wahnsinn mit Methode lustig zu machen. Aber das ist nicht angemessen. Für Millionen von Menschen, die unter diesen ja realen Verhältnissen leben, hängt viel davon ab, wie die IS-Muftis und in der Folge die IS-Richter urteilen. Und ob diese Reaktionen berechenbar sind und halbwegs verlässlich.

Ich empfehle deshalb sehr die Lektüre eines zweiten Textes, eines Aufsatzes aus Foreign Affairs, in dem Andrew F. March und Mara Revkin ohne jeden Schaum vor dem Mund und sehr analytisch erklären, wieso das IS-„Kalifat“ weniger willkürlich ist als es von Außen betrachtet den Anschein haben kann. Sie weisen nach, dass die im Entstehen begriffenen „ständige Rechtsprechung“ des IS mittlerweile ein Minimum an Rechtssicherheit bietet.

Das ist ein Gedanke, der aus rein westlichem Blickwinkel fast schon obszön erscheinen kann. Diese Mörder und Kriegsverbrecher – auf dem Weg zu einem Proto-Rechtsstaat? Nein, so weit muss man natürlich nicht gehen. So weit gehen auch die beiden Autoren nicht. Aber sie erläutern, dass es für den IS eine zentrale Frage ist, dass er Legitimität erringt; und Willkür steht dieser Idee entgegen. Also müssen die Dschihadisten zumindest nach nachvollziehbaren Prinzipien handeln – und genau das versuchen sie auch, so March und Revkin. Als Beispiel führen sie etwa glaubwürdige Berichte an, dass der IS durchaus auch seine eigenen Kämpfer und Kader für Verfehlungen zur Rechenschaft zieht.

Nur um nicht missverstanden zu werden: Diese Entwicklungen zur Kenntnis zu nehmen, bedeutet nicht, das „Kalifat“ schönzureden. Es bedeutet, ganz im Gegenteil, nicht zu ignorieren, wie der IS tatsächlich vorgeht. Es ist eben Wahnsinn, und doch hat es Methode. Und für Millionen von Menschen, die derzeit keine Wahl haben, wo und unter wessen Herrschaft sie leben, ist das wichtig.