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„Die Führung von Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel hat diese Operation angeleitet….“

Nur wenige Stunden nachdem die beiden mutmaßlichen Mörder der Charlie-Hebdo-Mitarbeiter in Paris am Ende einer Geiselnahme selbst ums Leben gekommen sind, hat die Filiale des Terrornetzwerks Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) auf mehreren Kanälen beansprucht, für den Anschlag verantwortlich zu sein.

Gegen 22 Uhr am Freitagabend deutscher Zeit meldete sich in arabischer Sprache ein mutmaßliches hochrangiges Mitglied der Organisation auf Twitter zu Wort. „Die Führung von Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel hat diese Operation angeleitet“, erklärte er dort. „Das Ziel war Frankreich, wegen der offensichtlichen Rolle des Landes im Kampf gegen den Islam.“ Osama bin Laden, der 2011 getötete Al-Kaida-Gründer, habe Frankreich noch zu Lebzeiten gewarnt.

Fast zeitgleich sandte ein AQAP-Kader (vielleicht handelt es sich um dieselbe Person) eine englische Übersetzung dieser Tweets nach meinen Recherchen an mehrere internationale Medien. Als erster berichtete der Enthüllungsjournalist Jeremy Scahill darüber.

Ebenfalls fast zeitgleich veröffentlichte AQAP auf YouTube eine Audioansprache ihres „Scharia-Beauftragten“ Harith al-Nasari, der ebenfalls auf den Anschlag Bezug nahm, ihn allerdings nicht explizit als Tat von Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel bezeichnete.

AQAP ist eine von drei Filialen des Terrornetzwerks Al-Kaida und mit Abstand die schlagkräftigste. Sie hat in den vergangenen Jahren mehrfach Anschläge auf Ziele im Westen verübt – auf Frachtflugzeuge ebenso wie auf einen US-Passagierjet auf dem Weg von Amsterdam in die USA. Im letzteren Fall gelang es dem Attentäter an Bord der Maschine allerdings nicht, seinen Sprengsatz zur Zündung zu bringen.

Der Chef von AQAP, Nasir al-Wuhaishi, ist der stellvertretende Anführer von Al-Kaidas Mutterorganisation und damit die Nummer zwei hinter dem Ägypter Aiman al-Sawahiri, der 2011 auf Osama bin Laden folgte und im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet vermutet wird.

Beide Erklärungen – das Video und die Tweet-Sammlung – liegen ZEIT ONLINE vor. Es spricht viel dafür, dass sie authentisch sind. Aber beide Erklärungen enthalten kein Täterwissen. Weder werden die Pariser Attentäter namentlich erwähnt, noch wird Bezug genommen auf den genauen Vorgang des Anschlags oder sein Ende oder auch nur auf das Magazin Charlie Hebdo. Das stimmt skeptisch. Aber es wäre nicht untypisch, wenn AQAP in Bälde nachlegt – und in einigen Tagen zum Beispiel Videoaufnahmen mit Abschiedsbotschaften der Attentäter oder Bilder vom Training im Jemen nachreicht. So war es zum Beispiel bei dem nigerianischen Attentäter, der 2009 den US-Passagierjet zum Absturz bringen sollte.

Plausibel ist die Erklärung noch aus zwei anderen Gründen. So hat französischen Medienberichten zufolge ein Augenzeuge des Anschlags auf die Redaktion von Charlie Hebdo erklärt, dass einer der Angreifer ihm gesagt habe, er agiere im Auftrag von AQAP. Am Freitagabend wurde zudem bekannt, dass die beiden Attentäter während der finalen Geiselnahme außerhalb von Paris mit einem französischen Fernsehsender Kontakt hatten – und den Reportern ebenfalls ausgerichtet hatten, sie seien von AQAP finanziert und angeleitet worden.

AQAP hat zudem im vergangenen Jahr einen der ermordeten Karikaturisten auf einer Wanted-Liste namentlich erwähnt. Einer der beiden Pariser Attentäter soll sich 2011 zudem im Jemen bei AQAP aufgehalten haben.

AQAP agiert vor allem im Jemen. Die Gruppe, deren Kämpferzahl auf eine niedrige vierstellige Zahl geschätzt wird, existiert seit fast zehn Jahren. In ihrer Führung finden sich einige sehr erfahrene Dschihad-Veteranen und Bombenbauer. Die Gruppe verübt regelmäßig schwere Anschläge im Jemen, vor allem gegen Sicherheitsbehörden und schiitische Gruppen; immer wieder hat sie aber auch Anschläge gegen westliche Ziele geplant – und gegen Ziele in Saudi-Arabien, dessen Regime AQAP bekämpft.

Wenn man alle diese Informationen übereinanderlegt, ergeben sie ausdrücklich keinen Beweis, dass AQAP für den Anschlag in Paris verantwortlich war. Aber eine plausible Indizienkette.

Es ist damit zu rechnen, dass in den kommenden Tagen weitere Erklärungen von AQAP veröffentlicht werden.

Wir werden weiter berichten.

 

Was sagen eigentlich die Kirchen zu Pegida?

Die Pegida-Bewegung trägt den Begriff schon im Namen: „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes„. Doch Abendland ist hier nicht als geografische oder historische Bezeichnung gemeint; der Begriff „Islamisierung“ ist ein erster Hinweis: Die Pegida-Demonstranten meinen ein Abendland, das sie selbst oft mit den Attributen „christlich“ oder „christlich-jüdisch“ anreichern. Dieses Abendland stellt in ihren Augen eine Art gewachsene Wertegrundlage dar, deren Bedeutung durch die „Islamisierung“ in Frage gestellt werde.

Nun sind die evangelische und die katholische Kirche natürlich nicht die Gralshüter dieses Begriffs. Auch der Zentralrat der Juden ist es nicht. Jeder ist frei, ihn zu verwenden. Ich fand es trotzdem interessant, alle drei Institutionen zu fragen, wie sie zu diesem Begriff stehen. Außerdem wollte ich wissen, ob sie eine Islamisierung des Abendlandes befürchten.

Ich habe deshalb drei Mal dieselbe E-Mail verschickt; die beiden Fragen lauteten folgendermaßen:

1.) Glauben Sie, dass es eine schleichende, offene oder drohende „Islamisierung“ in Deutschland gibt?

2.) Finden Sie den Begriff „Abendland“ oder „christliches Abendland“ oder „christlich-jüdisches Abendland“ sinnvoll? Was bedeutet er für den Zentralrat der Juden / die Deutsche Bischofskonferenz / die Evangelische Kirche in Deutschland, verwenden Sie ihn oder halten Sie ihn für irreführend?

Im Folgenden dokumentiere ich die Antworten in voller Länge.

Ein Sprecher der Evangelischen Kirche in Deutschland antwortete so:

„Von einer Islamisierung kann angesichts eines Bevölkerungsanteils von weniger als fünf Prozent Muslimen und des friedlichen Zusammenlebens keine Rede sein. Der Begriff christliches Abendland ist ein Kulturbegriff, der mit Religion nur bedingt etwas zu tun hat. Er kann leicht dazu missbraucht werden, etwas als christlich auszugeben, was faktisch den christlichen Orientierungen entgegensteht. Der Begriff wird leider auch oft missbraucht, um sich von anderen Menschen, anderen Religionen und anderen Kulturen abzugrenzen. Wenn der Begriff benutzt wird, um ausländerfeindliche, rassistische und menschenverachtende Parolen zu unterfüttern, ist das das genaue Gegenteil von Christentum.“

Die Antwort von Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden:

„Von einer ‚Islamisierung‘ Deutschlands kann überhaupt keine Rede sein. Das zeigen allein die Zahlen: In Deutschland leben nur vier Millionen Muslime, vier Millionen von 80 Millionen Bürgern. Hier werden von den Pegida-Initiatoren in unverantwortlicher Weise Ängste geschürt und zugleich eine bestimmte Religion verunglimpft. Mit Blick auf unsere Geschichte kann man durchaus von einer christlich-jüdischen Kultur sprechen. Der Begriff „christlich-jüdisches Abendland“ wird von Pegida und Co. jedoch in einem ausgrenzenden Sinn verwendet. Das lehne ich ab. Sowohl in der Geschichte Europas als auch heutzutage hat der Islam zu wichtigen kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften beigetragen und war und ist eine Bereicherung. Ebenso gab es immer säkulare Strömungen, die unsere Kultur vorangebracht haben.“

Schließlich die Antwort des Pressesprechers der Deutschen Bischofskonferenz (DBK):

„Wir bitten um Verständnis, dass wir uns derzeit nicht an der Debatte beteiligen möchten. Die jüngsten Positionen von Papst Franziskus zum Islam (s. Besuch in der Türkei) und die Bedeutung Europas (s. Besuch in Straßburg) sind sicherlich wegweisend.“

 

EKD und ZdJ sind sich also einig: Von einer Islamisierung kann keine Rede sein. Zudem sehen sie die Art und Weise der Verwendung des Begriffes „Abendland“ durch Pegida skeptisch bis kritisch. (Allerdings warnt der EKD-Vorsitzende zugleich vor einer „Dämonisierung“ der Pegida-Bewegung, das ergänze ich hier gerne der Vollständigkeit halber.)

Ich bin dem Hinweis des DBK-Sprechers gefolgt und habe nachgelesen, was Papst Franziskus in der Türkei beziehungsweise in Straßburg gesagt hat. Der Papst hat hat auf diesen Reisen deutliche Worte gegen islamistischen Terrorismus, für die Religionsfreiheit und für den interreligiösen Dialog gefunden. Er hat auch inhumane Praktiken im Umgang mit Flüchtlingen angeprangert. Es waren starke, klare Aussagen. Aber auf das Phänomen Pegida sind sie nur schwer anzuwenden.

Unter dem Strich scheint es mir dennoch so zu sein, dass die Pegida-Demonstranten sagen wir mal: eher wenig Rückhalt in jenen offiziösen Institutionen genießen, deren Werte und Maßstäbe sie verteidigen möchten. Heute wollen die Demonstranten in Dresden mit dem Singen von Weihnachtsliedern gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ protestieren. Ich vermute, dass kaum ein katholischer, evangelischer oder jüdischer Geistlicher dabei sein wird.

 

Das Gute im Schlimmen, oder #Illridewithyou

Sechzehn Stunden lang hat ein 50-jähriger iranisch-stämmiger Asylant am Montag im australischen Sydney dutzende Geiseln festgehalten. Als die Polizei das Café schließlich stürmte, in dem der Anschlag stattgefunden hatte, wurde der Geiselnehmer getötet, und auch zwei Geiseln überlebten diesen tragischen Tag nicht. Es ist nachvollziehbar, dass der Terrorakt, den der Attentäter im Namen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ beging (aber vermutlich, ohne eine Verbindung dorthin zu haben), die Nachrichten dominierte.

Aber es gibt noch eine andere Geschichte von diesem Tag zu erzählen.

Sie beginnt mit einer jungen Frau in Brisbane, die an diesem Tag im Zug sitzt und auf ihrem Handy die Nachrichten liest. Die junge Frau heißt Rachael Jacobs, und während sie liest, sieht sie am anderen Ende des Waggons eine andere Frau, die ebenfalls auf ihr Telefon starrt, und dann damit beginnt, ihr Kopftuch aufzuknüpfen. Rachael Jacobs berichtet, dass ihr in diesem Moment Tränen in die Augen schossen, weil sie annahm, dass die andere Frau Angst hatte, als Muslimin erkennbar zu sein – offensichtlich aus Sorge, dass man sie mitverantwortlich machen würde für die Tat des Geiselnehmers in Sydney, sie vielleicht bepöbeln würde.

Zufällig stiegen beide an derselben Station aus.  „Ich rannte ihr hinterher und sagte. ‚Setzen Sie es wieder auf! Ich begleite Sie!'“, schrieb Rachael Jacobs nach dieser Begegnung auf Facebook. „Sie begann zu weinen, umarmte mich für eine Minute, und ging dann alleine weiter.“

Eine andere junge Frau las diese Geschichte – und erfand daraufhin den Twitter-Hashtag #Illridewithyou, zu deutsch: „Ich fahre mit dir.“

Das löste eine Lawine aus. Innerhalb von nur 12 Stunden gab es 150.000 Tweets mit diesem Hashtag, berichten australische Medien. Wenn man nachliest, findet man darunter Nachrichten aller Art von hunderten von Menschen, die Muslimen und Musliminnen anbieten, sie zu begleiten, sollten diese Angst vor so genannten „Hate Crimes“ haben, wie sie in der Folge islamistisch motivierter Anschläge immer wieder vorkommen. Pendler posteten etwa, in welchem Bus oder in welchem Zug sie sitzen würden und woran man sie erkennen könne. Die Geschichte fand sogar eine Fortsetzung in der analogen Welt: Autofahrer stellten Schilder auf ihre Ablagen, auf denen „#Ilridewithyou“ stand.

Was man ebenfalls feststellen kann, wenn man den Twitter-Meldungsstrom nachliest, das ist: Wie viele Australier aller denkbaren ethnischen und religiösen Hintergründe sich durch diesen simplen Akt im Angesicht des Terrors in Sydney verbunden fühlten und das Gefühl hatten, zusammenzurücken und eine Art Gegengift gefunden zu haben. Ich will nicht allzu pathetisch werden, es gab auch Menschen, die sich über die Aktion lustig machten, oder sie für überflüssig und übertrieben hielten. Und natürlich ändert diese Aktion nichts am strukturellen Rassismus Australiens, oder an der irrsinnigen Asylpolitik des Landes. Aber für viele hundert Menschen, vielleicht tausende, hat sie an diesem Tag etwas bedeutet. Ob es Muslime waren oder irgend etwas anderes.

Ich finde das bemerkenswert. Und ja: tröstlich. Nicht zuletzt mit den Bildern der Pegida-Demonstration von gestern im Kopf.

 

Wie islamophob ist der „Focus“?

„Ein Glaube zum Fürchten“, so lautet die Überschrift des aktuellen Focus-Titels. Es geht, Überraschung, um den Islam. In dem Text, der eigentlich ein Pamphlet ist, werden „acht unbequeme Wahrheiten“ über diese Religion versprochen. Leider offenbart die Lektüre auch eine Reihe unbequeme Wahrheiten über den Focus.

1. Der Focus sucht sich seine Belege bei Extremisten, die er als „Gelehrte“ verkauft.

„Wiederholt haben islamische Gelehrte darauf hingewiesen“, schreibt der Focus, „dass westliche Frauen mit ihrer Kleidung zur Vergewaltigung geradezu einlüden. 2007 erklärte der australische Imam Sheik Faiz Mohammed, dass westliche Mädchen ‚Huren und Schlampen‘ seien“.

Das Zitat ist korrekt. Aber der Focus unterlässt es, auch nur in einem Halbsatz darauf hinzuweisen, dass Faiz Mohammed ein Dschihadist ist, der unter anderem gefordert hat, Kinder für Selbstmordattentate zu begeistern. Was hat so ein Verrückter hier als Kronzeuge zu suchen? Das ist, als würde man den Ku-Klux-Klan heranziehen, um christlichen Rassismus anzuprangern.

Der Focus macht passend, was passend gemacht werden muss. Weil er keine besseren Kronzeugen finden kann?

 

2. Der Focus gießt Öl ins Feuer, selbst wenn es gar keines gibt. 

Irgendein Osnabrücker Muslim hat den mittellustigen Komiker Dieter Nuhr angezeigt, weil er findet, dass Nuhr den Islam beleidigt habe. Mein Gottchen.

Aber was macht der Focus? Er illustriert diese Episode mit zwei Szenen im Comic-Style: Nuhr mit Heftpflaster vor dem Mund (Genau: Zensur! So weit sind wir schon gekommen!). Und eine wütende Demo von hasserfüllten, dichtgedrängten Salafisten, die ihre Fäuste schütteln und „Nuhr verklagen!“-Plakate hochhalten.

Tatsächlich gab es genau eine Kundgebung, an der in Osnabrück maximal 30 Menschen teilnahmen, und die friedlich blieb. Salafisten waren auch anwesend. Von Fäusteschütteln war aber nirgendwo etwas zu lesen oder zu sehen. Und dichtgedrängt standen die Männer auch nicht. Sie sahen eher etwas verloren aus. Ein Bild aus den Neuen Osnabrücker Zeitung kann man hier finden.

Die Realität interessiert den Focus anscheinend nicht. Er suggeriert lieber etwas herbei.

 

3. Der Focus liest keine Zeitung.

„Grüne und Sozialdemokraten finden es schlimm, dass Rechte oder Rechtsextreme gegen den militanten Islamismus mobil machen, aber sie blieben stumm, als die deutsche Salafistenszene demonstrierte, rekrutierte und randalierte – in solchen Kreisen gilt man schnell als ‚islamophob'“, schreibt der Focus.

Hä?

Otto Schily (SPD, 2014): „Parallel dazu sollten wir uns allerdings auch von falsch verstandener Toleranz verabschieden. In Deutschland gelten Meinungsfreiheit und Grundgesetz – und nicht die Scharia.“

Volker Beck (Grüne, 2011): Beck fordert die Bundesregierung dazu auf, die Einreise des islamistischen Predigers Bilal Phillips wegen Homophobie zu verhindern.

Cem Özdemir (Grüne, 2011) bezeichnete die Koran-Verteilaktion „Lies“ als „Werbestrategie“, mit der sich Radikale als Sprachrohr der Muslime darstellen wollten.

Eckhart Körting (SPD, 2011): „Fast jeder, der Richtung Dschihad abgedriftet ist, hatte mit Salafisten Kontakt.“

(Unvollständige Liste)

 

4. Für den Focus sind Deutsche nur als Opfer vorstellbar.

Noch so eine Illustration aus der Titelstrecke: Wir sehen einen bärtigen Muslim, der einen Koran hinter dem Rücken hält, und einem anderen jungen Mann verschwörerisch etwas ins Ohr flüstert (Koransuren gar?). Die Bildunterschrift lautet: „Wieder hat der angebliche Diener Allahs einen jungen Deutschen für seinen Kampf gewonnen.“

Deutsche, so lautet die subkutane Botschaft des Focus, werden verführt. Böse sind „die Anderen“.

Das ist auf so vielen Ebenen schief, dass man schreien möchte. Aber für den Focus ist offensichtlich klar: Der mit dem Bart – das kann schon mal kein Deutscher sein.

 

5. Der Focus kennt sich nicht aus in der Welt.

„In weiten Teilen der islamischen Welt dürfen Frauen weder am öffentlichen Leben teilnehmen noch Eigentum besitzen noch heiraten, wen sie wollen.“

Ich bin der Letzte, der reale Unfreiheiten verteidigt – aber dieser Satz allein reicht als Eingeständnis, dass es dem Focus nicht um Journalismus geht. In „weiten Teilen“ der muslimischen Welt? Nur zwei kleine Beispiele: Pakistan und die Türkei (zwei bevölkerungsreiche unter den mehrheitlich muslimischen Staaten) hatten weibliche Regierungschefs. Und Rania, die Königin von Jordanien, tritt nicht nur ständig öffentlich auf (jaja, ich weiß: repräsentativ, aber trotzdem), sie trägt auch noch – Achtung, Focus-Redaktion! – häufiger mal kein Kopftuch.

 

Fazit

Der Islam braucht einen Luther, schreibt der Focus als Fazit. Mindestens genauso dringend braucht der Focus allerdings Journalisten. Sollte diese Titelgeschichte ein ernst gemeinter Versuch gewesen sein, reale und diskussionswürdige Probleme anzusprechen, dann ist er gescheitert. Aber so geht das, wenn einem die eigenen Vorurteile den Blick verstellen. Oder wenn man glaubt, man könne durch das vermeintliche „Tabu“ der „Islamkritik“ noch ein paar Leser rekrutieren.

 

Hat die Türkei mit dem „Islamischen Staat“ gedealt?

Ende September gelang es der Türkei, nach mehr als drei Monaten 46 türkische Staatsbürger freizubekommen, die der „Islamische Staat“ (IS) im Juni im Irak als Geiseln genommen hatte. Ein spektakulärer Erfolg. Zumal, wie die Regierung betonte, kein Lösegeld bezahlt worden sei.

Warum aber gab der IS die Geiseln dann frei? Zahlreiche Spekulationen darüber sind in den vergangenen Wochen angestellt worden, viele Kommentatoren vermuteten, dass die Türkei etwa zugesagt haben könnte, sich nicht über die Maßen am Kampf gegen das Terror-Kalifat zu beteiligen.

Vielleicht war es aber noch anders.

Die Londoner Times berichtet heute, dass ihren Quellen zufolge zwei britische Dschihadisten unter einer weit größeren Zahl von Gotteskriegern gewesen seien, welche die Türkei als Gegenleistung freigelassen habe. Es geht demnach um insgesamt bis zu 180 Islamisten, die in türkischen Gefängnissen oder Krankenhäusern festsaßen. Dem Blatt liegt offenbar eine entsprechende Liste vor.

Die BBC griff den Bericht auf und ergänzte, dass Beamte im britischen Außenministerium den Times-Bericht für glaubwürdig hielten.

Ein solcher Deal wäre sicher nicht im Sinne der westlichen und arabischen Verbündeten der Türkei, die sich im Kampf gegen den IS engagieren. Zumal die Türkei jahrelang nicht genau hingesehen hat, wer so alles über ihre Grenze nach Syrien eingesickert ist. Für die meisten der Hunderten Dschihadisten aus Europa, die dorthin gezogen sind, war das die Route, die sie ins Kampfgebiet wählten.

Einer, der beim Versuch, nach Syrien zu gelangen, in der Türkei hängenblieb, ist ein österreichischer Hassprediger mit ägyptischen Wurzeln: Mohamed Mahmoud. Er saß in Österreich mehrere Jahre wegen Terrorismus im Gefängnis, ging danach nach Deutschland, dann nach Ägypten. Er gehört zum Umfeld des Berliner Ex-Rappers DesoDogg alias Abu Talha al-Almani, der heute regelmäßig für den IS Propaganda verbreitet (mutmaßlich von Syrien aus).

Mahmouds Haftbedingungen in der Türkei waren allerdings offenkundig sehr kommod. Er konnte weiterhin online Hasspredigten veröffentlichen. Ein deutscher Nachrichtendienstler nannte es eine Art Hausarrest.

Nun ist Mahmoud ebenfalls frei. Steht auch seine Freilassung im Zusammenhang mit der Freilassung der türkischen IS-Geiseln?

Dass Mahmoud frei ist, hat das österreichische Innenministerium bestätigt. Über einen Zusammenhang zur Freilassung will Wien aber nicht spekulieren. Die türkischen Behörden, so ein Sprecher des Ministeriums in Wien, hätten lediglich mitgeteilt, die zeitliche Höchstgrenze für Polizeihaft sei in seinem Fall erreicht gewesen.

In Österreich wird wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gegen Mahmoud ermittelt – es geht um den IS. Außerdem, so der Sprecher, werde in Österreich geprüft, wie es eigentlich um die Staatsangehörigkeit des Radikalen bestellt sei. Man prüfe Hinweise, Mahmoud habe bei seinem Ägypten-Aufenthalt die dortige Staatsbürgerschaft angenommen.

Bis jetzt hat Mahmoud sich noch nicht öffentlich zu Wort gemeldet. Überraschend wäre es nicht, wenn er demnächst an der Seite von Abu Talha al-Almani in einem Video zu sehen wäre. Die beiden zählen zu den Führungsfiguren der deutschsprachigen dschihadistischen Szene.

Ob die Türkei Mahmoud wirklich im Austausch freigelassen hat, ist also nicht klar. Aber vorstellbar.

Sollte sich der Bericht der Times über insgesamt 180 freigelassene militante Islamisten bestätigen, wäre Mahmoud allerdings womöglich nicht einmal das größte Problem. Die Türkei dürfte sich einige Fragen gefallen lassen müssen – wenn nicht öffentlich, dann gewiss hinter verschlossenen Türen.

 

 

 

 

Islamische Argumente gegen den „Islamischen Staat“

Der „Islamische Staat“ (IS) tut etwas, was Al-Kaida nie getan hat: Er trägt das Adjektiv „islamisch“ im Namen. Natürlich tun die Dschihadisten das mit Absicht und Berechnung: Sie erheben einen Alleinvertretungsanspruch für die „Umma“, die Gemeinschaft aller Muslime. Muslim ist demnach, wen sie als Muslim akzeptieren. Alle anderen müssen bereuen, umkehren und sich dem „Islamischen Staat“ anschließen. Oder sie werden verurteilt, bestraft oder gleich ermordet. Der „takfir“, also das Zum-Ungläubigen-Erklären, ist seit jeher eine Säule des dschihadistischen Denkens, und der IS macht davon reichlich Gebrauch.

In ihren Erklärungen, Reden und Kommuniqués geben sich die IS-Anführer zugleich theologisch geschult. Bei Abu Bakr al-Baghdadi, dem Chef und „Kalifen“, ist da sogar etwas dran: Nach allem, was wir wissen können, hat er tatsächlich die Islamischen Wissenschaften studiert. Mit dem Mainstream, mit der jahrhundertelangen islamischen theologischen Tradition, hat sein Denken trotzdem wenig zu tun.

Umso wichtiger ist es, wenn gestandene Islamgelehrte die Art und Weise, in welcher der IS (und Al-Kaida, die es oft ganz ähnlich machen) mit theologischen Versatzstücken hantiert, kenntlich machen und kritisieren. Sie können zeigen, wo und wie sehr der IS von allem abweicht, was weitestgehender Konsens unter islamischen Gelehrten weltweit ist.

Ein Beispiel: In einer Rede erklärte al-Baghdadi, der Prophet Mohammed sei mit dem Schwert als eine Gnade in die Welt gekommen. Tatsächlich steht im Koran, der Prophet sei als eine Gnade in die Welt gekommen. Dass er mit dem Schwert gekommen sei, findet sich aber im Hadith – im Kodex der überlieferten Aussagen und Aussprüche und Handlungen des Propheten.

Warum ist das wichtig? Erstens, weil man nach gängiger Lehre Koran und Hadith nicht vermischen darf. Zweitens, weil der Koran-Inhalt Muslimen als ewig richtig und wahr gilt, der Hadith-Kodex hingegen zeitgebunden zu interpretieren ist.

Das Beispiel stammt nicht von mir. Es stammt aus einem „Brief an Baghdadi“, den 126 Islamgelehrte aus vielen verschiedenen Ländern unterzeichnet und auf eine Webseite gestellt haben. Er ist der Versuch, die vermeintlichen islamischen Wahrheiten der IS-Argumentation zu widerlegen.

Ich finde diesen Brief wichtig. Er hat nichts zu tun mit den ständig verlangten Distanzierungen der Muslime dieser Welt von den Gräueltaten des IS, davon halte ich wenig. Natürlich enthält der Brief all das, aber es ist eben theologisch unterfüttert. Er richtet sich auch gar nicht an ein nicht-muslimisches Publikum. Sondern an Muslime, denen er vor Augen führt, dass nichts, wirklich gar nichts, so simpel ist in dieser an Lehren, Traditionen und Theologien reichen Religion, wie der selbst ernannte Kalif es ihnen weismachen will.

Genau aus diesem Grund finde ich aber durchaus, dass Nicht-Muslime einmal einen Blick darauf werfen sollten. Der Brief vermittelt einen ganz guten Eindruck von der Art, wie Islamgelehrte argumentieren. Echte Islamgelehrte.

Natürlich bedeutet das nicht zwangsläufig, dass alle, die diesen Brief unterzeichnet haben, in allen Dingen Vorstellungen teilen, die sie gleich zu Liberalen oder Demokraten machen. Ich kenne auch nur wenige Namen auf dieser Liste. Aber die Ämter, die sie bekleiden oder bekleidet haben, sprechen für sich. Es sind mehrere Repräsentanten der ägyptischen Fatwa-Behörde darunter, der ehemalige Großmufti von Bosnien, ein hochrangiger Sufi-Scheich, ein Professor der US-amerikanischen Brandeis University, und so weiter.

Recht eindrucksvoll. Und hoffentlich vielgelesen.

 

Al-Kaidas Filialen drängen auf Einheit der Dschihadisten

Die Beziehungen zwischen Al-Kaida und dem „Islamischen Staat“ (IS), der in Teilen Syriens und des Iraks ein „Kalifat“ ausgerufen hat, sind kompliziert. Kurzfassung: Sie liegen miteinander im Streit, bekämpfen sich und konkurrieren miteinander. Die Kaida-Zentrale unter Führung von Aiman al-Sawahiri im fernen pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet hat sich auch deshalb lange nicht zu den Ereignissen in Syrien und im Irak geäußert. Heute aber haben zwei Kaida-Filialen genau das getan: Die Filiale auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) und jene in Nordafrika (AQIM) fordern die „Brüder“ in Irak und Syrien gemeinsam zur Einheit im Angesicht der „satanischen Allianz“ aus USA und Verbündeten auf.

Das ist bemerkenswert. Aber nicht sensationell. Eine Sensation wäre es gewesen, wenn AQAP und AQIM sich dem „Islamischen Staat“ und dessen „Kalifat“ unterstellt hätten. Das kann auch noch irgendwann passieren, aber so weit sind wir noch nicht.

Bemerkenswert ist der Vorgang aus drei Gründen. Erstens, weil AQAP und AQIM noch nie zuvor ein gemeinsames Kommuniqué veröffentlicht haben. Zweitens, weil die beiden Filialen etwas fordern – nämlich dass die „Brüder“ in Irak und Syrien sich nicht länger gegenseitig umbringen mögen –, was Aiman al-Sawahiri derzeit nicht fordern kann, weil er die Statur dazu nicht mehr hat. (Das Statement ist also auch ein Ausdruck der Tatsache, dass die Kaida-Zentrale im Moment ein bisschen abgehängt ist. Die Filialen aber führen ein Eigenleben.)

Und drittens, weil in der Erklärung weder das Kalifat noch Dschbhat al-Nusra erwähnt werden; die Kaida-Kader wollen also niemanden vor den Kopf stoßen und beziehen auch gar nicht Partei. Dabei ist Dschabhat al-Nusra seit dem Streit mit dem IS de facto die Syrien-Filiale Al-Kaidas – gehört also theoretisch zu ihrem Team. (Bitte lesen Sie die Korrektur am Ende dieses Posts.)

Aber wenn man dem Tenor des Schreibens glauben will, ist ja die Einheit im Angesicht des Feindes ohnehin das Wichtigste. Die Kämpfer im Irak und in Syrien möchten sich also berappeln, finden die Kollegen von der Halbinsel und aus dem Maghreb. Ich weiß nicht, ob die Gotteskrieger im Irak und in Syrien darauf nun gerade gewartet haben. Die Reaktionen im dschihadistischen Teil des Internet waren jedenfalls wenig euphorisch. Oder sagen wir mal: Weniger euphorisch als die Absender vermutlich gehofft hatten.

Die Beziehungen bleiben also kompliziert. Aber das heutige Kommuniqué und frühere Meinungsäußerungen aus dem Umfeld von AQAP und AQIM lassen darauf schließen, dass es innerhalb der Filialen mehr Sympathisanten für das Kalifatsprojekt gibt als in der Kaida-Zentrale. Es wird also wichtig sein, diese Entwicklung weiter im Auge zu behalten.

Kommen wir zu einem weiteren Punkt, der mir bemerkenswert erscheint. In dem Text rufen nämlich die beiden Filialen alle Gesinnungsgenossen auf der Arabischen Halbinsel und in den Staaten, die Teil der „satanischen Koalition“ sind, dazu auf, sich dieser und ihren „kollaborierenden Regierungen“ mit „allen zulässigen Mitteln“ entgegenzustellen. In dem Text findet sich auch ein Bin-Laden-Zitat, mit dessen Hilfe noch einmal die Zulässigkeit der Tötung von Amerikanern betont wird. Die Filialen machen es also auch zu ihrem Anliegen, die USA und ihre Alliierten und Partner in der Region wegen ihrer Intervention im Irak (und bald vielleicht auch in Syrien) anzugreifen. Das kann Folgen haben – Folgen wie Anschläge auf Botschaften, etc.

Also noch etwas, das man im Auge behalten muss.

Um zusammenzufassen: Das Kommuniqué von AQAP und AQIM ist kein abgeschlossenes Ereignis. Es ist Teil einer Entwicklung, bei der noch unklar ist, wie sie weitergeht. Im Grunde gibt es drei Möglichkeiten: Al-Kaida und der IS bleiben verfeindet; Al-Kaida und der IS vereinigen sich; Al-Kaida und der IS finden einen Modus Vivandi.

 

PS: Ein paar abschließende Bemerkungen noch zur Authentizität des Dokuments. Die Verbreitungskanäle und der Inhalt sowie das generelle Layout deuten darauf hin, dass es echt ist. Ich bin nur über eine Sache gestolpert, die ich irgendwie merkwürdig finde: Oben auf der Seite, wo Datum und die laufende Nummer des Kommuniqués eingetragen sind, findet sich der seltsame Vermerk: „Anhänge: ohne“. Das kommt mir seltsam sinnlos vor bei einem geschriebenen Dokument. Aber ich werte das auch nicht automatisch als Hinweis auf eine Fälschung, zumal bisher auch noch keine dschihadistischen Internetaktivisten behaupten, es sei nicht echt. 

KORREKTUR: Der Islamische Staat ist sehr wohl ein Mal namentlich erwähnt; ich habe das zunächst übersehen. Aymenn al-Tamimi hat mich auf dieses Versehen hingewiesen. Ich glaube aber, dass das an meiner Argumentation in diesem Blog Post nichts ändert.

 

 

 

 

 

 

Soll man die Flagge des „Islamischen Staates“ verbieten?

Das Bundesinnenministerium hat ein Betätigungsverbot für die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ ausgesprochen. So weit, so unspektakulär. Der Schritt von Bundesinnenminister Thomas de Maizière ist sinnvoll, auch wenn das Verbot allein bei der Bekämpfung der Dschihadisten wenig effektiv sein wird. Nur wenige Dschihadisten werden sich selbst, zumal hier in Deutschland, als Zelle oder Gruppe oder Einheit oder Mitglieder des „Islamischen Staates“ bezeichnen. Aber selbst aus symbolischen Gründen finde ich das Verbot richtig.

Etwas komplizierter ist es allerdings mit einer zweiten Absicht, die das Innenministerium verfolgt: Auch das Verwenden von Symbolen wie der schwarzen IS-Flagge soll untersagt werden. 

Richtig ist, dass der „Islamische Staat“ ziemlich durchgehend in all seinen öffentlichen Publikationen und Auftritten diese Flagge verwendet:

 

Ausländische Dschihadisten inszenieren sich in Syrien als Wohltäter. (Screenshot)
Ausländische Dschihadisten inszenieren sich in Syrien als Wohltäter. (Screenshot)

 

Sie zeigt in der oberen Hälfte die erste Hälfte des islamischen Glaubensbekenntnisses: „Es gibt keinen Gott außer Gott.“ In der unteren Hälfte findet sich der Schriftzug „Mohammed ist der Prophet Gottes“, so wie er auf einem historischen Siegel Mohammeds zu finden war. (Es ist zugleich die zweite Hälfte des Glaubensbekenntnisses.)

Der „Islamische Staat“ hat also keine exklusive Beziehung zu irgendeinem Bestandteil dieser Flagge. Denn beide Aussagen gelten für alle gläubigen Muslime und sind inhaltlich weder dschihadistisch noch islamistisch konnotiert, sondern gehören schlicht zu den Grunddogmen des Islams. Sollte man eine solche Flagge also verbieten? Ist es in Ordnung, wenn der deutsche Staat das Zeigen des Siegels Mohammeds und eines Teils des islamischen Glaubensbekenntnisses untersagt?

Ein verzwicktes Problem. Denn diese spezielle Kombination verwendet tatsächlich nur der „Islamische Staat“; viele nicht-dschihadistische Muslime finden aber, dass der „Islamische Staat“ ihre Symbole gewissermaßen gehijackt hat – und dass ein Verbot durch westliche Staaten diesen Diebstahl allgemeingültiger muslimischer Symbole quasi legitimiert, indem es ihn als geglückt anerkennt, um die Flagge dann zu verbieten.

An diesem Dilemma zeigt sich übrigens das propagandistische Geschick des „Islamischen Staates“. Er verwendet eine Flagge, gegen die ein gläubiger Muslim eigentlich nichts einzuwenden haben kann – und dürfte sich so richtig freuen, wenn es durch ein Verbot zu Situationen kommt, in denen Muslime, die mit dem IS gar nichts zu tun haben, sich über das Flaggenverbot empören und womöglich sogar strafrechtlich verfolgt werden. Ganz sicher würde der „Islamische Staat“ das nämlich als Ausweis genereller Islamfeindlichkeit im Westen ebenfalls propagandistisch ausnutzen: Dort dürfen wir nicht einmal unser Glaubensbekenntnis zeigen!

Es gibt hier also eine Falle, in die man tappen kann.

Andererseits kann man auch nicht verhehlen, dass diese Flagge auch in Deutschland schon auf Demonstrationen aufgetaucht ist, bei denen man durchaus das Gefühl haben konnte, dass jene, die sie zeigten, sich diebisch freuten, weil sie eine legale Möglichkeit hatten, ihre Sympathie für den „Islamischen Staat“ auszudrücken.

Aber vielleicht gibt es einen Ausweg. Vielleicht würde es ja im ersten Schritt reichen, wenn das Innenministerium zunächst etwas zurückhaltender vorgeht und nur das Zeigen von solchen Flaggen verbietet, auf denen die Worte „Islamischer Staat“ auftauchen. Dann könnte man ja erst einmal abwarten, beobachten und auswerten, wie die Sympathisantenszene der Dschihadisten, die das Verbot ja treffen soll, reagiert. Einen zweiten Schritt kann die Regierung sich vorbehalten. Sie sollte sich jedenfalls nicht hetzen lassen. Augenmaß ist am Ende gewinnbringender als Aktionismus.

PS: Eine interessante und knappe Darstellung der Debatte um die Flagge und ihre historische Entwicklung findet sich in einem Blog Post von Aaron Zelin.

 

Fünf Dinge, die wir über das IS-Kalifat nicht wissen

Die Aussagen, die wir über ein Phänomen treffen können, sind von dem, was wir darüber wissen, genauso abhängig wie von dem, was wir darüber nicht wissen. Wenn ich weiß, dass ich vieles nicht weiß, hat das Wenige, das ich weiß, weniger Gewicht. Im Falle des Islamischen Staates (IS), beziehungsweise des Kalifats, das der IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi im irakisch-syrischen Grenzgebiet ausgerufen hat, finde ich diese Gedanken derzeit besonders wichtig. Ich habe die Vorläufer-Organisationen des IS seit 2005 beobachtet; und genau deshalb habe ich hier eine Liste mit den fünf Fragen zusammengestellt, deren Antwort wir meiner Meinung nach nicht kennen. Jedenfalls nicht in einem Maße, das uns seriöse Vorhersagen zu treffen erlaubt.

1. Wie viel Kontrolle hat Abu Bakr al-Baghdadi? 

Es ist völlig unbestritten, dass er der Chef des IS ist, das theologische Kapital der Organisation darstellt und qua Amt (nicht zuletzt als „Kalif“) ganz gewiss zu weitreichenden Entscheidungen befugt ist. Das heißt aber nicht unbedingt, dass er den militärischen Kurs bestimmt oder Detailkenntnis der militärischen Operationen des IS hat. Wie aber steht es um sein Verhältnis zu den Kommandeuren im Feld? Wie viel Freiraum für eigenständige Entscheidungen haben sie? Ist Al-Baghdadi ein Makro- oder ein Mikromanager? Wird er laufend über alles unterrichtet oder ist er eher graue Eminenz? Diese Fragen sind auch deshalb wichtig, weil es Hinweise gibt, dass etliche Kommandeure frühere Baath-Militärs sind. Das Verhältnis zum „Kalifen“ ist deshalb durchaus interessant. Wir würden den IS besser verstehen, wenn wir mehr darüber wüssten.

2. Gibt es einen Expansionsplan? 

Und damit meine ich einen echten Plan, einen militärisch-taktischen. Nicht eine ideologische Vorstellung davon, was man erreichen will. Kämpfer und Kader haben bisher etwa die irakischen Städte Samarra und Nadschaf und natürlich Bagdad als Ziele genannt; außerhalb des Irak außerdem Jerusalem, Mekka und Damaskus (aber hier spielt schon Ideologie mit hinein); schließlich: Rom. Aber das war eher als Symbol gemeint. In jedem Fall fehlt uns eine Vorstellung davon, wie der IS sich die nächsten Wochen oder Monate vorstellt. Konsolidieren in Mossul und Rakka, den beiden großen Städten, die der IS hält, bevor sie eine weitere Großstadt angreifen? Ausgreifen im Nordirak, wie es einige Experten vermuten? Oder eher im Süden, wie es andere prophezeien? Mir scheint die Grundlage in beiden Fällen eher gefühlt als faktenbasiert zu sein. Besonders gerne wüsste ich, wie ernsthaft der Bagdad-Plan verfolgt wird – weil ich vermute, dass sich der IS in dem Fall ernsthaft überdehnen könnte, was im günstigsten Fall das Ende des Kalifats bedeuten würde. Vielleicht sind IS-Kader aber schon dabei, in anderen Städten Allianzen zu schmieden, um diese Städte quasi von innen heraus zu übernehmen. Wir wissen es nicht. Oder jedenfalls ich nicht.

3. Will Al-Baghdadi Anschläge im Westen? 

Bei Al-Kaida wusste man oft relativ genau, woran man war. Denn Bin Ladens Netzwerk erklärte laut und oft und gerne, was sie für ihre Interessen hielten. Man konnte sich daran orientieren, denn Al-Kaida schlug fast nie irgendwo zu, ohne vorher gewarnt oder gedroht zu haben. Aber der IS ist nicht Al-Kaida und wir wissen nicht, ob Al-Baghdadi vielleicht ganz anders denkt. Vielleicht plant er bereits Anschläge im Westen und redet nicht darüber. Vielleicht interessiert ihn der Westen aber auch gar nicht so sehr. Oder zumindest jetzt nicht.

4. Kommuniziert der IS mit den Kaida-Filialen?

Ist es denkbar, dass wir eines Morgens aufwachen und eine Deklaration der Kaida-Filialen in der Arabischen Halbinsel (AQAP) und in Nordafrika (AQIM) finden, in der sie sich dem Kalifen unterstellen? Ich halte das für möglich, und es wäre eine Riesensache. Ein worst case scenario. Auf einen Schlag hätte Al-Baghdadi Tausende neuer Kämpfer in etlichen Staaten und Unruheregionen, die in seinem Namen agieren würden. Dieser Schritt würde zwar zugleich das Ende von Al-Kaida bedeuten, aber für den IS wäre es der absolute Durchbruch. Tatsächlich hat sich Al-Kaida bislang kaum zum IS geäußert; es gibt Sympathisanten im Umfeld von AQAP und AQIM, aber was wir nicht wissen, das ist: Gibt es Kommunikationskanäle zu Al-Baghdadi? Wird vielleicht schon verhandelt?

5. Wie stabil sind die Allianzen des IS? 

Der IS hat sich mit Baath-Kadern und sunnitischen Stammes-Chefs zusammengetan, um Mossul und andere Ortschaften zu übernehmen. Aber wie stabil sind die Bündnisse? Wer profitiert, wer fühlt sich übers Ohr gehauen, wer ist schon unzufrieden? Welche Rolle spielt Geld in diesem Zusammenhang? (In der ZEIT von morgen gibt es zur IS-Ökonomie übrigens ein sehr interessantes Stück!)

Es gibt mehr Fragen, aber für mich sind diese die derzeit drängendsten.

 

 

Nein, das Terror-Kalifat hat keinen Zugriff auf Chemiewaffen

Am gestrigen Dienstagnachmittag berichtete Reuters (und berichteten viele andere Medien) von einem Brief des irakischen UN-Gesandten an den UN-Generalsekretär, aus dem hervorgehe, dass bereits am 11. Juni bewaffnete Terroristen die Kontrolle über eine frühere Anlage für Chemiewaffen übernommen hätten. Der Irak könne daher derzeit die Giftstoffe dort nicht, wie ihm eigentlich aufgetragen ist, vernichten.

Chemiewaffen und Terroristen? Das klingt nach Grund zur Sorge. Den verschiedenen Berichten zufolge gibt sich die US-Regierung zwar eher gelassen angesichts dieser Nachricht aus dem Irak, aber ich habe trotzdem noch einmal nachgefragt. Und zwar bei Dan Kaszeta, einem anerkannten Experten für chemische, biologische und radiologische Kampfstoffe, der heute als Berater tätig ist und früher für den US Secret Service gearbeitet hat.

Er antwortet mir Folgendes: Der Kampfstoff Sarin, den der Irak in der Vergangenheit produzierte, sei vergleichsweise schnell verderblich gewesen, und zwar innerhalb weniger Monate. Der Irak hat aber seit vielen Jahren kein Sarin mehr hergestellt. „Ich wäre überrascht, wenn noch brauchbares Sarin in diesen Raketen steckt“, so Kaszeta. Die Raketen selbst, die zum Ausbringen des Stoffes gedacht waren, beinhalten wiederum instabile Antriebsstoffe sowie Sprengphasen und seien „sehr unsicher, wenn man sie handhabt“. Das Material befinde sich nur deshalb noch an dem Ort, weil die USA, der Irak und die Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons noch keine Antwort auf die Frage gefunden hätten, wie man am besten mit diesen Hinterlassenschaften umgeht.

Nur ein sehr teurer, groß angelegter, industrieller Prozess könnte in der Theorie dazu führen, etwas Sarin aus den Raketen zu extrahieren, „aber das würde so einen umfangreichen und spezialisierten und langfristigen Aufwand benötigen, dass ich denke, es ist sehr unwahrscheinlich.“ Es sei viel wahrscheinlicher, dass jemand sich selbst tötet, wenn er das Material berührt.

Es könnte noch Reste von Senfgas in zumeist leeren Behältern geben. Aber auch hier könnte nur ein ernsthafter, industrieller Prozess ein paar Liter Senfgas extrahieren. Für einen militärischen Effekt bräuchte man aber Tonnen.

Es sei allerhöchstens denkbar, dass jemand eine Art Waffe zusammenbastelt, die „ein oder zwei Menschen krank macht und einen Chemie-Alarm auslöst.“

So weit die Einschätzung von Dan Kaszeta.
In diesem Licht ergibt die Aussage des Sprechers des US-Verteidigungsministeriums, die Reuters meldete, auch Sinn. „Was auch immer an Material dort aufbewahrt wurde, ist ziemlich alt und es ist nicht wahrscheinlich, dass es zugänglich ist oder gegen uns oder irgendjemanden eingesetzt werden kann (…) Wir betrachten dies (…) derzeit nicht als eine große Angelegenheit.“
Also zusammengefasst: Es scheint tatsächlich keinen Grund zur Sorge zu geben, dass die Terroristen des „Islamischen Staates“ demnächst Chemiewaffen einsetzen. Jedenfalls nicht, weil sie die Lagerstätte in Muthanna im Irak übernommen haben.