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Hat die Türkei mit dem „Islamischen Staat“ gedealt?

Ende September gelang es der Türkei, nach mehr als drei Monaten 46 türkische Staatsbürger freizubekommen, die der „Islamische Staat“ (IS) im Juni im Irak als Geiseln genommen hatte. Ein spektakulärer Erfolg. Zumal, wie die Regierung betonte, kein Lösegeld bezahlt worden sei.

Warum aber gab der IS die Geiseln dann frei? Zahlreiche Spekulationen darüber sind in den vergangenen Wochen angestellt worden, viele Kommentatoren vermuteten, dass die Türkei etwa zugesagt haben könnte, sich nicht über die Maßen am Kampf gegen das Terror-Kalifat zu beteiligen.

Vielleicht war es aber noch anders.

Die Londoner Times berichtet heute, dass ihren Quellen zufolge zwei britische Dschihadisten unter einer weit größeren Zahl von Gotteskriegern gewesen seien, welche die Türkei als Gegenleistung freigelassen habe. Es geht demnach um insgesamt bis zu 180 Islamisten, die in türkischen Gefängnissen oder Krankenhäusern festsaßen. Dem Blatt liegt offenbar eine entsprechende Liste vor.

Die BBC griff den Bericht auf und ergänzte, dass Beamte im britischen Außenministerium den Times-Bericht für glaubwürdig hielten.

Ein solcher Deal wäre sicher nicht im Sinne der westlichen und arabischen Verbündeten der Türkei, die sich im Kampf gegen den IS engagieren. Zumal die Türkei jahrelang nicht genau hingesehen hat, wer so alles über ihre Grenze nach Syrien eingesickert ist. Für die meisten der Hunderten Dschihadisten aus Europa, die dorthin gezogen sind, war das die Route, die sie ins Kampfgebiet wählten.

Einer, der beim Versuch, nach Syrien zu gelangen, in der Türkei hängenblieb, ist ein österreichischer Hassprediger mit ägyptischen Wurzeln: Mohamed Mahmoud. Er saß in Österreich mehrere Jahre wegen Terrorismus im Gefängnis, ging danach nach Deutschland, dann nach Ägypten. Er gehört zum Umfeld des Berliner Ex-Rappers DesoDogg alias Abu Talha al-Almani, der heute regelmäßig für den IS Propaganda verbreitet (mutmaßlich von Syrien aus).

Mahmouds Haftbedingungen in der Türkei waren allerdings offenkundig sehr kommod. Er konnte weiterhin online Hasspredigten veröffentlichen. Ein deutscher Nachrichtendienstler nannte es eine Art Hausarrest.

Nun ist Mahmoud ebenfalls frei. Steht auch seine Freilassung im Zusammenhang mit der Freilassung der türkischen IS-Geiseln?

Dass Mahmoud frei ist, hat das österreichische Innenministerium bestätigt. Über einen Zusammenhang zur Freilassung will Wien aber nicht spekulieren. Die türkischen Behörden, so ein Sprecher des Ministeriums in Wien, hätten lediglich mitgeteilt, die zeitliche Höchstgrenze für Polizeihaft sei in seinem Fall erreicht gewesen.

In Österreich wird wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gegen Mahmoud ermittelt – es geht um den IS. Außerdem, so der Sprecher, werde in Österreich geprüft, wie es eigentlich um die Staatsangehörigkeit des Radikalen bestellt sei. Man prüfe Hinweise, Mahmoud habe bei seinem Ägypten-Aufenthalt die dortige Staatsbürgerschaft angenommen.

Bis jetzt hat Mahmoud sich noch nicht öffentlich zu Wort gemeldet. Überraschend wäre es nicht, wenn er demnächst an der Seite von Abu Talha al-Almani in einem Video zu sehen wäre. Die beiden zählen zu den Führungsfiguren der deutschsprachigen dschihadistischen Szene.

Ob die Türkei Mahmoud wirklich im Austausch freigelassen hat, ist also nicht klar. Aber vorstellbar.

Sollte sich der Bericht der Times über insgesamt 180 freigelassene militante Islamisten bestätigen, wäre Mahmoud allerdings womöglich nicht einmal das größte Problem. Die Türkei dürfte sich einige Fragen gefallen lassen müssen – wenn nicht öffentlich, dann gewiss hinter verschlossenen Türen.

 

 

 

 

Al-Kaidas Filialen drängen auf Einheit der Dschihadisten

Die Beziehungen zwischen Al-Kaida und dem „Islamischen Staat“ (IS), der in Teilen Syriens und des Iraks ein „Kalifat“ ausgerufen hat, sind kompliziert. Kurzfassung: Sie liegen miteinander im Streit, bekämpfen sich und konkurrieren miteinander. Die Kaida-Zentrale unter Führung von Aiman al-Sawahiri im fernen pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet hat sich auch deshalb lange nicht zu den Ereignissen in Syrien und im Irak geäußert. Heute aber haben zwei Kaida-Filialen genau das getan: Die Filiale auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) und jene in Nordafrika (AQIM) fordern die „Brüder“ in Irak und Syrien gemeinsam zur Einheit im Angesicht der „satanischen Allianz“ aus USA und Verbündeten auf.

Das ist bemerkenswert. Aber nicht sensationell. Eine Sensation wäre es gewesen, wenn AQAP und AQIM sich dem „Islamischen Staat“ und dessen „Kalifat“ unterstellt hätten. Das kann auch noch irgendwann passieren, aber so weit sind wir noch nicht.

Bemerkenswert ist der Vorgang aus drei Gründen. Erstens, weil AQAP und AQIM noch nie zuvor ein gemeinsames Kommuniqué veröffentlicht haben. Zweitens, weil die beiden Filialen etwas fordern – nämlich dass die „Brüder“ in Irak und Syrien sich nicht länger gegenseitig umbringen mögen –, was Aiman al-Sawahiri derzeit nicht fordern kann, weil er die Statur dazu nicht mehr hat. (Das Statement ist also auch ein Ausdruck der Tatsache, dass die Kaida-Zentrale im Moment ein bisschen abgehängt ist. Die Filialen aber führen ein Eigenleben.)

Und drittens, weil in der Erklärung weder das Kalifat noch Dschbhat al-Nusra erwähnt werden; die Kaida-Kader wollen also niemanden vor den Kopf stoßen und beziehen auch gar nicht Partei. Dabei ist Dschabhat al-Nusra seit dem Streit mit dem IS de facto die Syrien-Filiale Al-Kaidas – gehört also theoretisch zu ihrem Team. (Bitte lesen Sie die Korrektur am Ende dieses Posts.)

Aber wenn man dem Tenor des Schreibens glauben will, ist ja die Einheit im Angesicht des Feindes ohnehin das Wichtigste. Die Kämpfer im Irak und in Syrien möchten sich also berappeln, finden die Kollegen von der Halbinsel und aus dem Maghreb. Ich weiß nicht, ob die Gotteskrieger im Irak und in Syrien darauf nun gerade gewartet haben. Die Reaktionen im dschihadistischen Teil des Internet waren jedenfalls wenig euphorisch. Oder sagen wir mal: Weniger euphorisch als die Absender vermutlich gehofft hatten.

Die Beziehungen bleiben also kompliziert. Aber das heutige Kommuniqué und frühere Meinungsäußerungen aus dem Umfeld von AQAP und AQIM lassen darauf schließen, dass es innerhalb der Filialen mehr Sympathisanten für das Kalifatsprojekt gibt als in der Kaida-Zentrale. Es wird also wichtig sein, diese Entwicklung weiter im Auge zu behalten.

Kommen wir zu einem weiteren Punkt, der mir bemerkenswert erscheint. In dem Text rufen nämlich die beiden Filialen alle Gesinnungsgenossen auf der Arabischen Halbinsel und in den Staaten, die Teil der „satanischen Koalition“ sind, dazu auf, sich dieser und ihren „kollaborierenden Regierungen“ mit „allen zulässigen Mitteln“ entgegenzustellen. In dem Text findet sich auch ein Bin-Laden-Zitat, mit dessen Hilfe noch einmal die Zulässigkeit der Tötung von Amerikanern betont wird. Die Filialen machen es also auch zu ihrem Anliegen, die USA und ihre Alliierten und Partner in der Region wegen ihrer Intervention im Irak (und bald vielleicht auch in Syrien) anzugreifen. Das kann Folgen haben – Folgen wie Anschläge auf Botschaften, etc.

Also noch etwas, das man im Auge behalten muss.

Um zusammenzufassen: Das Kommuniqué von AQAP und AQIM ist kein abgeschlossenes Ereignis. Es ist Teil einer Entwicklung, bei der noch unklar ist, wie sie weitergeht. Im Grunde gibt es drei Möglichkeiten: Al-Kaida und der IS bleiben verfeindet; Al-Kaida und der IS vereinigen sich; Al-Kaida und der IS finden einen Modus Vivandi.

 

PS: Ein paar abschließende Bemerkungen noch zur Authentizität des Dokuments. Die Verbreitungskanäle und der Inhalt sowie das generelle Layout deuten darauf hin, dass es echt ist. Ich bin nur über eine Sache gestolpert, die ich irgendwie merkwürdig finde: Oben auf der Seite, wo Datum und die laufende Nummer des Kommuniqués eingetragen sind, findet sich der seltsame Vermerk: „Anhänge: ohne“. Das kommt mir seltsam sinnlos vor bei einem geschriebenen Dokument. Aber ich werte das auch nicht automatisch als Hinweis auf eine Fälschung, zumal bisher auch noch keine dschihadistischen Internetaktivisten behaupten, es sei nicht echt. 

KORREKTUR: Der Islamische Staat ist sehr wohl ein Mal namentlich erwähnt; ich habe das zunächst übersehen. Aymenn al-Tamimi hat mich auf dieses Versehen hingewiesen. Ich glaube aber, dass das an meiner Argumentation in diesem Blog Post nichts ändert.

 

 

 

 

 

 

Fünf Dinge, die wir über das IS-Kalifat nicht wissen

Die Aussagen, die wir über ein Phänomen treffen können, sind von dem, was wir darüber wissen, genauso abhängig wie von dem, was wir darüber nicht wissen. Wenn ich weiß, dass ich vieles nicht weiß, hat das Wenige, das ich weiß, weniger Gewicht. Im Falle des Islamischen Staates (IS), beziehungsweise des Kalifats, das der IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi im irakisch-syrischen Grenzgebiet ausgerufen hat, finde ich diese Gedanken derzeit besonders wichtig. Ich habe die Vorläufer-Organisationen des IS seit 2005 beobachtet; und genau deshalb habe ich hier eine Liste mit den fünf Fragen zusammengestellt, deren Antwort wir meiner Meinung nach nicht kennen. Jedenfalls nicht in einem Maße, das uns seriöse Vorhersagen zu treffen erlaubt.

1. Wie viel Kontrolle hat Abu Bakr al-Baghdadi? 

Es ist völlig unbestritten, dass er der Chef des IS ist, das theologische Kapital der Organisation darstellt und qua Amt (nicht zuletzt als „Kalif“) ganz gewiss zu weitreichenden Entscheidungen befugt ist. Das heißt aber nicht unbedingt, dass er den militärischen Kurs bestimmt oder Detailkenntnis der militärischen Operationen des IS hat. Wie aber steht es um sein Verhältnis zu den Kommandeuren im Feld? Wie viel Freiraum für eigenständige Entscheidungen haben sie? Ist Al-Baghdadi ein Makro- oder ein Mikromanager? Wird er laufend über alles unterrichtet oder ist er eher graue Eminenz? Diese Fragen sind auch deshalb wichtig, weil es Hinweise gibt, dass etliche Kommandeure frühere Baath-Militärs sind. Das Verhältnis zum „Kalifen“ ist deshalb durchaus interessant. Wir würden den IS besser verstehen, wenn wir mehr darüber wüssten.

2. Gibt es einen Expansionsplan? 

Und damit meine ich einen echten Plan, einen militärisch-taktischen. Nicht eine ideologische Vorstellung davon, was man erreichen will. Kämpfer und Kader haben bisher etwa die irakischen Städte Samarra und Nadschaf und natürlich Bagdad als Ziele genannt; außerhalb des Irak außerdem Jerusalem, Mekka und Damaskus (aber hier spielt schon Ideologie mit hinein); schließlich: Rom. Aber das war eher als Symbol gemeint. In jedem Fall fehlt uns eine Vorstellung davon, wie der IS sich die nächsten Wochen oder Monate vorstellt. Konsolidieren in Mossul und Rakka, den beiden großen Städten, die der IS hält, bevor sie eine weitere Großstadt angreifen? Ausgreifen im Nordirak, wie es einige Experten vermuten? Oder eher im Süden, wie es andere prophezeien? Mir scheint die Grundlage in beiden Fällen eher gefühlt als faktenbasiert zu sein. Besonders gerne wüsste ich, wie ernsthaft der Bagdad-Plan verfolgt wird – weil ich vermute, dass sich der IS in dem Fall ernsthaft überdehnen könnte, was im günstigsten Fall das Ende des Kalifats bedeuten würde. Vielleicht sind IS-Kader aber schon dabei, in anderen Städten Allianzen zu schmieden, um diese Städte quasi von innen heraus zu übernehmen. Wir wissen es nicht. Oder jedenfalls ich nicht.

3. Will Al-Baghdadi Anschläge im Westen? 

Bei Al-Kaida wusste man oft relativ genau, woran man war. Denn Bin Ladens Netzwerk erklärte laut und oft und gerne, was sie für ihre Interessen hielten. Man konnte sich daran orientieren, denn Al-Kaida schlug fast nie irgendwo zu, ohne vorher gewarnt oder gedroht zu haben. Aber der IS ist nicht Al-Kaida und wir wissen nicht, ob Al-Baghdadi vielleicht ganz anders denkt. Vielleicht plant er bereits Anschläge im Westen und redet nicht darüber. Vielleicht interessiert ihn der Westen aber auch gar nicht so sehr. Oder zumindest jetzt nicht.

4. Kommuniziert der IS mit den Kaida-Filialen?

Ist es denkbar, dass wir eines Morgens aufwachen und eine Deklaration der Kaida-Filialen in der Arabischen Halbinsel (AQAP) und in Nordafrika (AQIM) finden, in der sie sich dem Kalifen unterstellen? Ich halte das für möglich, und es wäre eine Riesensache. Ein worst case scenario. Auf einen Schlag hätte Al-Baghdadi Tausende neuer Kämpfer in etlichen Staaten und Unruheregionen, die in seinem Namen agieren würden. Dieser Schritt würde zwar zugleich das Ende von Al-Kaida bedeuten, aber für den IS wäre es der absolute Durchbruch. Tatsächlich hat sich Al-Kaida bislang kaum zum IS geäußert; es gibt Sympathisanten im Umfeld von AQAP und AQIM, aber was wir nicht wissen, das ist: Gibt es Kommunikationskanäle zu Al-Baghdadi? Wird vielleicht schon verhandelt?

5. Wie stabil sind die Allianzen des IS? 

Der IS hat sich mit Baath-Kadern und sunnitischen Stammes-Chefs zusammengetan, um Mossul und andere Ortschaften zu übernehmen. Aber wie stabil sind die Bündnisse? Wer profitiert, wer fühlt sich übers Ohr gehauen, wer ist schon unzufrieden? Welche Rolle spielt Geld in diesem Zusammenhang? (In der ZEIT von morgen gibt es zur IS-Ökonomie übrigens ein sehr interessantes Stück!)

Es gibt mehr Fragen, aber für mich sind diese die derzeit drängendsten.

 

 

Nein, das Terror-Kalifat hat keinen Zugriff auf Chemiewaffen

Am gestrigen Dienstagnachmittag berichtete Reuters (und berichteten viele andere Medien) von einem Brief des irakischen UN-Gesandten an den UN-Generalsekretär, aus dem hervorgehe, dass bereits am 11. Juni bewaffnete Terroristen die Kontrolle über eine frühere Anlage für Chemiewaffen übernommen hätten. Der Irak könne daher derzeit die Giftstoffe dort nicht, wie ihm eigentlich aufgetragen ist, vernichten.

Chemiewaffen und Terroristen? Das klingt nach Grund zur Sorge. Den verschiedenen Berichten zufolge gibt sich die US-Regierung zwar eher gelassen angesichts dieser Nachricht aus dem Irak, aber ich habe trotzdem noch einmal nachgefragt. Und zwar bei Dan Kaszeta, einem anerkannten Experten für chemische, biologische und radiologische Kampfstoffe, der heute als Berater tätig ist und früher für den US Secret Service gearbeitet hat.

Er antwortet mir Folgendes: Der Kampfstoff Sarin, den der Irak in der Vergangenheit produzierte, sei vergleichsweise schnell verderblich gewesen, und zwar innerhalb weniger Monate. Der Irak hat aber seit vielen Jahren kein Sarin mehr hergestellt. „Ich wäre überrascht, wenn noch brauchbares Sarin in diesen Raketen steckt“, so Kaszeta. Die Raketen selbst, die zum Ausbringen des Stoffes gedacht waren, beinhalten wiederum instabile Antriebsstoffe sowie Sprengphasen und seien „sehr unsicher, wenn man sie handhabt“. Das Material befinde sich nur deshalb noch an dem Ort, weil die USA, der Irak und die Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons noch keine Antwort auf die Frage gefunden hätten, wie man am besten mit diesen Hinterlassenschaften umgeht.

Nur ein sehr teurer, groß angelegter, industrieller Prozess könnte in der Theorie dazu führen, etwas Sarin aus den Raketen zu extrahieren, „aber das würde so einen umfangreichen und spezialisierten und langfristigen Aufwand benötigen, dass ich denke, es ist sehr unwahrscheinlich.“ Es sei viel wahrscheinlicher, dass jemand sich selbst tötet, wenn er das Material berührt.

Es könnte noch Reste von Senfgas in zumeist leeren Behältern geben. Aber auch hier könnte nur ein ernsthafter, industrieller Prozess ein paar Liter Senfgas extrahieren. Für einen militärischen Effekt bräuchte man aber Tonnen.

Es sei allerhöchstens denkbar, dass jemand eine Art Waffe zusammenbastelt, die „ein oder zwei Menschen krank macht und einen Chemie-Alarm auslöst.“

So weit die Einschätzung von Dan Kaszeta.
In diesem Licht ergibt die Aussage des Sprechers des US-Verteidigungsministeriums, die Reuters meldete, auch Sinn. „Was auch immer an Material dort aufbewahrt wurde, ist ziemlich alt und es ist nicht wahrscheinlich, dass es zugänglich ist oder gegen uns oder irgendjemanden eingesetzt werden kann (…) Wir betrachten dies (…) derzeit nicht als eine große Angelegenheit.“
Also zusammengefasst: Es scheint tatsächlich keinen Grund zur Sorge zu geben, dass die Terroristen des „Islamischen Staates“ demnächst Chemiewaffen einsetzen. Jedenfalls nicht, weil sie die Lagerstätte in Muthanna im Irak übernommen haben.
 

Ein Werbeprospekt fürs Kalifat

Die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS), die kürzlich ein Kalifat ausgerufen hat, nimmt Rücksicht auf die vermuteten Wissenslücken ihrer Sympathisanten im Westen – und hat ein Hochglanz-Magazin produziert, das auf Englisch erklärt, was es mit diesem neuen Staatswesen so auf sich hat. Es ist, im Grunde, eine Werbebroschüre für die Auswanderung in den Irak oder nach Syrien. Es ist aber auch Beispiel dafür, wie niedrigschwellig die Rekrutierungsangebote der Dschihadisten geworden sind.

Früher mussten sich Freiwillige aus dem Westen selbst bemühen, etwa Arabisch lernen, um mitreden zu können und ernst genommen zu werden; heute bemühen sich die Terroristen – und bauen ihnen Brücken, erklären ihnen die Regeln, ermöglichen ihnen, Teil der Debatte zu werden. Natürlich leidet das Niveau ein wenig darunter – besonders tiefsinnig ist die Publikation nicht. Aber ich fürchte, auch angesichts der Tatsache, in welcher Zahl die Download-Links zu diesem Material herumgereicht werden, dass das nicht ohne Effekt ist. 

In dem aktuellen Magazin (eine Nullnummer; es soll aber weitere, regelmäßige Ausgaben geben) geht es vor allem um die Bedeutung der Gründung dieses Terror-Kalifats. Ausführlich wird noch einmal aus den zwei maßgeblichen Reden zitiert: der des offiziellen IS-Sprechers Al-Adnani, der das Kalifat ausrief; und der des „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi, der sich anschließend ausführlich ausließ. Es sind vor allem Passagen ausgewählt worden, die Sympathisanten im Westen ansprechen sollen. Aus der Rede Al-Baghdadis etwa diese Stelle:

„Schon bald, mit Allahs Erlaubnis, wird der Tag kommen, an dem ein Muslim überall als Meister auftreten wird, mit Ehre ausgestattet, verehrt, mit erhobenem Haupt und unversehrter Würde. Jeder, der ihn beleidigt, wird bestraft werden. Eine Hand, die nach ihm langt, wird abgeschlagen. Lasst die Welt wissen, dass wir in einer neuen Ära leben.“

Von Al-Adnani gibt es zum Beispiel diesen Auszug zu lesen:

„Die Zeit ist gekommen, dass jene Generationen, die in einem Ozean der Schande zu ertrinken drohten, die mit der Milch der Erniedrigung genährt wurden, die von den liederlichsten aller Menschen regiert wurden, nach einem langen Schlummer sich nun endlich erheben werden … Die Sonne des Dschihad ist aufgegangen!“

Ich zitiere das nur deshalb so ausführlich, um zu verdeutlichen, dass die Macher genau wissen, was sie hier tun. Sie appellieren an Gefühle, die viele radikalisierte Muslime im Westen empfinden: Erniedrigung, Diskriminierung, Ausgrenzung, Machtlosigkeit. Diese Redeauszüge sind Angebote an sie, eine neue Identität anzunehmen – als virtuelle oder tatsächliche „Staatsbürger“ dieses „Kalifats“, das sie angeblich mit Ehre und Würde auszustatten in der Lage sind und aus Opfern Gestalter werden lässt.

Das ist ein starkes Narrativ. In Varianten beschwören Dschihadisten es schon lange; aber tatsächlich glaube ich, dass die Kalifatsidee, durch die unmittelbare Verknüpfung mit der als ideal verherrlichten islamischen Frühgeschichte, diese Gedankenwelt noch einmal stärker konturiert. Jedenfalls für jene, die dafür anfällig sind.

Ganz allmählich wird die Propaganda in dem Onlinemagazin dann konkreter, wechselt vom Hocherhabenen ins Alltägliche: Ingenieure brauche das Kalifat, Spezialisten, die mit anfassen, wird den Lesern mitgeteilt. Sprich: Auch für dich gibt es hier eine Rolle zu spielen.

Die folgenden Seiten beschreiben dann (natürlich extrem geschönt, wenn nicht erfunden), wie IS-Kader dort, wo sie das Sagen haben, vorgehen. Indem sie etwa Listen von Waisen erstellen, um denen die vorgeschriebene Wohltätigkeitsabgabe der frommen Muslime zukommen zu lassen. Indem sie jene zur Umkehr und Reue aufrufen, die auf der Gegenseite gekämpft haben („bevor sie festgenommen werden“, was freilich nur Code ist für: getötet werden).

Dann folgt eine Art Grundkurs über Herrschaftslehren in der islamischen Theologie (wie gesagt: Das Niveau ist hier nicht gerade das einer islamischen Hochschule; alles ist arg verknappt, unterschlägt wichtige Argumente der islamischen Theologie, mit der Dschihadisten nicht einverstanden sind, etc.). Schließlich folgen Geschichten über „Reuige“, die sich dem IS angeschlossen haben und „Nachrichten“ aus den Provinzen des „Kalifats“.

Man muss zugeben, das ist gut gemacht. Erschreckend gut gemacht sogar. Der Islamische Staat arbeitet daran, Dschihadisten cool und lässig erscheinen zu lassen. Und er verfügt offensichtlich über (aus dem Westen stammende?) Kader, die sich das zum Projekt gemacht haben. Wenn ich mir einen anradikalisierten, jungen, wütenden Islamisten in Frankreich, Großbritannien oder Deutschland vorstelle, dann kann ich mir durchaus denken, dass er so etwas attraktiver findet als die zwar unglaublich wichtigen, aber leider deutlich weniger glamourösen islamischen Gelehrten auf der gesamten Welt, die sich mittlerweile aus einer Vielzahl theologischer, humanitärer und moralischer Gründe gegen IS und deren Terror-Kalifat gestellt haben. Im Kampf um die Hearts and Minds geht es leider nicht nur um Argumente, es geht auch um Oberfläche. Diesen Faktor darf man nicht ignorieren: Propaganda funktioniert.

 

Der Terroristen-„Kalif“ hält seine erste Rede

Abu Bakr al-Baghdadi, Chef der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) und seit wenigen Tagen selbst ernannter „Kalif“, hat am frühen Dienstagabend seine erste Tonbotschaft veröffentlicht, seit er diesen Titel für sich in Anspruch nimmt. Die Rede ist knapp 20 Minuten lang, sie wurde von der Medienabteilung des IS verbreitet, auch in schriftlicher Form und in Übersetzungen in mehrere Sprachen, darunter Deutsch. Es gibt wenig Grund an der Echtheit der Datei zu zweifeln. Dschihadisten auf der ganzen Welt, darunter etliche IS-Anhänger, halten sie jedenfalls für echt. Der Inhalt, der Duktus und Sprachgebrauch sowie die Verbreitungswege sprechen ebenfalls dafür.

Die Rede Al-Baghdadis erinnert entfernt an die Ansprachen des 2011 getöteten Al-Kaida-Chefs Osama bin Laden: Sehr viel religiöse Ausschmückung, massenhaft Beschwörungen und Verheißungen einer besseren Zukunft, lange Aufzählungen von Feinden, Lamentieren über das Schicksal der geknechteten Muslime auf der ganzen Welt… Das alles en detail wiederzugeben ist nicht nötig. Es genügt vielleicht zu sagen, dass die Rede vielen Sympathisanten des Terrorführers gefallen dürfe. Ich habe schon schlechtere Dschihadisten-Ansprachen gehört, und zwar etliche.

Einige Passagen möchte ich an dieser Stelle trotzdem zitieren oder zusammenfassen, weil sie etwas über das Denken Al-Baghdadis verraten, von dem wir ansonsten nicht besonders viel wissen. Angesichts des Land- und Machtzuwachses seiner Organisation im Irak und der Provokation, die sein „Kalifat“ für die gesamte muslimische Welt bedeutet, sind solche Hinweise interessant.

So beschreibt Al-Baghdadi die Gründung beziehungsweise Neuerrichtung des Kalifats als eine Zäsur, die den Muslimen weltweit „Würde, Macht, Rechte und Herrschaft“ zurückbringen soll. „Dafür, o Muslime, eilt zu eurem Staat. Ja, es ist euer Staat! (…) Der Staat ist der Staat für alle Muslime.“ Es sei außerdem eine Pflicht, in diesen neu geschaffenen islamischen Staat einzuwandern, behauptet Al-Baghdadi. Offenbar hofft er, auf diese Weise an mehr Kämpfer zu kommen. Und auch an „Bürger“, die seinen „Staat“ aufbauen helfen; so adressiert er insbesondere „Richter und natürlich Leute mit militärischen, behördlichen, und Dienstleistungs-Sachkenntnissen sowie Doktoren und Ingenieure in allen verschiedenen Fachbereichen“. (Ich zitiere hier die IS-Übersetzung, die etwas wackelig, aber grundsätzlich in Ordnung ist.)

Konkrete Ziele nennt Al-Baghdadi derweil nicht. Hier bleibt er ausgesprochen blumig: Die „Götzen des Nationalismus“ sollen „zertrampelt werden“; die Muslime sollen sich „von den Fußfesseln der Schwäche befreien“, und so weiter. Aber Al-Baghdadi erklärt zum Beispiel nicht, dass der IS Anschläge im Westen wünscht oder selbst planen wird. Das muss man natürlich nicht glauben. Aber Osama bin Laden fand es immer wichtig, die Länder, die er attackieren ließ, vorzuwarnen. Wir wissen freilich nicht, ob Al-Baghdadi ähnlich denkt.

Die sunnitischen Muslime sollen seine „Bürger“ gut behandeln, bittet Al-Baghdadi. Sie sollen außerdem untereinander nicht streiten. Diese Passage ist deshalb interessant, weil er zugleich in seiner Rede nicht gegen Al-Kaida wettert, obwohl IS und Al-Kaida aufs Heftigste zerstritten sind und sich in Syrien aktiv bekriegen. Vermutlich will Al-Baghdadi die Tür nicht ganz zuknallen – er ist jetzt der Kalif, und sollten Al-Kaida-Kader sich ihm unterstellen wollen, fällt ihnen das womöglich leichter, wenn er sie nicht vorher öffentlich beschimpft.

Die Reaktionen der IS-Sympathisanten, das sei noch kurz nachgetragen, sind natürlich begeistert. Aber das war erwartbar. Kritik wäre deutlich interessanter. Falls sich welche regen sollte, werde ich das nachtragen. (Jenseits des engen Kreises der IS-Sympathisanten gibt es natürlich schwerste Kritik von Muslimen an der „Kalifats“-Ausrufung.)

Zusammengefasst präsentiert sich Al-Baghdadi hier also als Taktiker, der staatstragend und gedankenschwer auftritt, aber zugleich pragmatische Belange beachtet. Er schreit und geifert nicht die ganze Zeit, wie es sein Vorvorvorgänger Abu Musab al-Sarkawi zu tun pflegte, sondern orientiert sich eher an dem stets auf ein würdevolles Auftreten bedachten Osama bin Laden. Von dessen Eitelkeit setzt er sich ab, indem er nur eine Audio-, keine Videobotschaft veröffentlichte. Das kann aber auch Sicherheitsbedenken zum Grund haben. Oder beides.

Alles in allem: Keine großen Überraschungen, kein Erdbeben, keine Sensation. Aber der Islamische Staat stellt derzeit eine so große Herausforderung dar, dass man die erste Rede Al-Baghdadis auch nicht ganz ignorieren kann.

 

Kalifat und Angstlust

Ist Saudi-Arabien das nächste Ziel der Terroristen des Islamischen Staates? Oder Jordanien? Oder Israel? Der Libanon vielleicht? Oder doch zuerst die USA?

Wenn man sich durch die aktuellen Schlagzeilen großer, internationaler Medien zu den Vorgängen im Irak und in Syrien wühlt, könnte man denken, es sei nur noch eine Frage von Tagen, bis irgendwo außerhalb des Iraks ein gigantischer Anschlag stattfindet. Oder bis die Dschihadisten des Islamischen Staates, frisch befeuert durch ihre Ausrufung eines Kalifats, vor Mekka und Medina auftauchen. Weit weniger Augenmerk scheint darauf gelegt zu werden, was diese Terroristen derzeit tatsächlich tun: irakische Zivilisten und Soldaten ermorden.

Dabei kann ich ja verstehen, dass die Frage gestellt wird, was der Islamische Staat (IS) als nächstes vorhat, nicht nur im Irak, sondern in der Region und darüber hinaus. Diese Frage ist gerechtfertigt, denn die Vorläuferorganisationen des IS haben stets eine internationale Agenda verfolgt, zum Beispiel mit Bombenanschlägen in Jordanien vor fast zehn Jahren und Plänen für Anschläge in Europa schon in den neunziger Jahren.

Aber Szenarien auszumalen ist nicht Dasselbe wie Fragen aufzuwerfen und Antworten zu suchen. Ich will nicht zynisch klingen, aber einige Berichte schmecken fast nach Angstlust. Warum noch nach Informationen suchen, wenn irgendwie alles denkbar ist?

Der US-Sender NBC zum Beispiel hat ungenannte Experten gefunden, die der Meinung sind, dass der IS eine „extrem große“ Gefahr für US-Interessen darstelle. Vermutlich stammen die Quellen aus den Sicherheitsbehörden. Solche Behörden warnen immer, denn sie wollen niemals die sein, die am Ende nicht gewarnt haben. In dem Report wird dann alles zusammengeworfen: Die Möglichkeit, dass IS-Kämpfer den internationalen Flughafen von Bagdad attackieren könnten; die Möglichkeit, dass der IS US-Botschaften in der Region angreifen könnte; die Möglichkeit, dass es einen IS-Anschlag in den USA geben könnte. Tatsächlich sind das drei Szenarien, zwischen denen Größenordnungen von Wahrscheinlichkeiten liegen. Und gar nicht gestellt wird die Frage, ob US-Ziele derzeit für IS wirklich Priorität haben.

Die ehemals renommierte Londoner Times schreibt derweil, dass Al-Kaidas Filiale in Nordafrika (Aqmi) dem IS Unterstützung zugesagt habe und die Al-Kaida-Filiale auf der Arabischen Halbinsel (Aqap) ihre besten Grüße sende. Beides ist irreführend. Es gibt einen Prediger aus dem Aqap-Umfeld, der sich lobend über den IS geäußert hat, aber er betonte zugleich, dass er überhaupt niemanden repräsentiere. Und gegrüßt hat eine unbedeutende Aqmi-Unteruntergruppe. Das war es auch schon. Die Times zitiert aber zusätzlich schon mal „Experten“, die prophezeien, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die Schabaab-Milizen in Somalia und Boko Haram in Nigeria nachzögen.Womit nachziehen? So entsteht vor dem geistigen Auge der Leser das Gemälde einer Terror-Internationale, das in der Wirklichkeit kein Pendant hat. Sicher: Wer kann schon ausschließen, dass es so kommt? Natürlich niemand. Aber ich kaufe doch keine Zeitung, um zu erfahren, was so alles denkbar ist in dieser Welt.

Denn denkbar ist immer viel. Natürlich auch, dass Aqap seine besten Bombenbauer nach Syrien schickt. Und wenn ich bei der CIA arbeiten würde, wäre es womöglich tatsächlich Teil meines Jobs, mir das vorzustellen. Vielleicht sogar, dass am Ende einer solchen möglichen Kooperation ein Anschlag auf einen US-Jet stehen könnte. Das nennt man dann ein Szenario. Keine Nachricht. Aber im Moment werden aus Szenarien schnell vermeintliche Nachrichten, zum Beispiel im Telegraph, in dem die entsprechende Schlagzeile heißt: „Das Weiße Haus befürchtet, Al-Kaida-Ableger könnte Anschlag auf Flugzeug auf dem Weg in die USA planen“. Etwas genauer ist der Ursprungsbericht von ABC. Aus dem geht wenigstens hervor, dass es irgendwelche Geheimdienstinformationen gibt, auf denen das Szenario basiert. Aber welche das sind, wie zuverlässig und wie aktuell, erfahren wir nicht. Weil auch ABC es nicht weiß. Aber spüre ich irgendwo in dem Beitrag einen Hauch von Misstrauen gegenüber solchen angeblichen Geheimdienstinformationen? Nein.

Noch eine Schlagzeile aus dem Telegraph muss ich hier wiedergeben. „Hat der Islamische Staat Scud-Raketen?“, fragt das Blatt bang. Der Grund ist, dass der IS auf einer Militärparade eine solche erbeutete Rakete vorgeführt hat. Im Text selbst gibt der Telegraph dann Entwarnung und zitiert den Experten-Blogger Eliot Higgins mit dessen einschlägigem Tweet: „Die einzige Gefahr, die von dieser Scud-Rakete ausgeht, besteht darin, dass der IS aus Versehen einen Fußgänger überfährt, während er sie präsentiert.“ Higgins ist sich mit anderen Experten einig, dass die Scud-Rakete nicht einsatzfähig ist. Hier haben wir es also mit dem sozusagen umgekehrten Fall zu tun: Es wird eine Frage gestellt, obwohl die Antwort bekannt ist. Aber warum? Weil die Frage so viel dramatischer als die Antwort ist? Weil es ohne die Frage eine Nicht-Meldung wäre? 

Wie gesagt: Als gäbe es nicht genug zu berichten über die aktuellen Untaten des Islamischen Staates.

Trotzdem bin ich nicht der Ansicht, dass es falsch ist, sich mit Szenarien auseinanderzusetzen oder Spekulationen darüber anzustellen, was der IS als nächstes vorhat. Nur bevorzuge ich es, wenn es eine Faktengrundlage gibt, von der man ausgeht. Also zum Beispiel: Die Vorgeschichte, der track record, dieser Gruppe. Oder die Reden ihrer wichtigsten Kader, die natürlich immer noch Propaganda sein können, aber wenigstens den Vorteil haben, dass sie sich ja auch an die eigenen Anhänger und Kämpfer richten und deswegen durchaus etwas über Ideologie und Strategie verraten.

Aber vor allem gehört es dazu, immer wieder ehrlich zuzugeben, was wir alles nicht wissen. Und im Falle des IS ist das sehr viel. Im Vergleich zum IS war Al-Kaida ein offenes Buch. Im Falle von Al-Kaida war es über die Jahre jedem Interessierten möglich, sich auch unabhängig von Sicherheitsbehörden ein Bild von der Organisation und ihrem Führungspersonal zu machen. Es gab zahlreiche Bücher, die diese verfasst haben; Reden, die sie gehalten haben; glaubwürdige Berichte von Aussteigern, die sie gut kannten; Videos, in denen man sie agieren sehen konnte. Im Falle der aktuellen IS-Führung gibt es all das nicht. Und ich bin sicher, dass die Geheimdienste dieser Welt das Problem ebenfalls haben.

Der Islamische Staat ist eine monströse Terrorgruppe. Ich selbst würde kaum ein Schreckensszenario kategorisch ausschließen. Aber gerade bei Fragen, die für solche Szenarien bedeutsam sind, wie etwa die, ob Al-Kaidas Filialen sich nun tatsächlich oder eben doch nicht oder nur teilweise dem IS unterstellen, kommt es auf kleinteilige Informationssuche an, nicht auf den großen Pinselstrich.

 

Was bedeutet die Ausrufung des Kalifats durch Isis?

Am gestrigen Sonntag, der nicht zufällig mit dem ersten Tag des Fastenmonats Ramadan nach dem islamischen Kalender zusammenfiel, hat die Terrorgruppe Islamischer Staat im Irak und Großsyrien (Isis) offiziell das Kalifat ausgerufen. Die entsprechende arabische Audiobotschaft sowie eine von Isis selbst verbreitete englische Übersetzung liegen mir vor. Es ist nicht möglich, alle Fragen sofort zu beantworten, die dieser Schritt aufwirft. Aber etwas Klarheit kann man schon in die sich nun sicherlich überschlagende Nachrichtenlage bringen.

1.- Ist diese Erklärung authentisch? 

Ziemlich sicher: Ja. Die entsprechenden Links zu der Audiobotschaft und der schriftlichen Erklärung wurden zunächst über offizielle Isis-Accounts bei Twitter verbreitet und dann auf dschihadistischen Websites zum Download bereitgehalten, die auf diese Art von Publikationen spezialisiert sind und seit Jahren authentisches Material von Isis (und anderen dschihadistischen Terrorgruppen) weiterverbreiten. Außerdem passen der Inhalt, der Tonfall und nicht zuletzt die Reaktion der Isis-Sympathisanten. Eine absolute Sicherheit kann es zu diesem Zeitpunkt nicht geben. Aber ich bin mir hinreichend sicher.

2.- Was steht in der Erklärung? 

Die Erklärung stammt vom offiziellen Sprecher von Isis. Die Botschaft holt sehr weit aus und beginnt mit Beispielen aus der Lebensgeschichte des Propheten Mohammed und der frühislamischen Geschichte, die allesamt auf das Thema Führung der Muslime und Ausrufung eines Gemeinwesens oder Staates hinauslaufen. Ich werde mich damit noch ausführlicher auseinandersetzen, aber die Hauptpunkte sind folgende:

– Ab sofort besteht ein Kalifat. Der neue Kalif (beziehungsweise Imam, was in diesem Zusammenhang weltlicher und geistlicher Führer der Gläubigen bedeutet) ist Abu Bakr al-Baghdadi, der schon jetzt Chef von Isis war.

– Isis heißt ab sofort nur noch „Der islamische Staat“.

– Alle Muslime weltweit werden aufgefordert, Abu Bakr die Treue zu schwören.

– Allen existierenden muslimischen Staaten wird die Existenzberechtigung entzogen. Das Kalifat will seine Grenzen ausdehnen

– Die Verschiebung der Ausrufung des Kalifats sei nicht zu rechtfertigen, da die religionsrechtlichen Bedingungen gegeben seien

3.- Was ist ein  Kalifat? Was ist ein Kalif? 

Nach dem Tod des Propheten Mohammed begannen die ersten Muslime mehr oder weniger unmittelbar darüber zu streiten, wer nun die Gemeinde der Gläubigen und den Stadtstaat führen sollten, die Mohammed hinterlassen hatte. Historisch geschah Folgendes: Als erste setzten sich hintereinander drei Prophetengefährten durch, die diese Rolle übernahmen. Sie wurden (zum Teil erst rückblickend, aber das vernachlässigen wir hier) Kalifen genannt, von arabisch Khalifa = Nachfolger (gemeint ist allerdings als Führer der Gläubigen, nicht als Prophet). Der vierte Kalif war Ali, der Schwiegersohn und Neffe des Propheten. Weil der Prophet keinen Sohn hatte, war Ali und waren dessen direkten Nachfahren die engsten Blutsverwandten – für eine Gruppe früher Muslime, die „Partei Alis“ (woraus später die Schiiten wurde), konnten zukünftige Führer der Muslime nur aus dieser Linie stammen. Die meisten der übrigen Muslime (später: die Sunniten) befanden, es reiche, dass der Kalif jeweils aus dem Stamme des Propheten komme, den Kureish. Es ist aus diesem Grund, dass Isis-Chef al-Baghdadi seit Jahren den Namenszusatz „al-Kureishi“ führt. Er suggeriert damit (ob zu Recht oder Unrecht weiß niemand genau), dass er diese Bedingung erfüllt. Der Kalif muss nach sunnitischer Auffassung außerdem gesund und gebildet sein und die Zustimmung der meisten Rechtsgelehrten auf sich vereinigen. Er ist theologisch gesprochen fehlbar.

In der Geschichte folgte auf Alis Kalifat das Kalifat der Ommayaden – einer Untersippe der Kureish. Sie residierten in Damaskus und machten das Kalifat zur Erbsache. Ihnen folgten die Abbasiden in Baghdad, die wiederum eine andere Untersippe der Kureish repräsentierten. Nach dem Fall Bagdads 1253 regierten pro forma weiterhin abbasidische Kalifen, aber unter Fuchtel der Mamluken in Kairo. Es folgte nach dem Fall von Byzanz das Kalifat unter osmanischer Oberherrschaft, bis es schließlich 1924 abgeschafft wurde.

Das Kalifat ist dem Ideal nach das Zusammenfallen von Reich und Religionsgemeinschaft; das war es historisch allerdings fast nie, und fromm waren auch nicht alle Kalifen. Es gab immer wieder auch Gegenkalifate, einen einheitlichen, alle Muslime umfassenden Staat gab es nur in der sehr, sehr frühen muslimischen Geschichte.

In der dschihadistischen Ideologie, der Abu Bakr al-Baghdadi entspringt, ist das aber sowieso egal – denn Dschihadisten akzeptieren einen großen Teil der muslimischen Geschichte sowieso nicht als wahrhaft muslimisch. Dasselbe gilt für die islamische Theologie des Mainstreams. Die Ausrufung des Kalifats knüpft daher nur sehr bedingt an das Jahr 1924 an. Es ist eher ein Neugründung – Isis würde sich ganz sicher eher auf die ersten vier Kalifen (also bis einschließlich Ali) als Vorbilder berufen als auf irgendeinen Kalifen danach.

Die Ausrufung des Kalifats ist eine Provokation für viele fromme Sunniten, die mit der dschihadistischen Ideologie nichts am Hut haben. Es ist auch eine Herausforderung für jene muslimischen Führer, die sich ebenfalls als Nachfahren Mohammeds und der Kureish betrachten – das gilt insbesondere für die Könige von Jordanien und Marokko (nicht für die saudischen Könige, die beanspruchen das nicht).

4.- Was bezweckt Isis? 

Ich vermute, dass die Isis-Führung im Zuge ihrer jüngsten ja tatsächlich gewaltigen Ausdehnung im Irak das Gefühl bekommen hat, über genügend Sympathien und Rückhalt in der muslimische Welt zu verfügen, um diesen Schritt zu wagen. Vermutlich erhofft Isis sich, dass Stämme, kleinere Städte etc. in verschiedenen muslimischen Ländern nun ihren Anschluss an das Kalifat erklären. Das würde in diesen Staaten Chaos auslösen – und Chaos mag Isis, denn es bedeutet, dass keine Kapazitäten mehr zur Verfügung stehen, um Isis zu bekämpfen.

5.- Wie sind die Reaktionen? 

Bisher haben vor allem Sympathisanten reagiert und sich geäußert. In den sozialen Netzwerken und auf den dschihadistischen Websites mit angeschlossenen Internetforen herrscht Hochstimmung. Es wird allerdings auch massive Propaganda und Agitation betrieben. Wie und ob Regierungen muslimischer Staaten reagieren werden, muss man abwarten. Einige könnten versuchen, das Ganze zu ignorieren und/oder für lächerlich zu erklären. Andere dürften versucht sein, die Deklaration zum Anlass zu nehmen, um für eine massive (eventuell kriegerische) Bekämpfung von Isis zu werben.

6.- Was jetzt? 

Die nächsten Tage werden bedeutsam sein. Auch die Reaktion von Al-Kaida zum Beispiel spielt eine Rolle: Schluckt das Terrornetzwerk seinen Stolz hinunter und schließt sich al-Baghdadi an, obwohl Al-Kaida sich im Kriegszustand mit Isis befindet? Führt die Ausrufung des Kalifats zu einer neuen Welle von Freiwilligen, die sich nach Syrien und in den Irak aufmachen? Wie reagiert die internationale Staatengemeinschaft?

Sicher ist, dass Isis gestern ziemlich viel riskiert hat. Die Dschihadisten sind sehr selbstsicher; ich vermute aber, dass sie die Sympathien, die unter Muslimen für sie bestehen, überschätzen.

 

Isis-Anhänger warnen USA vor Terroranschlägen

Schon mein letzter Blog-Post drehte sich um das Thema Propaganda. Heute müssen wir uns aus gegebenem Anlass noch einmal damit befassen. Denn heute ist der „Freitag der Warnung an das amerikanische Volk“, den Anhänger der Terrorgruppe „Islamischer Staat im Irak und Großsyrien“ (Isis) ausgerufen haben.

Austragungsort ist hauptsächlich Twitter. Dort haben die Terror-Sympathisanten einen arabischen Hashtag und einem ähnlichen englischen Hashtag (#CalamityWillBefallUS, also „Ein Desaster wird den USA widerfahren“) etabliert. Seither laufen im Sekundentakt Drohungen, Warnungen und hämische Kommentare ein.

Natürlich ist das ganze eine PR-Aktion. Sie ist vermutlich auch nicht von irgendwelchen relevanten Isis-Kadern instigiert worden, für mich sieht es eher aus wie eine unabhängige Idee von sogenannten „Sessel-Dschihadisten“. Das bedeutet auch, dass die dort gewitterten und teils drastischen Drohungen nicht unmittelbar ernst genommen werden müssen.

Sie gehen zum Beispiel so:

„Unsere Konvois werden eure vorgebliche Zivilisation zerstören, sobald wir einen Fuß auf euer Land setzen.“

„Sollte Amerika im Irak angreifen, wird jede US-Botschaft der Welt zum Ziel und mit Autobomben angegriffen.“

„Niemand in Amerika wird sicher sein.“

„Wir wollen nur Frieden – in unserer Weise… also wenn die Schwarze Flagge auf dem Weißen Haus gehisst sein wird.“

„Der Countdown zur Zerstörung der USA wurde gestartet.“

„Jedes Land, das den USA erlaubt, von dort aus im Irak anzugreifen, wird ein legitimes Ziel.“

Die Kampagne zu beobachten, ist trotzdem aufschlussreich. Sie verrät etwas darüber, wie Isis-Anhänger denken und was sie von Isis erwarten. Da besteht zum einen die Sorge, dass die USA im Irak eingreifen könnten, um Isis zu bekämpfen. Und da gibt es zum anderen die Erwartung, dass Isis in Al-Kaidas Fußstapfen tritt und Anschläge im Westen verübt oder wenigstens dazu aufruft.

Bisher hat Isis offiziell nicht angekündigt, im Westen Terrorakte auszuüben. Das bedeutet nicht, dass die Gruppe es nicht vorhat. Aber Al-Kaida (ich weiß, das klingt bizarr, es ist aber so) hat stets großen Wert darauf gelegt, behaupten zu können, dass die USA ja gewarnt waren – und zwar von ihnen selbst, öffentlich und Jahre vor dem 11. September.

Al-Kaidas Führung brachte für diese Warnungen an die USA (und später an Europa) sogar islamrechtliche Begründungen vor, um den Anhängern zu suggerieren, dass die Gruppe sich an die religiösen Regeln halte. Es wäre daher nicht verwunderlich, wenn Isis ähnlich denkt. Aber wir wissen das nicht. Denn wir kennen das Denken der Isis-Führung nicht gut genug. Im Vergleich zu Osama Bin Laden ist der Isis-Chef Abu Bakr al-Baghdadi ein nahezu unbeschriebenes Blatt. (Das gilt übrigens auch für die Isis-Anhänger; ihr Bild von Al-Baghdadi ist ebenfalls eine Projektion.)

Die Frage, ob und in welcher Weise Isis Al-Kaida als Speerspitze des internationalen dschihadistischen Terrorismus ablösen will, ist also einstweilen nicht klar zu beantworten. Wir wissen auch nicht, wie Al-Kaida darüber denkt, denn seit Monaten herrscht in dieser Hinsicht beredtes Schweigen. Isis hat sich vor Monaten von Al-Kaida losgesagt und die Kooperation beendet. Die beiden Gruppen kämpfen in Syrien sogar aktiv gegeneinander, wo Al-Kaida durch die Zweigstelle „Dschabhat al-Nusra“ vertreten ist.

Der Konflikt, der die Trennung verursachte, hatte weniger mit Ideologie als mit Fragen der Kontrolle und Befehlsgewalt zu tun. Das Verhältnis ist also zerrüttet, vermutlich unrettbar. Oder könnte es eine Art Putsch bei Al-Kaida geben, und ein Bündnis unter umgekehrten Vorzeichen – also mit al-Baghdadi an der Spitze?

Ist es vielleicht auch vorstellbar, dass einzelne Filialen Al-Kaidas, die auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) oder die in Nordafrika (AQIM) die Seiten wechseln und sich Isis unterstellen? Das sind relevante Fragen, deren Antwort wir noch nicht kennen – die aber ernste Auswirkungen haben könnten. Ich bin kein großer Freund von Spekulationen, aber auf Twitter und anderswo äußert sich eine gewisse unter Dschihadisten verbreitete Sehnsucht nach einer einheitlichen Organisation, einem unangefochtenen Oberkommando. Die Zentrale Al-Kaidas in Pakistan ist schwach; Al-Baghdadi ist stark. Stark genug und willens genug, Al-Kaida durch eine Art „feindliche Übernahme“ in seine Organisation zu integrieren?

Vergessen wir die Propaganda, sie liefert uns keine Antworten. Aber ich warte gespannt darauf, dass sich Al-Baghdadi, Al-Kaida oder die Filialen Al-Kaidas zu Wort melden.

 

Nein, Messi wird nicht Amir von Südamerika

Das erste Opfer in jedem Krieg… genau. Auch im Irak ist es derzeit nicht anders, die Wahrheit wird passend gemacht, erfunden, geschönt und verkürzt – je nach dem, wer welche Interessen verfolgt. Das ist wenig überraschend. Trotzdem habe ich mir heute vorgenommen, ein paar Beispiele zu dokumentieren; nicht zuletzt weil manche Fakes es immer  wieder bis in die internationalen Mainstream-Medien schaffen. Vielleicht schärft das den Blick.

Fangen wir mit einem spektakulären Fall an. Gestern berichtete Ishaan Tharoor, der für die Washington Post bloggt, dass die Terrorgruppe „Islamischer Staat im Irak und Großsyrien“ (Isis) dem argentinischen Stürmer Messi gratuliert habe, nachdem dieser mit seinem späten 1:0 den Sieg über Iran besiegelt hatte. Dies sei über ein Twitter-Account erfolgt, das aus dem Isis-Umfeld stamme („affiliated with Isis„). Tharoor dokumentierte den (arabischen) Tweet. Tatsächlich steht dort, man gratuliere Messi, er möge sich den „Schlachtreihen des Dschihad“ anschließen und könne „Amir über Südamerika“ werden. Wie man sich vorstellen kann, ging die Meldung rasch um die Welt.

Das Dumme ist, dass das Twitter-Account nicht aus dem Isis-Umfeld stammt. Man hätte schon deshalb drauf kommen können, weil in dem Tweet Isis als „Da’sh“ bezeichnet wird. Das ist ein Begriff, der sich in den letzten Monaten in der arabischen Welt etabliert hat – ein Kunstwort, das entsteht, wenn man die Anfangsbuchstaben des arabischen Namens von Isis zusammensetzt. Isis verwendet das Wort „Da’sh“ selbstverständlich nicht als Selbstbezeichnung.

Noch aufschlussreicher ist es allerdings, in die Selbstbeschreibung des besagten Twitter-Accounts zu schauen. Dort steht, das Anliegen des Accounts sei es, die „Verbrechen“ von „Da’sh“ zu thematisieren. „Affiliated“ ist das Account mit einer syrischen Webseite. Ich bin mir noch nicht ganz im Klaren, wie das passieren konnte. Aber noch absurder ist, dass der arabische Satellitensender Al-Arabija die vermeintliche Nachricht ebenfalls weiterverbreitete.

Etwas elaborierter finde ich da schon einen anderen Fake. Ebenfalls über Twitter wurde ein angeblich von Isis verfasstes Schreiben verbreitet. Es besagt, dass nach der Einnahme der Provinz Ninive im Irak, alle Familien ihre unverheirateten Frauen präsentieren müssten, damit diese den „Mudschahidin“ sexuell zu Diensten sein könnten. Der Ursprung des angeblichen Isis-Dokuments scheint ein Bericht auf der Webseite von AINA zu sein, der „Assyrischen Nachrichtenagentur“. Ich kenne AINA nicht. Aber es ist klar, dass es sich um eine Webseite assyrischer Christen handelt, die (natürlich und zu Recht) Angst vor Isis haben. Sagen wir so: Ich traue Isis alles mögliche zu, Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt inklusive. Aber diese angebliche Erklärung ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Quark. Der Sprachgebrauch und der Duktus liegen weit jenseits dessen, was ich aus Dokumente von Isis und anderen dschihadistischen Terrorgruppen kenne, die ich selbst gelesen habe. Und das sind Tausende. Es passt schlicht nicht. Ich will damit nicht sagen, dass die Leute von AINA das Dokument erfunden haben. Vielleicht halten sie es wirklich für echt (auch wenn sie ehrlicherweise betonen, sie könnten die Authentizität nicht garantieren). Aber ich halte es  für eine Fälschung.

Andererseits betreibt natürlich niemand mehr Propaganda und Desinformation als Isis selbst. Mein Lieblingsbeispiel aus der letzten Woche ist das Bild eines Hubschrauber mit Isis-Flagge drauf, das in einem dschihadistischen Internetforum herumgereicht wurde und suggerieren sollte, die Dschihadisten hätten nicht nur Helikopter erbeutet, sondern könnten sie auch fliegen. Als ich darüber gewittert hatte, schickte mir jemand ein deutlich schärferes Bild desselben Helikopters – mit der Originalbeschriftung und Beflaggung der irakischen Luftwaffe. Es sieht also ziemlich klar danach aus, dass hier ein Isis-Sympathisant Fotoshop angewendet hat. Denn die beiden Bilder sind dasselbe Bild – aber eines wurde manipuliert.

Es gibt Hunderte solcher Fakes. Das Problem ist, wenn sie für wahr gehalten werden. So kursieren mehrere Landkarten des Nahen Ostens unter Isis-Anhängern, in denen das von Isis beanspruchte Gebiet schwarz eingefärbt und mit ihrer Flagge markiert ist – das zukünftige Kalifat. Solche Karten gibt es seit Jahren, von Al-Kaida-Anhängern fabriziert, von Sympathisanten von Isis‘ Vorläufergruppen – es ist ein alter Propaganda-Hut. Weiterverbreitet wurde aber letzte Woche eine Version dieser Karte mit dem Hinweis, es handle sich um den Fünf-Jahres-Plan von Isis. Huch! Und schon wird aus einer schnell hinretouchierten Karte plötzlich ein vermeintliches Dokument.

Als hätten wir nicht schon genug Schwierigkeiten, bei den wirklich von Isis stammenden Informationen herauszufinden, welche bedeutsam sind, welche die Wahrheit abbilden oder nur einen absichtsvoll gewählten Teil der Wahrheit, und welche gelogen sind. Auch dafür ein Beispiel: Isis meldet seit gestern mehrere Fälle, in denen Kader der verfeindeten Dschihadistengruppe „Dschabhat al-Nusra“ in Syrien sich Isis angeschlossen hätten. Es werden Namen genannt und entsprechende Bilder gepostet. Das könnte der Beginn einer bedeutsamen Entwicklung sein – oder ein paar aufgebauschte Einzelfälle. Zu früh, um es zu sagen. Und mühsam, es herauszufinden.