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Isis oder Isil?

Wie soll man die Terrorgruppe Islamischer Staat im Irak und Großsyrien am besten abkürzen? Denn eine Abkürzung braucht sie, der Name ist schlicht zu lang, um ihn ständig in voller Länge zu verwenden. Das ist nicht verwerflich, sondern nur pragmatisch, und wir handhaben das (als Journalisten, aber auch als breitere Öffentlichkeit) ja nicht nur bei militanten Gruppen so (RAF, Hamas, etc.), sondern auch zum Beispiel bei CDU und SPD. Außer die Namen sind deutlich kürzer, so wie bei Al-Kaida oder den Grünen.

Im konkreten Fall beginnt das Problem schon bei der Übersetzung ins Deutsche, Englische oder Französische – oder genau genommen jede nicht arabische Sprache. Denn auf Arabisch heißt diese Terrorgruppe „al-Dawla al-Islamiyya fi al-Iraq wa al-Sham“. Das bedeutet wörtlich übersetzt: „Der Islamische Staat im Irak und al-Sham“. Das Problem ist das letzte Wort: Al-Sham (gesprochen: asch-Schaaaaam mit laaaaangem a; auf Französisch meistens als al-Cham transkribiert). Denn es gibt dafür mehrere mögliche Übersetzungen.

Die geschichtliche Herleitung ist zunächst einmal klar. „Bilad al-Sham“, also „die Gebiete von al-Sham“, bezeichnen im historischen Gebrauch des Arabischen die ehemaligen östlichen Provinzen des Byzantinischen Reiches, die im Zuge der islamischen Expansion unter islamische Herrschaft gerieten und zu einer Provinz zusammengefasst wurden. Die Etymologie ist nicht ganz unumstritten, aber die Mehrheit deutet es als Ableitung aus dem arabischen Wort für „Norden“. Umgangssprachlich wird al-Sham im Nahen Osten oftmals für das Land Syrien verwendet, aber auch als Synonym für die Hauptstadt Damaskus. Es schwingt dabei allerdings stets mehr mit als nur der Staat Syrien in seinen politischen Grenzen oder die Hauptstadt.

Gefühlt beschreibt al-Sham eigentlich immer jene Region, die von Damaskus aus dominiert wird beziehungsweise im kollektiven Gedächtnis von dort aus dominiert wurde. Der Libanon gehört dazu ebenso wie der nördliche Teil Jordaniens und Teile Palästinas. Eine scharfe Grenze um dieses Gedankengebilde al-Sham kann man daher nicht ziehen. Aber wenn eine dschihadistische Terrorgruppe den Begriff verwendet, ist jedem, der Arabisch spricht, klar, dass es nicht um den Staat Syrien und nicht um die Stadt Damaskus geht. Al-Kaida und Co. recyceln gerne historische Begriffe dieser Art, weil sie die gegenwärtigen Staatsgrenzen nicht akzeptieren: Khorasan für Afghanistan, Zweistromland für den Irak, Kan’an für den Sinai (plus Israel natürlich), Maghreb für Nordafrika (inklusive Andalusien, selbstverständlich), etc. Es geht hier also um die Region rund um Damaskus herum, so weit, wie man eben kommt – in Abgrenzung zu den Nachbarregionen Zweistromland, Palästina/Kan’an und al-Dschasira (die Arabische Halbinsel) sowie den türkischsprachigen Teil der Türkei.

Und wie übertragen wir den Begriff dann in eine nicht arabische Sprache? Entweder gar nicht – dann heißt die Terrorgruppe „Islamischer Staat im Irak und al-Sham“, und eine sinnvolle Abkürzung wäre ISIS. Oder wir übersetzen al-Sham mit Syrien – dann heißt die Gruppe ebenfalls ISIS. Deshalb kann man, wenn jemand ISIS schreibt, auch nicht immer gleich wissen, was genau er damit abkürzt.

Oder man übersetz al-Sham mit Levante – einem Begriff aus dem Italienischen, der die Region des östlichen Mittelmeeres beschreibt. Manche Journalisten und Terrorexperten finden, dass Levante ein angemessener Begriff ist, weil er ebenfalls eine gewisse Unschärfe in sich trägt und damit etwas transportiert, was die Übersetzung mit „Syrien“ nicht transportiert. Dann lautet die Abkürzung ISIL.

Ich habe mich für einen Eiertanz entschieden. Ich schreibe bei der ersten Erwähnung der Gruppe meistens „Islamischer Staat im Irak und Großsyrien“, kürze ihn aber mit ISIS ab. Unlogisch, nicht wahr? Jawohl. Schuldig im Sinne der Anklage. Aber für mich transportiert der Begriff Großsyrien am besten das, was mit al-Sham gemeint ist. Ich habe ganz am Anfang, als ISIS sich so benannte, sogar dafür plädiert, als Abkürzung ISIGS zu etablieren. Ich konnte mich (kein Wunder) nicht durchsetzen. Mein Kompromiss ist also: Ich nutze dieselbe Abkürzung wie die meisten, die sich mit ISIS befassen – um Verwirrung zu minimieren und um zum Beispiel auf Twitter nicht mit dem Hashtag #ISIGS alleine dazustehen. Aber ich verwende den Begriff „Großsyrien“, weil ich ihn für treffender als Levante oder Syrien halte. Das hat damit zu tun, dass er in der historischen europäischen Literatur ziemlich lange ziemlich einheitlich verwendet wurde, im Englischen als Greater Syria. Sie dürfen das gerne anders handhaben. Es gibt keine Regeln. ISIS hat auch keine ausgegeben (und selbst wenn, müssten wir uns an die auch nicht halten.)

Nun liegt es in der Natur der Sache, dass Menschen solche Abkürzungen, die man auch wie ein Wort aussprechen kann, auch gerne so aussprechen. Niemand sagt N-A-T-O. Alle sagen Nato. Und so wird (auch bei der ZEIT und ZEIT ONLINE) aus ISIS im nächsten Schritt Isis. Wie die ägyptische Göttin. Ich spreche allerdings in Vorträgen lieber I-S-I-S. Wenn ich Isis sage, kommt mir das immer vor wie eine ausgedachte Terrorgruppe aus einem James-Bond-Film.

Ein Letztes: Nichts auf der Welt schlägt die Penibilität deutscher Beamter. In einigen deutschen Sicherheitsbehörden heißt Isis deswegen abgekürzt IStIGS. Denken Sie kurz drüber nach; Sie kommen schon darauf, warum.

Soweit alles klar? Gut, dann haken wir jetzt noch schnell Dschabhat al-Nusra ab. Hä? Ja, genau. Dschabhat al-Nusra (der  offizielle Name ist noch länger, aber das lassen wir jetzt mal) bedeutet übersetzt: „Unterstützungsfront“. Das ist der Name der Dschihadistengruppe in Syrien, die sich Al-Kaida unterstellt hat und von Al-Kaida als die offizielle Filiale dort betrachtet wird. (Ursprünglich wurde sie von der Vorläufer-Organisation von Isis gegründet, aber auch das lassen wir an dieser Stelle mal aus).

Im Falle von Dschabhat al-Nusra ist das Problem zum Teil ein grammatikalisches: Oft bezeichnen Journalisten und selbst Experten die Gruppe verkürzt als „Nusra“. Das ist Quatsch. Denn das bedeutet „Unterstützung“. Wenn schon ein einzelnes Wort, dann besser „Dschabha“.  Haben Sie was gemerkt? Dschabha – und nicht Dschabhat! Das liegt am arabischen Genitiv. Den will ich hier nicht erklären, aber glauben Sie mir bitte: Wenn Sie das Wort Dschabha alleine verwenden, fällt in der Aussprache das -t weg.

Das zweite Problem bei Dschabhat al-Nusra ist die Abkürzung. Meistens wird international JN verwendet – wegen der englischen Umschrift des arabischen Buchstabens am Anfang des Wortes. Derselbe Buchstabe, mit dem auch Dschihad/Jihad beginnt. Daher kennen Sie das Problem vielleicht schon. Denn deutsche Zeitungen schreiben lieber „Dsch“ als „J“. International werden wir mit der Abkürzung „DschN“ aber nicht durchkommen. Also auch hier ein Kompromiss: Ich schreibe meistens „Dschabhat al-Nusra“, kürze aber JN ab. Auch hier gilt: Machen Sie es gerne anders.

Im Arabischen ist das alles naturgemäß etwas einfacher. Die meisten Araber, die ich kenne, sagen einfach „Dschabha“, und abgekürzt werden muss das auch nicht, ist auf Arabisch nämlich ein sehr kurzes Wort. Auch bei Isis haben sich die Araber was überlegt. Viele sagen „Da’ish“. Keine Sorge, Sie müssen das nicht. Auf Arabisch ergibt das aber Sinn. Das ist das Wort, das herauskommt, wenn man die arabischen Anfangsbuchstaben als ein Wort ausspricht. Also im Grunde nur die arabische Variante von Isis.

 

Die aktuelle Lage im Irak (5)

Vorbemerkung: Dieser Post bildet den Stand von Donnerstag, 19. Juni, 12 Uhr ab.

Schlacht um Baidschi und andere Scharmützel

Der Ort, an dem aktuell wohl die wichtigste Auseinandersetzung stattfindet, scheint die Stadt Baidschi mit der dazugehörigen Ölraffinerie zu sein. Diese Raffinerie ist zentral für den gesamten nördlichen Irak. Die Lage in Baidschi ist allerdings widersprüchlich. Sympathisanten des „Islamischen Staates in Irak und Großsyrien“ (Isis) behaupten, dass die schwarze Flagge der Dschihadisten über der Raffinerie wehe. Regierungsbeamte lassen hingegen verlauten, das Gelände sei von ihnen gesichert. Andererseits gibt es in Sozialen Netzwerken Fotos, die angeblich brennende Teile der Einrichtung zeigen – allerdings ist unklar, von wann genau diese Aufnahmen stammen. Medienberichten zufolge haben Anwohner Schusswechsel gemeldet. Nimmt man alles zusammen, kann man mit hinreichender Gewissheit sagen, dass es Gefechte um Baidschi gibt oder zumindest gestern noch gab. Darüber hinausgehende Aussagen sind schwierig.

In anderen Teilen des Irak scheint es immer wieder zu Gefechten oder Scharmützeln zwischen Regierungssoldaten auf der einen und Isis-Kämpfern auf der anderen Seite zu kommen; darunter sind viele Mittelstädte oder kleinere Orte. Für die angekündigten Großoffensiven gegen Bagdad, Nadschaf und Kerbala sehe ich derzeit keine Anzeichen.

Hingegen verdichten sich die Anzeichen, dass Isis punktuell Bündnisse mit Gruppen des irakischen Widerstandes eingegangen ist – dabei handelt es sich vor allem um sunnitisch dominierte Gruppen, die zum Teil von alten Kadern des Saddam-Regimes geführt werden, so etwa die Brigaden der 1920er-Revolution, eine Gruppe, die vor Jahren eine einigermaßen prominente Rolle im Kampf gegen die US-Besatzung spielte und von Hass auf die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad getrieben ist. Diese Bündnisse sind rein taktischer Natur, inhaltlich und ideologisch passt zu Isis keine dieser Gruppen. Aber Isis verfügt nicht über genügend Kämpfer, um die überrannten Gebiete zu sichern und gleichzeitig weiter vorzustoßen. Das dürfte der Grund für die Allianzen sein.

Aus Mossul dringen – vor allem über Twitter – Gerüchte, denen zu Folge die harsche, islamistisch geprägte „Stadtverordnung“, die Isis vergangene Woche erlassen hat, wieder aufgehoben wurde, angeblich auf Druck der nicht-dschihadistischen Bündnispartner. Das wäre interessant, weil ein echter Kompromiss von Isis, der anzeigen würde, wie angewiesen sie darauf sind, Allianzen zu bilden. Leider kann ich aber nicht bestätigen, dass die Gerüchte stimmen. Isis selbst hat sich nicht dazu geäußert. Das wiederum könnte damit zusammenhängen, dass nach wie vor etliche offizielle Isis-Twitter-Accounts suspendiert sind und kein Ersatz etabliert wurde.

Indische Geiseln bei Isis

Unterdessen hat Isis mehrere Dutzend Gastarbeiter als Geiseln genommen, darunter 40 Inder und mehrere Pakistaner. Schon letzte Woche setzte Isis etliche türkische Arbeiter fest. Bis jetzt hat sich die Gruppe noch nicht dazu geäußert, ob und in welcher Weise sie die Freilassung an Forderungen knüpfen wird.

USA weiten Luftaufklärung aus

Die USA lassen laut CNN bereits seit Tagen Aufklärungsdrohnen über den Irak fliegen, um sich ein Bild von Isis-Stellungen zu machen. Nun wird das Land auch von bemannten Aufklärungsflugzeugen überwacht. US-Präsident Obama hat sich dem Bericht zufolge noch nicht festgelegt, ob und falls ja wie sein Land im Irak militärisch eingreifen könnte. Eine Invasion steht außer Frage, aber Luftschläge, ob von Kampfjets ausgeführt oder mit Hilfe von Flugzeugträgern im Golf, sind denkbar. Die Regierung des Irak hat mittlerweile offiziell um solche Luftschläge gegen Isis gebeten.

Und sonst?

Isis in der syrischen Stadt Raqqa beschwert sich, dass die türkische Regierung ihnen angeblich das Wasser abdreht, in dem sie einen Staudamm entsprechend manipuliert habe.

In sozialen Netzwerken rufen Isis-Sympathisanten dazu auf, sich als Anhänger des Netzwerks zu outen und entsprechende Stellungnahmen über YouTube zu veröffentlichen, das Motto lautet „eine Milliarde Muslime für Isis“. Erste Videos sind schon eingegangen, von Ägyptern, Jordaniern, Indonesiern. Es ist natürlich eine klare PR-Aktion.

In ungenannten Orten in der irakischen Provinz Niniweh haben nach Isis-Angaben mehrere Pro-Isis-Demonstrationen stattgefunden. Entsprechende Bilder veröffentlichte Isis in der Nacht zum Donnerstag. Tatsächlich zeigen sie größere Mengen von Zivilisten, die Isis zu preisen scheinen. Leider gibt es keine konkreten Ortsangaben, noch lässt sich verifizieren, dass die Aufnahmen tatsächlich aktuell sind. Ich finde das interessant, denn mein Eindruck ist, dass Isis immer verschwommener wird, wenn es um Orte und Zeiten geht – offensichtlich eine Maßnahme, die sicherstellen soll, dass die Gegner nicht allzu genau wissen, wo sich die Kämpfer gerade aufhalten.

 

Die aktuelle Lage im Irak (3)

mosulparadeVorbemerkung: Dieser Post bildet den Stand von Montag, den 16. Juni, 11 Uhr ab. Von Yassin Musharbash

Hinweise auf Massenexekutionen durch Isis

Die Hinweise, dass der Islamische Staat im Irak und Großsyrien (Isis) massenhaft irakische Soldaten exekutiert hat, verdichten sich massiv. Es geht möglicherweise um bis zu 1.700 Menschen. Seit dem Wochenende werden über teils offizielle, teils sympathisierende Twitter-Accounts Bilder verbreitet, die am Boden liegende Männer zeigen, auf welche Isis-Kämpfer schießen. Es ist naheliegend, dass es sich bei den Opfern um geflüchtete Regierungssoldaten handelt. Isis-Berichten zufolge handelt es sich um schiitische Soldaten.

Die Bilder sind signiert von der „Provinz Salaheddin“ des „Islamischen Staates“. Ihre Authentizität lässt sich nicht unabhängig beweisen, ich halte sie aber für echt. Darauf deuten Stil, Aufmachung und Bildtexte sowie die Verbreitungswege hin. Außerdem die Tatsache, dass Isis-Sympathisanten sie ausnahmslos für echt zu halten scheinen. Über Zahlen kann man trotzdem keine seriöse Aussage treffen. Die Zahl 1.700 geht zurück auf Isis-nahe Tweets vom Freitag, die aber noch nicht von Bildern begleitet gewesen waren. Aus anderen Ortschaften meldet Isis, dass viele Soldaten sich entweder ergeben hätten und nun „Reue üben“, oder geflohen seien. Auch das ist wahrscheinlich, aber im Detail im Moment nicht überprüfbar.

Wie geht der Isis-Vormarsch weiter?  

Isis-nahe und offizielle Twitter-Accounts der Organisation behaupten, zuletzt die Ortschaft Tal Afar nahe Mossul eingenommen zu haben. Andere Berichte behaupten, die Dschihadisten seien in einem Ort 15 Kilometer vor Bagdad aufgetaucht. Unabhängige Bestätigungen fehlen. Ende vergangener Woche hatte der offizielle Isis-Sprecher Adnani die Kämpfer auf die Ziele Bagdad und Kerbala eingeschworen. Aber ich halte es für möglich, dass das mehr Propaganda oder Agitation als taktische Planung ist. Die Isis-Kämpfer sind, militärisch gesprochen, vermutlich bereits „überdehnt“; in Bagdad und Kerbala würden sie ohne Zweifel auf massiven Widerstand stoßen, der ihnen zahlenmäßig überlegen sein dürfte. Der Versuch, eine dieser Städte ernsthaft einzunehmen, würde die bisherigen Erfolge aufs Spiel setzen.

Andererseits gibt es glaubwürdige Berichte in der arabischen, aber auch internationalen Presse, denen zufolge sich kleinere Gruppen des irakischen Widerstands mit Isis zusammengetan haben. Darunter sollen auch ehemalige Angehörige des Baath-Regimes von Saddam Hussein sein, also nicht gerade dschihadistische Kräfte – wohl aber Kräfte, die gegen die schiitisch dominierte Regierung des Irak sind und über militärisches Know-how verfügen. Ich kann diese Berichte nicht bestätigen und auch nicht einschätzen, wie wirksam solche Allianzen wären.

Wie viel Vermögen hat Isis?  

Am gestrigen Sonntag berichtete der Guardian, dass den irakischen Sicherheitsbehörden zwei Wochen vor der Einnahme von Mossul ein wichtiger Isis-Kurier ins Netz gegangen sei. Zwei Tage vor dem Fall der Stadt sei er zum Reden gebracht worden. Daraufhin hätten die Sicherheitskräfte 160 Memorysticks in ihren Besitz bringen können, aus denen unter anderem die Namen von Isis-Kämpfern sowie die finanziellen Verhältnisse der Terrorgruppe hervorgingen. Demnach verfügte die Organisation vor der Einnahme Mossuls über 875 Millionen US-Dollar; danach seien weitere 1,5 Milliarden (sic!) US-Dollar durch Bankraube hinzugekommen.

Dieser Betrag ist atemberaubend hoch. So hoch, dass Isis damit auf Jahre hinaus nicht nur im Irak und in Syrien alles und jeden kaufen könnte, was ihre Lage stabilisiert, sondern noch genug übrig bliebe, um an jedem Ort der Welt einen spektakulären Anschlag zu planen. Ich bin aber skeptisch. Die Quellen für die Zahlen sind irakische Sicherheitsbehörden, die erstens in der Vergangenheit keine besonders vertrauenswürdigen Informanten waren und zweitens im Moment ein akutes Interesse daran haben, Isis möglichst groß und mächtig darzustellen, um internationale Unterstützung für die Bekämpfung zu organisieren. Angeblich wurden die Informationen mit den US-Geheimdiensten geteilt. Abwarten, ob aus der Richtung irgendwelche Einschätzungen kommen werden, mit denen man mehr anfangen kann.

Und sonst?  

Twitter hat übers Wochenende eine ganze Reihe offizieller Isis-Accounts suspendiert. Noch hat die Organisation keine alternativen Adressen zur Verfügung gestellt.

Die Jordan Times berichtet, am Wochenende habe Isis in Jordanien eine Filiale eröffnet. Das ist kaum zu überprüfen, aber naheliegend. Die Organisationen, aus denen Isis hervorgegangen ist, haben mehrfach in Jordanien zugeschlagen und betrachten das Regime in dem kleinen Nachbarland des Irak als feindlich.

In Spanien gab es heute Festnahmen von angeblichen Mitgliedern einer Isis-Zelle. Laut BBC handelt es sich um acht Männer, einer von ihnen angeblich ein ehemaliger Guantanamo-Insasse. Sie sollen vorgehabt haben, Rekruten für Isis zu finden. Bereits am Wochenende wurde in Deutschland ein mutmaßlicher Dschihadist aus Frankreich festgenommen, der in Syrien gewesen sein soll. Details kenne ich noch nicht, trage sie aber gegebenenfalls nach.

 

 

Die aktuelle Lage im Irak (2)

Vorbemerkung: Dieser Text bildet den Stand von Freitag, dem 13. Juni, 15 Uhr ab. 

ISIS-FathNeue Eroberungen durch Isis

Am gestrigen Donnerstag hat die Dschihadisten-Gruppe Isis weitere Ortschaften eingenommen. Laut Al-Jazeera sind darunter sechs Dörfer nahe Baquba in der Provinz Diyala, die an den Bezirk der Hauptstadt Bagdad angrenzt. Laut BBC und Al Jazeera wurden außerdem die Orte Saadiya und Dschalaula eingenommen, ebenfalls in der Provinz Diyala gelegen. Damit ist Isis nachweislich zwischen 60 und 80 Kilometer vor Bagdad angekommen. Meldungen, dass Isis-Kämpfer über Nacht bis auf 30 Kilometer an Bagdad vorgerückt sind, sind unbestätigt.

Ansonsten sind wir jetzt in einem Stadium angekommen, wo die Berichte der Konfliktparteien sich überlagern und Unklarheiten verstärken. Ein Beispiel ist die Lage in der Stadt Tikrit. Sie wurde vorgestern offenbar von Isis eingenommen, fiel aber schon am Donnerstag zahlreichen Berichten zufolge wieder in die Hände der irakischen Regierung. Zugleich wird aber aktuell Propagandamaterial von Isis-Anhängern verbreitet, dass zum Beispiel zeigt, wie sie in Tikrit Gefangene abführen – Bilder, die also vermutlich entstanden, bevor Isis die Stadt wieder aufgab. Solche Überlagerungen werden künftig vermehrt auftreten.

Isis stellt Regeln auf

Am Donnerstag verbreitete die offizielle Isis-Pressestelle für die Provinz Ninive (Ja, so etwas gibt es) ein zweiseitiges Dokument, in dem die neuen Regeln verkündet werden, die für nunmehr unter Isis-Herrschaft lebende Iraker gelten. Das Dokument ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit authentisch, zum einen, weil es inhaltlich zu ähnlichen, früheren Proklamationen passt, zum anderen weil es über die Kanäle verbreitet wurde, die Isis nachweislich schon länger nutzt, zum dritten, weil Isis-Anhänger wie Isis-Gegner es für echt halten.

Die wichtigsten Punkte in Kürze:

  • Alle Muslime sollen fünf Mal am Tag zum Gebet in der Moschee erscheinen
  • Frauen sollen die Häuser nur in zwingenden Fällen verlassen
  • Wer erbeutetes Geld stiehlt, dem wird die Hand abgehackt
  • Versammlungen, die nicht von Isis einberufen wurden, sind verboten
  • Tabak, Alkohol und Zigaretten sind verboten
  • Regime-Angehörigen wird mitgeteilt, dass „der Weg der Reue unversperrt“ sei. Es würden demnächst Pläne vorgestellt, wie mit diesen Personen umzugehen sei.

Gefangene und Getötete

In den Gebieten, in denen Isis einmarschiert ist, gab es Tote und Gefangene. Ich habe gestern schon über Bildmaterial von offenkundigen Hinrichtungen geschrieben. Nun gibt es Videos, die wohl gestern oder vorgestern in Tikrit aufgenommen wurden. Sie zeigen Hunderte gefesselte Gefangene, die in einer langen Kolonne eine Straße entlanggeführt werden. Was genau das zu bedeuten hat, ist unklar. Mutmaßlich handelt es sich um irakische Regierungssoldaten. Isis-Anhänger behaupten, es gebe mittlerweile über 4.500 Gefangene. Diese Zahl lässt sich unmöglich verifizieren.

Wie mit den Gefangenen verfahren wird, davon gibt derweil womöglich ein Tweet eine Ahnung, der über mehrere Isis-nahe Twitter-Accounts verbreitet wurde. Demzufolge seien 1.700 festgenommene Soldaten begnadigt worden (es soll sich um Sunniten handeln), während 2.500 dieses Glück nicht hatten (angeblich waren sie Schiiten). Was mit den Letzteren geschah, ist nicht eindeutig. Einige Isis-nahe Aktivisten behaupten, sie seien exekutiert worden, aber das ist vollkommen unbestätigt. Um es ganz klar zu sagen: Die Bilder hingerichteter Soldaten, die ich bisher kenne, zeigen Einzelpersonen oder kleine Gruppen; so wenig ich Massenhinrichtungen ausschließe, so wenig Belege dafür oder Hinweise darauf jenseits unverifizierter Twitter-Meldungen habe ich bisher gefunden. Laut BBC haben die UN 17 Hinrichtungen von Zivilisten dokumentieren können.

Was kommt als Nächstes?

Ob die Isis-Kommandeure ihre Offensive mit derselben Geschwindigkeit weiterführen wollen, lässt sich im Moment (Stand Freitagvormittag) noch nicht eindeutig sagen. Laut Al Jazeera hat mindestens einer dieser Kommandeure angekündigt, man wolle Nadschaf und Kerbala angreifen – zwei den Schiiten sehr wichtige Städte, was deswegen auch ziemlich sicher zu schwersten Kämpfen führen würde. Andere Isis-Anhänger behaupten derweil, die Offensive auf Bagdad habe begonnen. Im Laufe des Tages wird die Lage vermutlich etwas klarer werden.

Der Iran hat unterdessen versichert, auf der Seite der irakischen Regierung zu stehen. Offiziell geht es nun um diplomatische Einflussmöglichkeiten. Derweil häufen sich (unbestätigte) Medienberichte, dass paramilitärische iranische Einheiten bereits im Irak eingetroffen seien.

Und sonst?

Es gibt ein interessantes Twitter-Posting eines Isis-Sympathisanten (vielleicht auch -Kämpfers?), der seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, dass die Geiseln, die Isis genommen hat, unter anderem gegen „Abu Osama al-Almani“ ausgetauscht werden. Dabei dürfte es sich um Mohammed Mahmoud handeln, einen österreichischen Hassprediger, der sich seit Monaten in der Türkei in Haft befindet. Er war wohl auf dem Weg nach Syrien gewesen, um dort zu kämpfen. Mahmoud hat in Österreich zuvor schon eine Gefängnisstrafe wegen Terrorismus abgesessen, er ist einer der einflussreichsten deutschsprachigen Dschihadisten.

Eine letzte Bemerkung noch: Ich bin gestern gefragt worden, ob ich mehr Quellenangaben machen könnte. Wo das sich anbietet, will ich das gerne tun. Aber ich möchte an dieser Stelle nicht auf dschihadistische Internetseiten verlinken. Zum einen, weil das oft keinen Sinn macht, wenn diese Seiten passwortgeschützt sind. Zum zweiten, weil die fast alle arabischsprachig sind, der Mehrwert für die breite Leserschaft hielte sich also in engen Grenzen. Sehen Sie mir also nach, wenn ich darauf verzichte.

 

Die aktuelle Lage im Irak (1)

Dieses wird das erste von voraussichtlich einer ganzen Reihe ähnlicher Postings. Ich glaube nämlich, dass es sinnvoll ist, jeden Tag in Kürze zusammenzufassen, welche der sich überschlagenden Meldungen aus dem Irak bestätigt sind und welche nicht, welche vermutlich Gerüchte sind und welche eine Grundlage haben könnten. Von Yassin Musharbash

Was hat Isis in Mossul erbeutet?

Vor allem über Twitter verbreiten Dschihadisten Unmengen von Fotos angeblicher Beute aus der Übernahme der Stadt Mossul im Nordirak Anfang der Woche. Es ist schwer zu verifizieren, dass es sich bei den Absendern wirklich in jedem Fall um Teilnehmer an der Schlacht handelt, aber in diesem Fall lässt die schiere Menge an ähnlichen Bildern eine gezielte Desinformationskampagne unwahrscheinlich erscheinen. Ich gehe davon aus, dass zumindest das Folgende als gesichert gelten kann: Isis hat in Mossul eine größere Anzahl Militärfahrzeuge erbeutet, darunter auch Panzerfahrzeuge. Aktuelle Bilder zeigen, wie diese Fahrzeuge bewegt werden, die Dschihadisten behaupten: über die Grenze nach Syrien, um dort die Kampfanstrengungen von Isis zu unterstützen.

Immer wieder wird auf dschihadistischen Websites, aber auch in arabischsprachigen Online-Medien behauptet, Isis seien mehr als 400 Millionen US-Dollar in bar in die Hände gefallen. Es gibt ein Bild, das einen riesigen Stapel Bargeld zeigt und angeblich von der Einnahme Mossuls stammt. Aber das hat keine Beweiskraft. Tatsächlich gibt es für die Behauptung, es sei Geld in solchen Größenordnungen erbeutet worden, keinen Beleg. Es gibt angeblich eine Aussage eines irakischen Offiziellen, die das zu bestätigen scheint. Aber auch diese Aussage hat nicht die Kraft einer unabhängigen, überprüfbaren Bestätigung. Es bleibt daher einstweilen unklar, ob und wenn ja wie viel Geld Isis erbeutet hat.

Sicher ist hingegen, dass Isis in Mossul den zivilen und wohl auch einen militärischen Flughafen übernommen hat. Am Anfang wurde behauptet, dabei seien Black Hawk-Helikopter erbeutet worden. Dafür fehlt jeder Beweis. Zumal die irakische Armee (nach Aussage mehrerer Experten) über keine Black Hawks verfügt. Dschihadisten stellten aber zahlreiche Bilder von anderen Hubschraubern ins Netz. Gut möglich, dass das stimmt. Auf einer wichtigen dschihadistischen Website wurde am Donnerstagmorgen behauptet: „Wir bestätigen, dass die ersten Flugzeuge, die Isis übernommen hat, einen Testflug absolviert haben.“ Das riecht allerdings nach Propaganda. Es ist jedenfalls nicht bekannt, dass es überhaupt Piloten bei Isis gibt.

Wurden Gefangene freigelassen?

Ja. Es gibt Fotos, die freigelassene Gefangene in Mossul und an anderen Orten zeigen. Es handelt sich zumindest zum Teil offenbar um solche Gefangene, die unter Terrorverdacht standen oder wegen Terrors verurteilt wurden (was im Irak nicht immer dasselbe heißen muss wie in einem funktionierenden Rechtsstaat!). Nach Isis-Angaben sind es weit über 1.000 Gefangene, die freigelassen wurden. Das lässt sich nicht ohne Weiteres verifizieren. Aber die Angaben deuten daraufhin, dass ganze Gefängnisse geöffnet wurden. Es könnten also wirklich viele Freigelassene sein.

Wie hat die irakische Armee reagiert?

Ziemlich sicher stimmen die Berichte, nach denen die Armee zumindest in Mossul die Stadt mehr oder weniger kampflos den Dschihadisten übergeben hat. Es gibt Bilder, die ausgezogene Uniformen am Straßenrand zeigen, darüber hinaus Fotos aus übernommenen Polizei- und Armee-Checkpoints mit zurückgelassenen Dokumenten, die auf einen hastigen Rückzug deuten. Auch aus anderen Städten, vor allem Tikrit, wurde berichtet, dass die Regierungssoldaten sich zurückgezogen haben, statt zu kämpfen. Auch heute sollen wieder Soldaten desertiert sein.

Es gibt aber auch Bilder von durch Isis-Kämpfer getöteten und übel zugerichteten Regierungssoldaten, punktuell kam es also offenbar zu Kampfhandlungen – oder auch zu Morden, falls die Soldaten sich zuvor ergeben haben sollten. Die Kommentare der Dschihadisten lassen diese Möglichkeit offen, denn sie schreiben sehr deutlich darüber, dass die Soldaten aus Rache sterben mussten.

Dschihadisten behaupteten am Donnerstag, über 100 irakische Regierungssoldaten hätten sich Isis angeschlossen. Dafür fehlt aber jede unabhängige Bestätigung. Es könnte sich um Propaganda handeln.

Unbestätigt, aber nicht unwahrscheinlich sind Berichte, dass Isis am Donnerstagmittag mit einigen Kämpfern 90 Kilometer vor Bagdad stand. Am Tag zuvor waren sie in Tikrit, das 150 Kilometer von der Hauptstadt entfernt liegt. Mehrere Isis-Führer haben zudem angekündigt, es werde einen Sturm auf Bagdad geben. Aber taktisch scheint es ziemlich waghalsig, diesen Vorstoß jetzt schon zu wagen, denn Isis verfügt über nicht mehr als 10.000 Kämpfer, die mittlerweile über ein großes Gebiet verteilt sind. Um Bagdad einzunehmen, müssten sie sich zuvor wohl zusammenziehen.

Am Donnerstagmittag gab es zudem unbestätigte Medienberichte, denen zufolge die Stadt Tikrit wieder unter Regierungskontrolle steht. In der Umgebung von Samarra sei zudem die Luftwaffe gegen Isis eingesetzt worden.

Und sonst?

In der nordirakischen Stadt Kirkuk haben kurdische Sicherheitskräfte die Kontrolle über die irakische Armee übernommen; Hintergrund ist offenbar, dass sie sich bereit machen für den Fall, dass Isis die Offensive dorthin trägt. Quelle ist unter anderem die Nachrichtenagentur Reuters.

Iraker berichten über Twitter, dass Isis bislang Zivilisten verschont habe. Demgegenüber stehen allerdings Bilder und Videos, die zeigen, wie Isis-Kämpfer Menschen hinrichten. Die Dschihadisten behaupten natürlich, es handle sich dabei ausnahmslos um verurteilte Kollaborateure mit dem Regime in Bagdad (die Hinrichtungen wären trotzdem Kriegsverbrechen) oder um „Abtrünnige“ beziehungsweise „Schiiten“ (was ebenfalls Kriegsverbrechen darstellen würde).

Etwas unklar ist die Nachrichtenlage mit Blick auf die aktuellen Bemühungen der irakischen Regierung. Angeblich verhandelt sie mit schiitischen wie mit kurdischen Milizen darüber, gegen Isis zusammenzuarbeiten. Angeblich gab es aber auch eine heimliche Botschaft an Washington, dass man Luftschläge der US-Armee gegen Isis-Stellungen nicht verurteilen würde.

 

Wie gefährlich ist „Der Islamische Staat im Irak und Großsyrien“?

Seit 2006 behauptet die Terrorgruppe Islamischer Staat im Irak und Großsyrien (Isis), ein Staat zu sein. Seit Anfang der Woche, als Isis-Kämpfer weite Teile der nordirakischen Metropole Mosul einnahmen, ist die aus dem Al-Kaida-Netzwerk hervorgegangene Organisation diesem Ziel einen Schritt näher gekommen. Mosul ist eine Millionenstadt, sie ist das kommerzielle Zentrum des Iraks und die wichtigste Durchgangsstation auf dem Weg nach Syrien.

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Berliner Ex-Rapper in Syrien leistet Terrorgruppe den Treue-Eid

Er ist nicht der erste deutsche Dschihadist, der sich in Syrien der Terrorgruppe Islamischer Staat in Irak und Großsyrien (ISIS) angeschlossen hat – aber der bekannteste, und deshalb wichtigste: Dennis Cuspert, früher einmal als Rapper Deso Dogg (ein bisschen) berühmt, seit seiner dschihadistischen Selbstfindung als Abu Talha al-Almani fungierend.

Am Freitagabend veröffentlichte er ein sechs Minuten langes Video im Internet, in dem er dem ISIS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi, einem Iraker, die Baia’a, den offiziellen Treueid schwört. „Ich gebe meine Bai’a an den Amir Al-Muminin (Anführer der Gläubigen, YM), um ein Zeichen zu setzen, dass wir auf dem geraden Weg sind. Ich denke, es ist für mich eine Bereicherung.“

Cuspert hält sich seit Monaten in Syrien auf, im vergangenen Jahr wurde er dort schwer verwundet, ist seitdem aber offenbar wieder genesen. Von Beginn an publizierte er Bilder, Statements und kurze Videos aus dem Bürgerkriegsland, die an seiner dschihadistischen Gesinnung keinen Zweifel ließen; trotzdem war lange unklar, welcher Organisation er sich angehörig fühlt. Diese Frage ist jetzt geklärt – Abu Talha hat sich, wie zu erwarten, für die denkbar brutalste Variante entschieden, für die Schächtet, Terroristen und Kriegsverbrecher des aus der Al-Kaida-Filiale im Irak hervorgegangenen ISIS.

Das ist aus mehreren Gründen relevant. Zum einen, weil ISIS ideologisch und in der Praxis die extremste Gruppe in Syrien ist. Wo sie Einfluss haben, richten ihre Kämpfer Menschen für lächerlichste Vergehen hin, hacken angeblichen Dieben die Hände ab und zwingen Frauen unter die Vollverschleierung. Auch ihre Ziele liegen weit jenseits einer besseren oder auch nur alternativen Zukunft für die Bürger Syriens. Abu Talha selbst macht das in dem Video klar, wenn er sagt, dass er und seine Genossen den Kampf „so Gott es will“ nach Al-Kuds, also nach Jerusalem tragen werden. ISIS ist internationalistisch ausgerichtet, Syrien ist für die Kämpfer nur eine Etappe.

Zugleich ist ISIS freilich aus dem Al-Kaida-Universum ausgeschert, es gab Anfang dieses Jahres ein nicht wieder zu kittendes Zerwürfnis zwischen der ISIS-Führung, die sich selbst zu Beginn noch als Teil des Al-Kaida-Netzwerks verstand, und Aiman Al-Sawahiri, dem Al-Kaida-Chef. Seitdem kracht es immer wieder zwischen ISIS-Kämpfern und Verbänden anderer islamistischer und/oder dschihadistischer Gruppen in Syrien – zum Beispiel der Dschabhat al-Nusra, einer zweiten Gruppe, die aus dem Al-Kaida-Nexus hervorging und deutlich stärker auf Syrien konzentriert ist als ISIS und (etwas) moderater auftritt.

Abu Talha behauptet derweil, für ihn sei mit dem Treue-Eid ein „Traum wahr geworden“, er werde kämpfen, bis dereinst eine Rakete oder Kugel ihn töten werde.

Es ist davon auszugehen, dass er nicht der einzige aus Deutschland eingereiste Dschihadist ist, der beim ISIS gelandet ist. Der Verfassungsschutz geht mittlerweile von über 320 Syrien-Reisenden aus Deutschland aus; wie viele von ihnen tatsächlich an Kampfhandlungen teilnehmen, ist ungewiss, aber einige dürften es schon sein. Zuletzt verdichteten sich die Hinweise, dass die Kämpfer aus Deutschland in mehreren Gruppen organisiert sind; auch Abu Talha wird also wohl kaum ganz alleine sein.

In dem Video behauptet er, er befinde sich in Raqqa, einem Ort zwischen Aleppo und Deir ez-Zor, der als ein wichtiges ISIS-Zentrum gilt. Überprüfen lässt sich das nicht ohne Weiteres – genau so wie in dem Video auch unklar bleibt, ob ein ISIS-Repräsentant den Treue-Eid offiziell akzeptiert. Normalerweise geht das entsprechende Ritual mit einer Berührung der Hände zwischen Eid-Geber und -Empfänger einher. Abu Talha legt seine Hand in die Hand eines zweiten Mannes, dieser wird aber nicht gezeigt. Authentisch ist das Video wohl trotzdem – zumindest in dem Sinne, dass es wirklich Dennis Cuspert zeigt und seine Ansichten widerspiegelt.

Ob der Treue-Eid Auswirkungen haben wird, die über die Bürgerkriegssituation in Syrien hinausweisen, wird sich zeigen; Sicherheitsbehörden sind besorgt, dass heimkehrende Kämpfer aus Deutschland hierzulande Anschläge verüben könnten. Bislang hat ISIS nicht zu Anschlägen in Europa aufgerufen. Das könnte sich natürlich ändern; und Cusperts Eid würde ihn dann zu unbedingtem Gehorsam verpflichten.

PS: Ich beschreibe hier einen Sechs-Minuten-Auszug aus einem anscheinend insgesamt längeren Video.

 

Das Wörterboarding des Innenministeriums

Dies ist eine kleine Geschichte über: eine Panne, eine ehrenwerte parlamentarische Praxis, die deutsche Sprache und Politik. Und zwar in genau dieser Reihenfolge.

Die Panne, um die es geht, ereignete sich im November 2013 auf dem Flughafen Köln/Bonn, von wo aus eine Frau in die Türkei reisen wollte, die 50 (leere) Magazine für das Sturmgewehr AK47 bei sich führte. Dieses besondere Gepäck fiel bei der Kontrolle auf. Aber die Frau wurde weder festgehalten, noch wurden die Magazine sichergestellt. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) berichtete zuerst über den Fall.

Der hätte natürlich nicht passieren dürfen, denn diese Art Gepäck fällt unter die einschlägigen Exportverbote, wenn man keine spezielle Genehmigung hat. Hinzu kam, dass die betreffende Frau die Mutter zweier polizeibekannter radikaler Islamisten ist, die sich wiederum in Syrien aufhalten. Es lag also nicht gerade fern, dass die Magazine etwas mit dem bewaffneten Kampf in Syrien zu tun haben könnten. Und wegen des Syrien-Embargos hätte die Ladung dorthin erst recht nicht geschafft werden dürfen. Trotzdem gelang es laut FAS derselben Dame, im Dezember auf demselben Wege noch einmal 187 Magazine außer Landes zu bringen.

Aber Pannen kommen vor. In diesem Fall handelte es sich dem Vernehmen nach um menschliches Versagen: eine Fehleinschätzung der Rechtslage. Mittlerweile läuft gegen die Dame ein Ermittlungsverfahren beim Generalbundesanwalt.

Dem Bundestagsabgeordneten Hans Christian Ströbele (Grüne), und jetzt kommen wir zu einer ehrenwerten parlamentarischen Praxis, ließ diese Meldung keine Ruhe. Er stellte daher eine mündliche Frage an die Bundesregierung. Er wollte wissen, wie die Bundesregierung es bewerte, dass die Dame weiterreisen durfte. Er wollte ferner wissen, ob diese „Duldung bzw. Unterstützung der Reisetätigkeit und des Waffentransports von möglichen V-Personen und deren Angehörigen“ gegen eine gemeinsame Linie aller Bundesländer verstoße, der zufolge mutmaßliche Dschihadisten auf dem Weg zu Kampfeinsätzen im Ausland eigentlich aufgehalten werden sollen.

„Von möglichen V-Personen und deren Angehörigen“: Ströbeles Frage zielte nicht nur auf eine mögliche Panne am Flughafen, vielmehr sollte sie die Bundesregierung dazu bewegen, sich darüber zu äußern, ob für „V-Personen“ von deutschen Geheimdiensten oder „deren Angehörige“ Sonderregeln gelten – ob also beispielsweise deren Ausreisen nicht unterbunden werden.

Interessante Konstruktion. Denn antwortet die Bundesregierung: „Ja, dann gelten jeweils eigene Regeln“, hätte Ströbele sie dazu gebracht, etwas offenzulegen, was sie sicher nicht offenlegen will. Und jeder würde außerdem sofort vermuten, dass die Dame und/oder ihre Söhne solche V-Personen sind.

So weit, so klar. Jetzt kommen wir zur deutschen Sprache. Beziehungsweise zur Antwort der Bundesregierung. Schön wäre es, die Bundesregierung würde sich bei der Beantwortung solcher Fragen an der gesprochenen Sprache orientieren. Tut sie aber leider nicht. Tatsächlich ist die Antwort eher ein Fall von Wörterboarding. Sie müssen jetzt stark sein.

Die Bundesregierung, hier vertreten durch den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Günter Krings, führt in der Antwort an Ströbele zunächst aus, dass sie leider keine weiterreichenden Informationen geben könne, da „der geschilderte Vorgang“ Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens sei. In mehr Worten: „Eine Auskunft hierzu könnte weitergehende Ermittlungsmaßnahmen erschweren oder gar vereiteln, weshalb aus dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit folgt, dass das betroffene Interesse der Allgemeinheit an der Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und Strafverfolgung hier Vorrang vor dem Informationsinteresse hat.“

Die Bundesregierung sagt also erst einmal gar nichts zum von Ströbele aufgemachten V-Mann-Fass; das war freilich zu erwarten. Wenig ist heikler als das Geschäft der Dienste mit Informanten, da wird in aller Regel weder bestätigt, noch dementiert. (Ich vermute allerdings, nach einigen Telefonaten „in Sicherheitskreisen“, die ich heute geführt habe, dass in diesem Fall niemand eine V-Person war.)

Danach allerdings kommt die Regierung auf die Panne zu sprechen. Oder besser gesagt: Staatssekretär Krings versucht, eine Panne als Panne zu beschreiben, ohne das Wort Panne zu benutzen. Ich gehe das mal Satz für Satz durch – und versuche, zu übersetzen:

„Unabhängig hiervon wurde der Sachverhalt unter rechtlichen wie tatsächlichen Gesichtspunkten nachbereitet.“

Wir haben noch mal über den Fall gesprochen.

„Bei Würdigung der heute vorliegenden und zusammengeführten Erkenntnisse ist festzuhalten, dass sowohl die Sicherstellung der mitgeführten Gegenstände, als auch die Untersagung der Ausreise rechtlich möglich ist.“

Uns ist dann klar geworden, dass man in so einem Fall das dubiose Gepäck sicherstellen darf. Auch die Weiterreise darf man in so einem Fall verhindern.

„Dieses Ergebnis resultiert aus dem heutigen Erkenntnisumfang, der zum damaligen Zeitpunkt nicht vollumfänglich vorlag.“

Hinterher ist man eben immer schlauer.

„Es bleibt festzuhalten, dass die Ausfuhr entsprechender Teile ohne Genehmigung verboten ist. Was die Ausfuhr entsprechender Gegenstände nach Syrien angeht, gilt ein generelles Ausfuhrverbot. Umfang und Art der Maßnahmen richten sich nach den konkreten Gesamtumständen des Einzelfalls.“

Aber natürlich wissen wir schon, dass man so etwas nicht ohne Genehmigung ausführen darf, schon gar nicht nach Syrien, da gilt ja zusätzlich noch das Embargo. Was man dann genau unternimmt, kommt aber immer auf den Einzelfall an.

„Bei vollumfänglichem Vorliegen aller Erkenntnisse wären neben der Ausreiseverhinderung die Sicherstellung der relevanten Gegenstände sowie die Einleitung eines Strafverfahrens in Betracht zu ziehen gewesen.“

Eigentlich hätten die Kontrolleure am Flughafen das wissen müssen. Sie hätten die Magazine sicherstellen und eine Ausreiseverhinderung sowie die Einleitung eines Strafverfahrens prüfen müssen.

113 Wörter um zu sagen: Hätte nicht passieren dürfen, war eine Panne, die Kollegen am Flughafen haben die gesetzlichen Bestimmungen falsch ausgelegt. Mir wäre ein Innenministerium lieber, das Fehler, die in seinem Zuständigkeitsbereich passiert sind, in klaren Worten eingesteht.

Jetzt noch ein Wort zur Politik. Eine der Hilfskünste der Politik ist nämlich die Rhetorik. Und im Gegensatz zum BMI beherrscht Ströbele diese Kunst:

„Aus der Antwort der Bundesregierung schließe ich, dass die Bundespolizei tatsächlich Dutzende von Kalaschnikow-Magazinen von den Grenzbehörden nur fest- statt sicherstellte. Das ist weder mit der Rechtslage zu vereinbaren noch aus womöglich geheimdienstlichen Gründen zu rechtfertigen. Offenbar billigt die Bundesregierung, dass geheimdienstliche Interessen Vorrang haben vor einer Gefahrenabwehr für die öffentliche Sicherheit in Deutschland und international. Wenn die Bundesregierung beklagt, wie viel deutsche Islamisten zum Kämpfen in Kriegsgebiete ausreisen, muss sie sie aufhalten statt „gute Reise“ zu wünschen.“

Was lässt sich daraus lernen? Wer keine klaren Antworten gibt, muss damit rechnen, dass der Fragesteller das zu seinem Vorteil nutzt.

 

Und welcher Dschihad ist jetzt der richtige?

Der Bruderkrieg, der zwischen den in Syrien aktiven Dschihadisten-Gruppen tobt, verunsichert zusehends auch die aus dem Westen in das Land gereisten Kämpfer. Sollen sie sich der vom Irak aus geführten Gruppe „Islamischer Staat im Irak und Großsyrien“ (Isis) anschließen, die mittlerweile ihre Bande zur Al-Kaida-Zentrale mehr oder weniger gekappt hat? Oder sind die Kämpfer von Dschabhat al-Nusra (JN), der „Unterstützerfront“, einer syrisch dominierten Dschihadisten-Gruppe auf der richtigen Seite?

Die Verwirrung kommt nicht zuletzt daher, dass sowohl Isis als auch JN aus dem Al-Kaida-Universum stammen – seit Monaten aber bereits vor allem gegeneinander kämpfen. Schlichtungsversuche der Al-Kaida-Zentrale verfingen nicht, Befehle von dort wurden von Isis ignoriert. Der Streit entzündete sich zunächst an der Frage, wer die wahre Al-Kaida-Vertretung in Syrien sei, später dann an ideologischen Fragen – so wirft JN dem Isis vor, keine eigentlich syrische Agenda zu haben, sondern das Land bloß als eine Art Startbahn für eine internationale Tagesordnung zu nutzen.

Für akademische Experten und Geheimdienstanalysten ist es schwer genug, da den Überblick zu behalten. Den Kämpfern vor Ort geht es teilweise aber nicht anders. Kürzlich schrieb ein wohl aus England stammender Gotteskrieger im Dienste des Isis: „JN in Rakka hat uns beschossen, JN in Badia schenkte uns ein Auto mit Maschinengewehr. Verwirrend? Aber hallo!“

„Viele Geschwister sind verunsichert“

Nun zeigt sich die Spaltung des dschihadistischen Lagers auch in Meldungen deutscher Freiwilliger in Syrien. „Viele Geschwister sind verunsichert und wissen nicht, wem sie glauben sollen, da selbst viele Gelehrte gegen Dawla (Isis, YM) reden. Ich gebe euch eine Nasiha (einen Rat, YM), die ein Schari‘ (Rechtsgelehrter, YM) von Dawla sagte als Nasiha an Brüder, die noch keine Bai’a (Treue-Eid, YM) gegeben haben und nicht wussten, mit wem sie kämpfen sollen: ‚Schaut welche Brüder von den Kuffar (Ungläubigen, YM) … am meisten bekämpft wird. Der folgt ihr.'“ Danach hätten alle dem Isis die Treue geschworen.

Interessant, diese Betonung auf die Bai’a. Aber tatsächlich gilt der Treue-Eid, einmal geleistet, in der dschihadistischen Ideologie als nahezu unlösbar; er verpflichtet außerdem zum Gehorsam. Den „Brüdern“, welche die Bai’a schon geleistet hatten, stand also keine Wahl mehr offen …

Am Donnerstag dann verbreitete eine Propaganda-Seite des Isis ein interessantes Video eines deutschen Kämpfers. Der junge Mann nennt sich Abu Mudschahid al-Muhadschir, seinen Dialekt würde ich für rheinisch gefärbt halten. Er erklärt in dem Acht-Minuten-Film, dass er ausgewandert sei, weil er fand, dass man als Muslim in Deutschland nicht leben könne – ein bekannter Topos. In Syrien habe er sich dann JN angeschlossen, weil er einen weiteren Deutschen getroffen habe, der dort Mitglied war. „Ich habe gedacht, Al-Kaida, das ist schon der richtige Manhadsch (Methodologie, YM).“

Viel „Unfug“ und „Unislamisches“

Aber nach einigen Monaten habe er gemerkt, bei JN werde „viel Unfug geredet“ und „Unislamisches“ praktiziert. Vor allem über den Isis sei viel „gelogen“ worden. Als er aufgefordert wurde, gegen Isis-Kämpfer zu kämpfen, habe er sich geweigert. Danach habe man ihn nicht mehr informiert, ihn isoliert. Er habe sich nicht mehr wohl gefühlt. Seine folgenden Recherchen über Isis hätten ihn dann dazu bewegt, dort anzuheuern. Er sei nun „ein stolzes Mitglied“ dort und habe Abu Bakr al-Baghdadi, dem Isis-Chef, seine Treue geschworen.

Insgesamt halten sich vermutlich mehr als 300 aus Deutschland stammende Islamisten in Syrien auf. Wie viele wirklich kämpfen, ist nicht bekannt, aber ihre Anzahl steigt augenscheinlich. Wer sich durch dschihadistische Internetseiten pflügt, findet auch immer mehr, die sich offen zum Isis bekennen – der denkbar brutalsten und ideologisch kompromisslosesten Gruppe im syrischen Bürgerkrieg, die nicht nur terroristische Methoden einsetzt, sondern auch Zivilisten zum Tode verurteilt, wenn sie sich vermeintlich unislamisch verhalten, Kinder eingeschlossen.

Wie stark Isis im Verhältnis zu den anderen Gruppen ist, die sich mit JN zusammengeschlossen haben, lässt sich nur schwer sagen, es ist je nach Region ganz unterschiedlich, aber ändert sich auch ständig. Wochenlang sah es danach aus, als werde der Isis an den Rand gedrängt; zuletzt schienen die Terroristen wieder etwas an Boden zu gewinnen.

Den Syrern kann es egal sein

Für Al-Kaidas Zentrale ist all das natürlich ein Debakel – erst sah es aus, als könne die Organisation aus dem syrischen Blutbad Profit ziehen, jetzt ist sie de facto gespalten. Vom Kampf gegen das syrische Regime wurde zwar immer noch viel geredet bei JN und Isis – aber ein guter Teil der Zeit und Ressourcen werden in den Bruderkampf gesteckt.

Den Syrern hilft all das aber noch viel weniger – nämlich schlicht und ergreifend gar nicht.

 

Al-Kaida will Ende der Kämpfe zwischen Dschihadisten in Syrien

Zum ersten Mal hat sich heute Al-Kaidas Chef Aiman al-Sawahiri zu den Kämpfen zwischen islamistischen und dschihadistischen Gruppen in Syrien geäußert. Seine kurze Ansprache wurde offenbar via YouTube veröffentlicht, was ungewöhnlich ist; aber die einschlägigen und von Al-Kaida seit Jahren zu diesem Zweck genutzten Internetforen sind derzeit nicht stabil und haben technische Schwierigkeiten. Authentisch ist die Publikation vermutlich trotzdem. Der Inhalt und Sawahiris ziemlich unverkennbare Stimme sprechen dafür, darüber hinaus aber auch der Umstand, dass Dschihadisten die Rede für echt halten.

Sawahiri versucht mit seiner Rede, seinen Anspruch als Spiritus Rector der globalen dschihadistischen Bewegung zu festigen. Er fordert, dass die islamistischen und dschihadistischen Gruppen in Syrien ihren vor einigen Wochen ausgebrochenen Bruderkrieg einstellen. Er mache keinen Unterschied zwischen Gruppierungen, sagt Sawahiri, wichtig seien die Ideologie, das Verhalten jedes Einzelnen und die gemeinsamen Ziele. Die Einheit der Bewegung sei bedeutender als Parteiungen, er betrachte alle „Mudschahidin“, also Gotteskrieger, „als Brüder“; nicht zulässig sei es allerdings, sich gegenseitig zu Ungläubigen zu erklären, was in Syrien auch schon vorgekommen ist.

In Syrien besteht die aus Sawahiris Sicht paradoxe Situation, dass gleich zwei Al-Kaida-verbundene Gruppen existieren, die einander auch noch teilweise bekriegen. Da ist einmal Dschabhat al-Nusra, ein syrisch dominierter Dschihadisten-Verbund, der Sawahiri und der Al-Kaida-Zentrale seiner Loyalität versichert hat; und da ist Isis, der „Islamische Staat in Irak und Großsyrien“, im Grunde eine Ausweitung der Irak-Filiale Al-Kaidas, die deren Anführer Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen hat – und zwar in Abgrenzung zu Sawahiri. Derzeit kämpfen verschiedene weitere islamistische Rebellengruppen gegen Isis, und auch Dschabhat al-Nusra ist in diese Kämpfe schon einbezogen worden. Für Sawahiri ist das alarmierend, er macht sich Sorgen, dass Al-Kaida sich selbst erledigt.

Auch deshalb nun der Ruf zur „Einheit“ und die Betonung der gemeinsamen Ziele und Feinde. Selten zuvor hat Sawahiri in einer Ansprache so viel von der Notwendigkeit gesprochen, eine „islamische Herrschaft“ zu errichten; er vermutet hinter dem Gedanken, die Gotteskrieger könnten in Syrien gebietsweise regieren, offenbar ein vereinigendes Element. Als Gegner benennt er das Regime des syrischen Diktators Baschar al-Assad, die Kreuzfahrer, die Russen (die Assad unterstützen), aber auch China und die Schiiten (auch der Iran unterstützt das syrische Regime).

Ob al-Sawahiris Rede auf fruchtbaren Boden fällt, ist ungewiss. Viel Autorität wird ihm nicht mehr zugetraut, seit Isis Al-Kaida de facto gespalten hat. Isis-Kader werden die Rede zur Kenntnis nehmen, aber nicht für verbindlich erachten.

Ohnehin ist die Lage in Syrien an den vielen Fronten verwirrend – nicht nur für Außenstehende, sondern anscheinend auch für Beteiligte, wovon irritierte und verwirrte Twitter-Nachrichten von einzelnen Gotteskriegern zeugen, die teils offenbar nicht mehr sicher sind, warum sie nun gegen wen genau kämpfen sollen. Bündnisse verschiedener Gruppen werden geschmiedet und zerfallen wieder, lokale Anführer vereinigen Autorität auf sich und werden im nächsten Moment getötet. Sicher scheint, dass Isis in diesen Auseinandersetzungen an Boden verloren hat, aber das muss nicht dauerhaft oder gar endgültig sein.

In der vergangenen Woche gab es (unbestätigte, aber nicht unwahrscheinliche) Berichte über einen auf dschihadistischen Websites veröffentlichten Brief, den ein von al-Sawahiri benannter Unterhändler an Isis-Kader gerichtet hatte. Dieses Schreiben hatte demnach eine ähnliche Stoßrichtung und bezeichnete Isis-Praktiken als „inkorrekt“; das dürfte vor allem auf zwei Praktiken gemünzt gewesen sein, die Anfang des Jahres auch zum Ausbruch des Bruderkampfes im Rebellenlager geführt hatten: Isis ging selbst anderen Dschihadisten zu brutal gegen Zivilisten vor; außerdem griffen Isis-Kämpfer häufig Führer anderer Gruppen an, was die Frage aufwarf, ob Isis eigentlich alle anderen Gruppen als feindlich ansieht.

Al-Kaidas Zentrale erlebt in Syrien in gewisser Weise ein Déjà-vu, allerdings um einige Potenzen problematischer. Aber schon 2005/2006 im Irak war die dortige Filiale mit ihren brutalen Angriffen auf Schiiten aus Sicht der Zentrale aus dem Ruder gelaufen. Was Isis heute in Syrien treibt, ist die Fortsetzung dieser Schule. Nur dass Isis diesmal offensichtlich keine Angst hat, es sich mit der zentralen Führung zu verderben. Sie betrachtet das dschihadistische Projekt im Nahen Osten als das derzeit wichtigste und die eigene Rolle dabei als die bedeutendste.

Dass Al-Sawahiri in besonderer Weise auf das Thema islamische Regierung eingeht, hat derweil damit zu tun, dass genau das in Teilen bereits Realität ist: In mehreren Städten und Dörfern herrschen de facto dschihadistische Gruppen. Isis und Dschabhat al-Nusra haben bereits vereinzelt Schulen gegründet und Scharia-Gerichtshöfe eingerichtet. Sogar Nummernschilder stellt Isis aus. Das mag grotesk wirken, hat aber den Hintergrund, dass in der dschihadistischen Ideologie selbst die nominelle Herrschaft eines Ungläubigen nach Möglichkeit vermieden werden muss – und das geht am besten, in dem man eigene Herrschaftsgebilde ausruft.

Mittelfristig könnte der Konflikt innerhalb Al-Kaidas und der dschihadistischen Bewegung tatsächlich dazu führen, dass die Organisation, die Osama Bin Laden einst gründete, ihr Gesicht komplett verändert – die Zentrale am Hindukusch verfügt kaum über eigene Kämpfer und Ressourcen und hat wegen der US-Drohnen fast keine Bewegungsfreiheit. Die Filialen im Irak, in Nordafrika und auf der Arabischen Halbinsel haben daher an Gewicht gewonnen, sind aber miteinander nur lose verbunden und verfolgen eigene Ziele. Hinzugekommen sind zudem eine ganze Reihe wiederum mit den einzelnen Filialen lose verbundenen lokalen Dschihadisten-Gruppen wie Ansar al-Sharia in Libyen oder einzelne Gruppierungen auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel. Das alles dürfte dazu führen, dass es eine einzelne, maßgebliche und kohärente Al-Kaida-Strategie, die in Pakistan definiert wird, immer weniger wahrscheinlich wird. Die neuen Aktionsfelder, die sich Dschihadisten in den Unruhestaaten der arabischen Welt nach den Rebellionen dort geöffnet haben, sind dabei, Al-Kaidas Gesicht zu verändern. Womöglich dauerhaft und irreversibel.